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Symbolfoto Olaf Scholz
Photothek
22.09.2023 | Berlin

Rede anlässlich der Festveranstaltung „175 Jahre Diakonie“

Sehr geehrter Herr Lilie,
sehr geehrte Frau Ratsvorsitzende,
sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Pau,
sehr geehrte Damen und Herren,

1848 hat Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag in Wittenberg das Wort ergriffen; davon ist hier schon berichtet worden. Es war heute auf den Tag genau vor 175 Jahren. Seine Geschichte kennen Sie alle. Sie ist uns eben auch vielfältig berichtet worden. Ich erinnere mich auch noch aus meinen Hamburger Zeiten daran. Denn das Rauhe Haus habe ich als Erster Bürgermeister einige Male besucht.

Mit der Rede von Johann Hinrich Wichern nahm die Diakonie in Deutschland ihren Anfang. Sie war aufrüttelnd; sie war programmatisch, und sie war mindestens eine Stunde lang. Ich habe versucht, das zu recherchieren. Es gab unterschiedliche Berichte. Sie haben eben von 90 Minuten geredet. Ich habe auch eine Quelle gefunden, in der stand: fünf Stunden. Das glaube ich zwar nicht, aber lang war es auf alle Fälle. Ich verspreche aber, dass ich das heute anders halten und mich etwas kürzer fassen werde.

1848, das war eine Zeit gewaltiger Umbrüche. Die industrielle Revolution brachte große technologische Fortschritte, aber eben auch viel soziales Elend. Kinder mussten arbeiten. Es gab 16-Stunden-Arbeitstage. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht, aber auch die Wohnungen zu eng und zu schmutzig, sodass sich Krankheiten ausbreiten konnten. Hunger war alltäglich.

Johann Hinrich Wichern wollte daran etwas ändern. Er wollte, dass sich die evangelische Kirche stärker und systematischer denen zuwendet, die am wenigsten haben und am meisten Hilfe brauchen. Das hat sie getan. Sie tut es bis heute. Sie alle, meine Damen und Herren, arbeiten jeden Tag dafür, dass es anderen besser geht, von denen manchen die Zeit und die Kraft oder das Geld fehlt, um sich selbst für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Die Diakonie versteht sich als ihre Anwältin, so wie alle anderen Wohlfahrtsverbände auch. Genau dafür brauchen wir sie, als starke Stimme.

Aber sie ist noch mehr als eine Fürsprecherin. Sie lässt ihren Worten Taten folgen. 600.000 Beschäftigte, 700.000 Ehrenamtliche in Tausenden von Einrichtungen mit über einer Million Betten und Plätze. Was die Diakonie und alle anderen Wohlfahrtsorganisationen leisten, das ist für die ganze Gesellschaft wichtig. Sie pflegen die, die im Alter Hilfe und Zuwendung brauchen. Sie pflegen die, die krank sind, die körperlich oder geistig beeinträchtigt sind. Sie sind für die Jüngsten in unserer Gesellschaft in den Kitas da, aber auch für Familien, die Hilfe brauchen. Die Diakonie ist in nahezu allen sozialen Diensten aktiv und erreicht damit zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger. Es fällt auf: Überwiegend – Sie haben es gesagt – sind Frauen beschäftigt. Aber der Männeranteil in den sozialen Diensten soll ja wachsen.

Die Diakonie steht für die Würde und Einzigartigkeit jedes Einzelnen ein. Das ist die Basis des Handelns, die Sie ebenso wie die Caritas aus Ihrem christlichen Verständnis heraus ableiten. Für Ihren Einsatz und für Ihr Engagement sage ich herzlich Danke.

Unser Land gerechter zu machen, das ist das Ziel der Diakonie. Das ist ein Ziel, für das auch wir als Bundesregierung uns einsetzen. Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Ich halte den Sozialstaat, wie wir ihn in Deutschland und anderen Staaten kennen, für die größte Kulturleistung, die die Europäer im Lauf dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben.“

Ich sehe das genauso. Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Wir stehen für einen starken Sozialstaat. Der Sozialstaat ist im Grundgesetz in Artikel 20, Absatz 1 festgehalten. Er sichert Zusammenhalt gerade in schwierigen Zeiten wie diesen. Auch deshalb haben wir uns dafür eingesetzt, dass der Mindestlohn steigt, auf zwölf Euro. Was mir besonders wichtig war und woran ich schon vor meiner Zeit als Bundeskanzler gearbeitet habe, war der Pflegemindestlohn. Denn es ist meiner Meinung nach nicht nur fair, gute Löhne zu zahlen. Es ist eine schwere Arbeit, und sie ist wichtig für uns alle. Deshalb helfen bessere Löhne gleichzeitig gegen den Fachkräftemangel. Darum wird auch dieser Lohn weiter steigen.

