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Olaf Scholz und Malu Dreyer im Doppelinterview
Herr Scholz, die SPD hat den Abwärtstrend in den Umfragen gestoppt und liegt jetzt vor der Union. Nimmt das Druck von Ihnen oder erhöht es ihn noch?
Scholz: Das, was wir in den Umfragen sehen, ist jeden Tag ein Ansporn, weiter um die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger zu werben. Natürlich haben sich einige schon per Briefwahl entschieden, aber die meisten werden es am 26. September an der Wahlurne tun. Es war wichtig, dass wir uns früh – im August 2020 – entschieden haben, wer Kanzlerkandidat der SPD werden soll. Wir haben seitdem gezeigt, dass wir eine geschlossene Partei sind. Und wir haben ein gutes Programm für die Zukunft von Deutschland.
Frau Dreyer, bei der Landtagswahl 2016 lag die SPD in Umfragen zeitweise 12 Prozentpunkte hinter der CDU. Gibt es Parallelen zwischen damals und heute?
Dreyer: Es ist immer schwer, eine Landtagswahl mit einer Bundestagswahl zu vergleichen. Aber was man sagen kann, ist: Man braucht eine geschlossene Partei, ein gutes Zukunftsprogramm mit Substanz und einen Spitzenkandidaten, der von der ganzen Partei getragen wird und der das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger hat. Deshalb war ich immer optimistisch. Aber das Kämpfen um Stimmen endet tatsächlich erst am 26. September.
Herr Scholz, haben Sie mit Malu Dreyer über Ihre Wahlkampfstrategie gesprochen?
Scholz: Ja, natürlich haben wir darüber gesprochen. Wir haben vor über einem Jahr auch über die Kanzlerkandidatur gesprochen. Was ich von Malu Dreyer mitnehme, ist der ansteckende Optimismus, den sie ausstrahlt – nicht nur im Wahlkampf, sondern im politischen Alltag.
Der Politologe Karl-Rudolf Korte hat im Interview mit unserer Zeitung gesagt, Sie, Herr Scholz, seien für viele Wählerinnen und Wähler der „Merkeligste“ aller drei Kandidaten. Empfinden Sie das als Kompliment oder als Zumutung?
Scholz: Es ist niemals falsch, mit einer erfolgreichen Politikerin verglichen zu werden. Frau Merkel hat eine erfolgreiche Regierungsbilanz vorzuweisen. In vier Kabinetten Merkel war die SPD dreimal Teil der Regierung. Wir haben also zum Erfolg beigetragen. Aber nun wird es Zeit für einen Kanzler von der SPD.
Mit „merkelig“ ist aber vor allem dieses bedächtige, abwägende Agieren der Kanzlerin gemeint.
Scholz: Ich finde es wichtig, dass man lange an einer Sache dranbleiben kann. Das gilt zum einen im Zusammenspiel mit den Bundesländern, weil der Bund sich oft mit den Ländern verständigen muss. Zum anderen gilt das auch auf europäischer und internationaler Ebene, denn auch dort muss man häufig sehr lange verhandeln. Ein Beispiel ist mein Projekt einer globalen Mindeststeuer. 134 Staaten machen jetzt mit bei der globalen Mindeststeuer von Unternehmen. Ohne einen langen Atem wäre das nicht gelungen. Das ist ein Prinzip, das man in einer Welt, die immer komplizierter wird, beachten muss.
Frau Dreyer, was haben Sie gedacht, als Herr Scholz auf dem Magazincover der Süddeutschen die Merkel-Raute gemacht hat?
Dreyer: Nicht jeder versteht den Hamburger Humor – ich verstehe ihn. Eines ist klar: Olaf Scholz bringt Führungsstärke und internationale Erfahrung mit. Das verbindet ihn mit Merkel. Aber inhaltlich hat die SPD andere Ziele.
Herr Scholz, mit Ihrer Bilanz als Finanzminister ist der Skandal um Wirecard verknüpft. Was würden Sie rückblickend anders machen?
