Herr Bundeskanzler, wenn Sie an die Türkei und an Türken denken, was fällt Ihnen als erstes ein?
Ich denke an die vielen vielen Bürgerinnen und Bürger hier in Deutschland, die Wurzeln in der Türkei haben und oft schon seit Generationen bei uns leben. Und, natürlich, denke ich an die wichtige Rolle der Türkei als Vermittler in der Region, an die guten Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, an ein schönes Urlaubsland und die türkische Küche. Das macht die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei zu etwas Besonderem.
Die türkische Migration begann vor 63 Jahren. Was bedeutet sie für die Bundesrepublik heute?
Der wirtschaftliche Wohlstand Deutschlands wäre ohne die vielen so genannten Gastarbeiter, die seit den 50er und 60er Jahren aus der Türkei und auch anderen Staaten zu uns gekommen sind, nicht möglich gewesen. Das prägt unser Land bis heute. Fast ein Drittel der Bevölkerung hat Wurzeln in einem anderen Land, viele davon in der Türkei. Deshalb bin ich froh darüber, dass ich als Bundeskanzler die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts durchgesetzt habe. Sie ermöglicht es nun vielen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, ohne ihre Herkunftsstaatsangehörigkeit aufgeben zu müssen.
Ein SPD-Bundeskanzler ist mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts vor vielen Jahren gescheitert, unter ihrer Führung wurde sie jetzt endlich Realität. Was sagen Sie zu Ankündigungen von Parteien wie CDU und CSU, die das wieder rückgängig machen wollen?
Das wäre ein schwerer Fehler für unser Land. Darüber entscheiden aber die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl am 23. Februar. Die Mehrheit der Deutschen findet die Reform unseres Staatsbürgerschaftsrechts völlig richtig, davon bin ich überzeugt. Und das müssen sie bei der Wahl zum Ausdruck bringen, indem sie den richtigen Parteien ihre Stimme geben. Es irritiert mich, dass die Unions-Parteien, die CDU und die CSU, diese wichtige Reform zurückdrehen wollen. Es war überfällig, dass sich Deutschland eingesteht, was längst die Realität ist: Deutschland ist ein Einwanderungsland und wir profitieren davon, dass Menschen zu uns kommen, die hier anpacken und leben wollen. Wenn sie hier leben, hier arbeiten, die Sprache lernen, ihre Kinder zur Schule schicken, eine Berufsausbildung machen oder studieren – dann sollten sie auch die Chance haben, die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Zu den schönsten und berührendsten Momente meiner Zeit als Hamburger Bürgermeister zählten die Einbürgerungsfeiern im großen Festsaal des Rathauses. Ganze Familien kamen, um zu feiern, dass jemand Staatsbürger wurde. Es gab Urkunden, eine Ansprache und die Nationalhymnen wurden gesungen – ein stolzer Moment.
Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit den türkischen Staatsangehörigen oder mit türkischstämmigen Deutschen sozusagen?
Sehr gute, sehr lange Erfahrungen habe ich. Viele Freundschaften sind über die Jahrzehnte entstanden. Schon als junger Mann in den 80er Jahren hat mich das beschäftigt. Deshalb bin ich sehr froh, dass in meiner Kanzlerschaft so viel Fortschritt möglich war, etwa mit Blick auf die Staatsangehörigkeit. Und in meiner Partei, der SPD, finden sich viele Türkeistämmige, die sich schon lange als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für unser Land einsetzen.
Es gibt ja immer noch Leute oder Parteien, die behaupten, dass sich türkischstämmige Menschen hier nicht integrieren wollen. Was ist ihr Eindruck?
Dieses Vorurteil kann ich ganz und gar nicht bestätigen. Viele türkische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen leben in Deutschland und es gibt viele türkeistämmige Deutsche. Sie sind Geschäftsleute, Akademiker oder Industriearbeiter, arbeiten im Krankenhaus oder in der Pflege. Sie leben gerne hier, haben sich hier gut integriert und sind stolz auf die schulischen und beruflichen Karrieren ihrer Kinder und Enkelkinder. Das prägt ganz stark mein Bild von denen, die Wurzeln in der Türkei haben und in Deutschland leben. Natürlich gibt es auch Probleme, die man lösen muss. Vor denen darf man nicht die Augen verschließen, sondern muss sie entschlossen angehen. Insgesamt empfinde ich die Integration als gelungen.
Wir haben also jetzt von 63 Jahren türkischer Migration gesprochen. Wo sehen Sie die türkischstämmigen Menschen in 60 Jahren?
Sie werden mehr und mehr ein nicht mehr wegzudenkender Teil unseres Landes sein, ohne dabei zu vergessen, wo der Urgroßvater oder die Großmutter einmal hergekommen sind.
Vielleicht blicken wir gemeinsam auf die Türkei. Wie beurteilen Sie die deutsch-türkische Beziehung überhaupt?
Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei haben sich sehr gut entwickelt. Der türkische Präsident und ich pflegen einen engen und intensiven Austausch. Wir besprechen viele Themen, die uns gemeinsam bewegen. Ich habe mich sehr für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei eingesetzt. Hier wollen wir wirklich vorankommen.
Sie waren ja in der Türkei im letzten Jahr, der Bundespräsident auch, und der türkische Staatspräsident war hier in Deutschland. Das heißt, kann man das so interpretieren, dass die Beziehungen jetzt doch noch enger sein werden?
Präsident Erdogan und ich treffen uns häufig, nicht nur zu bilateralen Besuchen wie zuletzt im Oktober in Istanbul. Auch oft am Rande von internationalen Treffen wie dem NATO-Gipfel, der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York oder beim G20-Gipfel. Es gibt ja viele große Herausforderungen. Nicht zuletzt der furchtbare Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und seine Folgen treiben uns um. Die türkische Regierung hat sich sehr dafür eingesetzt, Wege aufzuzeigen, aus diesem schlimmen Krieg herauszukommen. Ganz besonders wichtig war ihr Einsatz für das Getreideabkommen, damit die Staaten Afrikas und andernorts weiterhin mit Getreide beliefert werden konnten. Schlimm, dass Russland sich aus dem Abkommen zurückgezogen hat.
Rechnen Sie damit, dass die Türkei in dieser Hinsicht noch eine große Rolle spielen könnte, wenn es darum geht, in der Ukraine Frieden zu schaffen?
Frieden und Sicherheit in Europa zu gewährleisten, ist eine große Gemeinschaftsaufgabe. Der russische Angriffskrieg gefährdet die Sicherheit Europas. Weil Putin das Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen aufgekündigt hat. Russland versucht, einen Teil der Ukraine zu erobern und dort eine Regierung zu installieren, die unter seiner Kontrolle steht. Das darf nicht gelingen und das wird nicht gelingen, wenn uns die Sicherheit und der Frieden in Europa wichtig sind. Deshalb unterstützen wir die Ukraine und werden unsere Hilfe fortsetzen. Gleichzeitig bemühen wir uns alle darum, dass der Krieg bald zu Ende geht. Wichtig ist dabei: Es darf keinen Diktatfrieden geben, der über die Köpfe der Ukraine hinweg beschlossen wird. Darüber sprechen wir mit allen – mit der Ukraine, mit der türkischen Regierung, im Rahmen von Europäischer Union, NATO, mit den Staaten des globalen Südens und ganz besonders natürlich mit den USA.
Die Türkei wartet ja schon seit mehr als 60 Jahren darauf, Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Glauben Sie, es besteht in absehbarer Zeit eine Chance dafür?
Aktuell geht es jetzt um bessere Beziehung zwischen der EU und der Türkei, dafür müssen wir viele bilaterale Fragen miteinander lösen. Ich habe mich sehr dafür engagiert, dass diese Gespräche vorankommen.
Haben Sie irgendeine Message, was die türkischstämmigen Menschen hier in der Bundesrepublik Deutschland betrifft?
Ich bin froh über unser Miteinander in Deutschland. Ich wünsche mir, dass viele von den Möglichkeiten Gebrauch machen, die unsere Gesellschaft Ihnen und Ihren Kindern bietet.
Warum sollen türkischstämmige Menschen in Deutschland die SPD und Herrn Bundeskanzler Olaf Scholz wählen?
Die SPD hat ihre Anliegen fest im Blick. Die SPD steht für ein weltoffenes Deutschland. Und bei den berechtigten Debatten darüber, wie wir die irreguläre Migration zu uns verringern können, verlieren wir nie aus dem Blick, dass Deutschland ein Land ist, in dem viele von uns eine Migrationsgeschichte haben.
CDU und CSU haben jetzt erstmals im Bundestag mit der rechtsextremen AfD gestimmt. Fürchten Sie, dass CDU/CSU aus Deutschland ein zweites Ungarn machen möchten?
Ich bin sehr bedrückt, dass jetzt das erste Mal ein Antrag im Deutschen Bundestag mit den Stimmen einer Partei der extremen Rechten beschlossen worden ist. Das ist nicht gut für Deutschland.
Hätte Tech-Milliardär Elon Musk, bevor er die Tesla-Fabrik in Brandenburg gebaut hat, in dieser Weise ganz offen die extreme Rechte unterstützt, hätte er auch trotzdem von Staatsfördermitteln in Deutschland profitieren können?
Die Investitionen von Unternehmen in Deutschland finden nach Recht und Gesetz statt, ohne dass gefragt wird, was die Leute politisch denken. Es geht um Investitionen, um Arbeitsplätze, um das, was es für unsere Zukunft bringt. Und da ist es gut, dass es viele milliardenschwere Investitionen in neue Fabriken in Deutschland gibt. Zum Beispiel in der Halbleiterproduktion etwa, bei der Batterieherstellung, im Fahrzeugbau, im großen Umfang in der Pharmaindustrie. Doch wirtschaftlicher Erfolg sorgt nicht zwangsläufig dafür, auch politisch klug zu handeln. Auch nicht bei Herrn Musk.