Zugleich haben wir die Steuern und Sozialabgaben für diejenigen gesenkt, die wenig verdienen, an der Supermarktkasse arbeiten oder Pakete austragen, Tag für Tag, oft mehr als 40 Stunden die Woche. Das sind Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, die unser Land am Laufen halten. Ich sage das ganz bewusst und ausdrücklich, weil unter einem Leistungsträger manchmal nur jemand verstanden wird, der sehr viel Geld verdient. Das ist keineswegs eine richtige Betrachtung unserer Welt. Die diese Arbeit machen, sie haben ein ordentliches Auskommen verdient. Das ist für mich eine Frage des Respekts. Als ich vor Kurzem beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden war, habe ich mich daher über eine Zahl am meisten gefreut: Das Fünftel derjenigen, die am wenigsten verdienen, hatte trotz Inflation in der vergangenen Zeit deutliche Lohnzuwächse.

Wir haben, als wegen des russischen Angriffskriegs die Energiepreise durch die Decke gegangen sind, mit Energiepreispauschalen und anderen Maßnahmen zu helfen versucht. Das hat vielen durch eine schwierige Zeit geholfen. Wir haben jetzt das Kindergeld erhöht. Allein das bedeutet für eine Familie mit zwei Kindern über 700 Euro mehr im Jahr. Wir haben den Kinderzuschlag für alle erhöht, die arbeiten, bei denen das Gehalt aber nicht für die ganze Familie reicht. Ich sage das deshalb, weil das hier eben erwähnt wurde. Wir wollen auch eine Kindergrundsicherung schaffen, die auf diesen Maßnahmen aufbaut.

Ich war im Sommer in meinem Wahlkreis unterwegs. Dabei habe ich mit Ehrenamtlichen gesprochen, die mit Kindern arbeiten, deren Eltern nicht viel in der Tasche haben. Ein Satz ist mir sehr in Erinnerung geblieben: Arme Kinder haben keine Wünsche. Aber nicht deshalb, weil sie wunschlos glücklich sind, sondern weil Armut ihren Alltag prägt. Sie haben sich an eine Situation angepasst, in der kein Platz für Wünsche ist. Dabei brauchen gerade Kinder die Hoffnung, dass sie eine gute Zukunft für sich haben. Das können wir natürlich nicht per Gesetz verordnen. Aber wir können die Voraussetzungen dafür schaffen, und die geplante Kindergrundsicherung ist dafür ein wichtiger Fortschritt.

Weil der Sozialstaat wichtig ist, haben wir auch an anderen Stellen versucht, unseren Beitrag zu leisten, mit einem höheren Wohngeld, mit Renten, die angestiegen sind und die wir jetzt, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, angeglichen haben, mit dem Bürgergeld, einer wichtigen Reform, die viele Jahre gefordert wurde und jetzt Aus- und Weiterbildung intensiver in den Mittelpunkt der aktiven Arbeit stellt.

Das alles ist mir wichtig, weil diejenigen, die hart arbeiten, mit dem Geld, das sie dabei verdienen auch zurechtkommen müssen. Es geht in unserer Gesellschaft deshalb immer auch um gute Löhne, damit wir eine gute Voraussetzung für den Zusammenhalt haben. Eine Gesellschaft, die zusammenhält und die solidarisch ist, kommt in schwierigen Zeiten besser durch. Das haben nicht nur wissenschaftliche Studien gezeigt; das erlebt jeder ganz genau, und das verstehen auch alle.

Um genau diesen Zusammenhalt ging es auch im denkwürdigen Jahr 1848, dem Gründungsjahr der Diakonie. Es war ein zentraler Moment unserer Demokratiegeschichte. Zwischen den Barrikaden und der Paulskirche entstand eine politische Kultur. Grundrechte, Gewaltenteilung, nationale Einheit forderten die Revolutionäre. Die Idee einer freien Gesellschaft, aber auch die Idee staatsbürgerlicher und sozialer Rechte war damit in der Welt.

In seiner Rede in Wittenberg sagte Johann Hinrich Wichern am 22. September 1848: „Der Wendepunkt der Weltgeschichte, in welchem wir uns gegenwärtig befinden, muss auch ein Wendepunkt in der Geschichte der christlichen Kirche werden“.

An einem solchen Wendepunkt unserer Geschichte stehen wir heute wieder. Wir wollen klimaneutral leben und arbeiten und gleichzeitig Industrieland bleiben. Das ist der größte Wandel seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Natürlich sind deshalb viele unsicher, wie das ausgeht. Wichtig ist, dass alle spüren: Das kann gut ausgehen, für sie ganz persönlich. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass alle auf diesem Weg mitkommen und dass es Sicherheit im Wandel gibt. Eben deshalb bleiben soziale Rechte so wichtig.

Ich bin dankbar dafür, dass unser Staat dabei auf tatkräftige Unterstützung der Diakonie und vieler anderer Wohlfahrtsverbände zählen kann. Ohne sie geht es nicht. Wir brauchen die Bürgerinnen und Bürger, die sich Tag für Tag engagieren, in Vereinen und Organisationen, in den Kirchen und eben der Diakonie. Sie halten unser Land zusammen. Sie verändern es seit 175 Jahren zum Besseren.

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Jubiläum und alles Gute!