Scholz: Bei Wirecard hat die Unternehmensleitung massiv betrogen und Einnahmen fingiert, die nicht vorhanden waren. Die Wirtschaftsprüfer, die das Unternehmen jahrelang geprüft haben, haben das nicht entdeckt. Wir haben daraufhin in ganz kurzer Zeit die Finanzaufsicht Bafin neu strukturiert. Die Prüfer müssen jetzt häufiger wechseln, wir haben die Haftungen erhöht und dafür gesorgt, dass die Aufsichtsbehörde mehr Macht bekommt.
Eines der großen Wahlkampfthemen ist der Klimawandel. Sie waren im Ahrtal und haben gesehen, was passiert, wenn man keine Konzepte entwickelt, um die Erderwärmung einzudämmen. Welche Klimaschutzprogramme würden Sie im Falle einer Regierungsverantwortung sofort umsetzen?
Scholz: Wir setzen unsere erfolgreiche sozialdemokratische Klimapolitik fort. Wir haben mit dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz Anfang der 2000er-Jahre die Grundlage dafür gelegt, dass es einen erheblichen Ausbau von Windkraft und Solarenergie in Deutschland gibt. Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie durchgesetzt – 2022 werden die letzten Kraftwerke abgeschaltet. Und wir haben den Ausstieg aus der Kohleverstromung gesetzlich festgelegt. Innerhalb der nächsten 25 Jahre wollen wir klimaneutral- wirtschaften. Das ist das größte industrielle Modernisierungsprojekt, das Deutschland seit mehr als 100 Jahren schultern muss. Die Unternehmen wissen genau, was sie zu tun haben. Aber sie brauchen dazu Strom aus erneuerbaren Quellen – und zwar viel mehr als heute. Allein die Chemieindustrie wird 2050 so viel Strom benötigen, wie Deutschland heute insgesamt verbraucht. Das bedeutet: Ich möchte im ersten Jahr durchsetzen, dass wir die Ausbauziele für erneuerbaren Strom nach oben setzen und dass die Stromnetze gestärkt werden. Wir müssen außerdem die Gesetze so ändern, dass wir für die Genehmigung von Windkraftanlagen nicht sechs Jahre, sondern sechs Monate brauchen. Dann werden wir es schaffen, klimaneutral zu wirtschaften und international wettbewerbsfähig zu sein.
Frau Dreyer, die Landesregierung will Genehmigungen für neue Windkraftanlagen künftig den Struktur- und Genehmigungsbehörden übertragen. Wird das dann schneller gehen?
Dreyer: Ja, das ist das Ziel. Es dauert tatsächlich vier bis sechs Jahre, bis neue Anlagen gebaut werden können. Das liegt nicht nur an den Landesbehörden, aber wir müssen da deutlich schneller werden. Ergänzend zu Olaf Scholz möchte ich noch sagen: Ich glaube, dass es Parteien gibt, die nicht verstehen, was die Industrie braucht. Auch Rheinland-Pfalz ist Industrieland. Für uns ist es wichtig, dass wir auf der Bundesebene Rahmenbedingungen bekommen, damit wir schneller werden können in der Klimawende. Da hat die Industrie hohe Erwartungen an uns, die sie in unserem Transformationsrat immer wieder formuliert. Wir brauchen also einen Bundeskanzler, der versteht, um was es geht.
Wie würden Sie einen grünen Koalitionspartner von einem schnellen Windkraftausbau überzeugen, wenn Naturschutzbelange tangiert werden?
Scholz: Zur politischen Einordnung eines vorweg: Die CDU/CSU hat noch vor einem Jahr bestritten, dass man überhaupt mehr Strom braucht. Eine weitere CDU/CSU-geführte Bundesregierung würde also Arbeitsplätze gefährden und damit unseren Wohlstand bedrohen. Bei den Grünen ist es anders. Sie verstehen die Ziele. Aber vor Ort fehlt es mitunter an dem notwendigen Mut. Man muss dann schon auch Bagger einsetzen und das passt nicht allen. Deshalb ist der Windkraftausbau in Rheinland-Pfalz schneller fortgeschritten als zum Beispiel in Baden-Württemberg. Dass 2020 in ganz Baden-Württemberg nur 12 Anlagen gebaut wurden, zeugt nicht von großem Mut in dieser großen Zukunftsfrage.
