Sehr geehrte Frau Lenz,
sehr geehrte Angehörige und Freunde der Familie Lenz,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Hamburg erinnert sich heute voller Dankbarkeit an Siegfried Lenz.
Wir trauern um einen großen Schriftsteller und um einen beeindruckenden Mann, den die Freie und Hansestadt Hamburg mit Stolz ihren Ehrenbürger nennen darf.
Unser Mitgefühl in dieser schweren Stunde gilt seiner Witwe, seiner Familie, seinen Freunden, seinen Weggefährten.
Viele sind heute zusammengekommen, die ihm begegnen und ihn ein Stück seines Lebens begleiten durften.
1945 ist Siegfried Lenz zum Studium der Literatur an die Elbe und die Alster gekommen. Und er ist geblieben. Aus unserer Stadt heraus schuf er literarische Werke, die zu den wichtigsten der Bundesrepublik zählen.
Hamburg ist dafür nie nur die Kulisse gewesen. Der Ton mancher Romane und Erzählungen von Siegfried Lenz klingt jedoch bei aller universalen Gültigkeit in seiner Mäßigung und Zurückhaltung bisweilen im besten Sinne hanseatisch.
Er hat diese, unsere Stadt beobachtet und beschrieben, mit Hilfe eines Blicks durch den Schliff eines Rumglases, wie Helmut Schmidt anmerkte. Liebevoll, zärtlich, ironisch.
Es ist gewiss kein Zufall, dass sein gesamtes literarisches Werk im ältesten und hamburgischsten aller Hamburger Verlage erschienen ist, bei Hoffmann und Campe.
Und dass seine Bücher in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft wurden, zeigt, dass solch nüchterne Unaufgeregtheit weit über den Norden hinaus attraktiv ist.
Die maßvoll-präzise Form sollte aber niemals über den brisanten und eminent politischen Kern des Werks von Siegfried Lenz hinwegtäuschen.
Wie für viele seiner Generation war auch für ihn die zivilisatorische und kulturelle Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs der Ausgangspunkt.
Im Wissen um diesen Schrecken setzte er sich mit den alltäglichen Rissen und Brüchen auseinander, in denen wachsen kann, was eine Gesellschaft und ihren humanitären Kern zu zersetzen vermag.
Doch anstatt diese Risse effektheischend bis zur Spaltung zu treiben und in der Zuspitzung nach Aufmerksamkeit zu streben, fahndete Siegfried Lenz nach dem Verbindlichen und Versöhnlichen, nach Maß und Mitte unserer Gesellschaft. Er tat dies auch, als er sich politisch engagierte und zum öffentlichen Intellektuellen avancierte.
Lenz hat bewiesen, dass präzise Beobachtung und Benennung eine normative Wucht entfalten können, zu der moralische Anklagen allein niemals fähig wären. Dieses Zurücktreten brachte Lenz wirkungsvoll zur Meisterschaft.
Er wurde damit tatsächlich zu einem Virtuosen der Nachsicht, wie Wolfgang Schneider in einem Nachruf für die FAZ schrieb.
Das ist eine kluge Haltung: Denn wer verstehen will, der darf nicht vorschnell verurteilen. Und nur wer verstanden hat, der kann Veränderung erreichen.
Dass diese abwägende und nachdenkliche Herangehensweise manchem zeitgeistigen Kritiker ungewöhnlich, ja bisweilen gar verharmlosend erschienen ist, wirft ein scharfes Licht auf unsere Zeit, in der uns das öffentliche Gespräch bisweilen zum angestrengten Geschrei verkommt, in dem gewinnt, wer seine Position am lautesten vertritt.
Dabei liegt die Vernunft doch gerade nicht allein in uns selbst, sondern meistens entsteht das Vernünftige eben erst zwischen uns, im Austausch unserer Beobachtungen und Argumente und in der Gemeinsamkeit, die wächst, wenn wir sie miteinander teilen.
Wer wie Siegfried Lenz gemäß dieser Prämissen denkt und schreibt, der kennt keine absolute Wahrheit und auch keinen finalen Maßstab, sondern der bleibt ein im besten Sinne Suchender und damit offen für das Bessere.
In diesem Sinne war Siegfried Lenz ein zutiefst demokratischer Schriftsteller, der Vernunft und Humanität immer wieder aufs Neue in der Vielheit ihrer Stimmen gesucht hat.
Lenz beherrschte die rar gewordene Kunst, lehrreich zu erzählen, ohne sich belehrend zu geben.
Auch das hat dazu beigetragen, dass sich sein Werk niemals abgenutzt hat, sondern dass wir alle jedem neuen Buch, jedem neuen Text gespannt und erwartungsvoll entgegen sahen.
Weitermachen hat Siegfried Lenz deshalb einmal ganz unprätentiös als sein Lebensmotto genannt.
Heute und in diesen Tagen sind wir es, die weitermachen müssen. Wir müssen es fürderhin ohne Siegfried Lenz tun.
Es sollte uns ein Trost sein, dass wir auf sein literarisches Vermächtnis zurückgreifen können.
Seine Erzählungen haben die Kraft, uns vor allzu einfachen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu schützen.
Sie zwingen uns zum genauen Blick und mahnen uns, einander zuzuhören.
Denn die Wahrheit kommt nicht dröhnend daher, sondern meistens leise.
Das wird uns bewusst, wenn wieder einmal eine ihrer großen Stimmen für immer verstummt.
Aber der Nachhall gerade der leisen Wahrheit ist oftmals groß und bisweilen gar anschwellend.
Der Autor dieser leisen Wahrheiten wird uns fehlen. Seine Worte und seine Werke werden bleiben.
Die Bürgerinnen und Bürger der Freien und Hansestadt Hamburg verneigen sich vor einem ihrer Großen.
Wir verneigen uns vor Siegfried Lenz.
Es gilt das gesprochene Wort.