Muss man denn den Menschen deutlicher sagen, dass nicht alles so bleiben kann, wie es ist?
Scholz: Klimaschutz ist vor allem ein Industrieprojekt – und dazu braucht es Industriepolitik. Wer sich vor der Aufgabe drückt, wird es nicht schaffen, Deutschland klimaneutral zu machen. Das ist aber mein Ehrgeiz. Wenn wir neue Energien nutzen, heißt das nicht zwangsläufig, dass unser Leben schlechter wird. Ein moderater Anstieg des CO2-Preises ist richtig. Aber: Das Leben muss bezahlbar bleiben. Niemand kauft sich sofort ein neues Auto oder eine neue Heizung, weil beides zu teuer geworden ist. Deshalb wollen wir, dass der Strom aus erneuerbaren Energien viel billiger wird. Für Familien bedeutet das eine Entlastung von 300 Euro im Jahr.
Dreyer: Das ist für die Bürgerinnen und Bürger ein wichtiger Schritt, aber auch für die Industrie. Wenn sie investiert in erneuerbare Energie, muss sie nicht zusätzlich noch die EEG-Umlage bezahlen.
Ein Umbau muss auch beim Rentensystem gelingen. Viele Menschen sorgen sich um ihre Altersvorsorge.
Scholz: Wer mit 17 Jahren die Schule verlässt und eine Berufsausbildung beginnt, hat fast fünf Jahrzehnte Arbeit vor sich. Das muss sich am Ende auszahlen. Deshalb gebe ich die klare Zusage: Wir wollen keine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters, und wir garantieren ein stabiles Rentenniveau – anders als CDU/CSU, die das nicht tun. Und ich sage: Wir können es uns leisten. Bessere Löhne helfen auch. Deshalb spielt es auch eine Rolle für die Rente, wenn wir im ersten Regierungsjahr einen Mindestlohn von 12 Euro einführen.
Die Frage einer möglichen Regierungskoalition war schon lange nicht mehr so offen wie jetzt. Frau Dreyer, haben Sie Herrn Scholz Tipps gegeben, wie man mit einem Bündnis von SPD, Grünen und FDP gut durch den Tag kommt?
Dreyer: Wir unterhalten uns über verschiedene Möglichkeiten, konzentrieren uns aber bis zum 26. September auf unseren Wahlkampf.
Herr Scholz, Herr Laschet hat Ihnen im TV-Triell Unredlichkeit vorgeworfen, weil Sie einem Linksbündnis nicht abschwören.
Scholz: Es geht um Demokratie – und es verändert sich etwas. Die steigende Zustimmung zur SPD ist ein Zeichen dafür, was sich in diesem großen politischen Gespräch über die Zukunft verändert. Bei Regierungskoalitionen geht es um Kompromisse. Aber klar ist auch, über einige grundsätzliche Themen kann nicht verhandelt werden: die enge Partnerschaft mit den USA, eine starke EU, die Zugehörigkeit zur Nato und eine ausreichend ausgestattete Bundeswehr zum Beispiel.
Sie sind seit März 2018 Vizekanzler. Welche Ereignisse haben die tiefsten Spuren in Ihnen hinterlassen?
Scholz: Tiefe Spuren hat bei mir die weltweite Corona-Pandemie hinterlassen, die viele das Leben gekostet und uns alle stark beeinträchtigt hat, in dem wie wir arbeiten, verreisen und leben. Erschüttert bin ich außerdem immer noch von dem Ausmaß der Zerstörung, dass das Hochwasser in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen hinterlassen hat. Es ist ganz klar: Hier müssen wir noch lange beim Wiederaufbau helfen. Und gleichzeitig macht es deutlich wie wichtig es ist, den Klimawandel aufzuhalten – und in Deutschland die wirtschaftliche Stärke zu erhalten.