arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

Symbolbild: Olaf Scholz
Photothek
28.11.2022 | Berlin

Rede anlässlich der Veranstaltung „Deutschland. Einwanderungsland. Dialog für Teilhabe und Respekt“

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin, liebe Aydan,

sehr geehrte Frau Ministerin Faeser, liebe Nancy,

sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Reem,

meine Damen und Herren,

„Deutschland. Einwanderungsland“ – dass wir diese Worte in einem Atemzug sagen, ist keineswegs selbstverständlich. Deutschland, das war über Jahrhunderte nämlich das genaue Gegenteil: ein Auswanderungsland. Davon zeugen zum Beispiel die Auswanderermuseen in Bremerhaven oder in meiner Heimatstadt Hamburg. Millionen sind von dort Richtung Übersee aufgebrochen mit großen Hoffnungen im Gepäck.

Heute ist Deutschland selbst für viele ein Land der Hoffnung geworden. Das ist ein Ausweis der wirtschaftlichen Stärke, der gesellschaftlichen Liberalität und der politischen Stabilität unseres Landes. Zu dieser Stärke haben auch die Millionen Männer, Frauen und Kinder beigetragen, die im Laufe der Jahrzehnte in die Bundesrepublik gekommen sind, die hier arbeiten, deren Kinder hier zur Schule gehen, die hier Steuern zahlen, die unser Land voranbringen. Nehmen Sie nur einmal unser Gesundheitswesen: Mehr als ein Viertel unserer Ärztinnen und Ärzte ist selbst nicht in Deutschland geboren und hat ausländische Wurzeln. In der Pflege gilt das sogar für ein Drittel der Beschäftigten. Wie wertvoll dieser Beitrag ist, das hat uns die Coronapandemie besonders eindrucksvoll vor Augen geführt.

Natürlich kann nicht jeder, der das möchte, zu uns kommen. Es gibt Grenzen der Aufnahmefähigkeit eines Landes, deren Überschreitung sowohl zulasten der Akzeptanz von Zuwanderung als auch des Erfolgs von Integration ginge. Die Realität unseres Landes sieht aber doch so aus: Wir haben derzeit über 45 Millionen Erwerbstätige in Deutschland. Das ist die höchste Zahl in der Geschichte unseres Landes. Das sind 45 Millionen, die Steuern zahlen, die dazu beitragen, dass unser Renten- oder unser Gesundheitssystem auch in Zukunft funktioniert. Zu zwei Dritteln geht der jüngste Anstieg der Beschäftigtenzahl auf das Konto von Einwanderern ohne deutschen Pass.

Obgleich sich die Beschäftigtenzahl so positiv entwickelt hat, liegt die Zahl offener Stellen derzeit ebenfalls auf einem Höchststand. Deshalb sorgen wir für bessere Aus- und Weiterbildungschancen hier in Deutschland, und zugleich brauchen wir auch Fachkräfte aus dem Ausland. Am Mittwoch werden wir im Kabinett daher Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung beschließen. Wir werden künftig stärker auf die Qualifikation und die Berufserfahrung der Zuwanderer schauen und weniger auf Formalien. Die Aufnahme einer Berufsausbildung oder eines Studiums in Deutschland werden wir erleichtern. Wer einen Arbeitsvertrag mit einem inländischen Arbeitgeber hat, der kann künftig leichter seine Arbeit aufnehmen und parallel seinen Berufsabschluss anerkennen lassen. Und wir werden ein transparentes, unbürokratisches Punktesystem einführen, wie andere Länder es längst getan haben, damit Personen, die hier arbeiten wollen und die nötigen Qualifikationen mitbringen, sich hier in Deutschland etwas aufbauen können, Karriere machen können.

Dass wir Einwanderung und die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zusammen denken, hat nicht nur wirtschaftliche Gründe. Ich bin fest davon überzeugt, dass Integration von Erwachsenen am besten über den Arbeitsmarkt funktioniert. Wer Geld verdient und davon leben kann, wer sich eine Wohnung leisten kann, wer durch seine Arbeit Kontakte knüpft, Anerkennung erfährt und unsere Sprache lernt, der findet sich besser und schneller zurecht. Hürden und Verzögerungen auf dem Weg in den Arbeitsmarkt wegzuräumen, ist daher gut für unser Land und gut für diejenigen, die hier leben und arbeiten möchten.

Viele tun das seit vielen Jahren, manche seit Jahrzehnten. Neun Millionen Bürgerinnen und Bürger leben und arbeiten in unserem Land, ohne dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen; wobei ich als jemand, der in Hamburg aufgewachsen ist, sage: Das mit den Bürgerschaftsmöglichkeiten ja auch ein ganz besonderes Kapitel. Es war nämlich über Jahrhunderte hinweg für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger keineswegs der Fall, dass sie sich zu den Bürger rechnen konnten. Erst modernerweise haben wir uns so weiterentwickelt, dass das für alle gilt, die dort leben, und selbstverständlich hat das auch etwas mit dem zu tun, was wir jetzt auf gesamtstaatlicher Ebene an Fortschritten zu erreichen suchen.

Eine Demokratie aber lebt von der Möglichkeit, mitzubestimmen. So entsteht Legitimität, und so wächst auch die Akzeptanz für staatliche Entscheidungen. „Die Existenz einer Nation ist ein tägliches Plebiszit“, hat der französische Schriftsteller Ernest Renan einst geschrieben. Deshalb muss uns daran gelegen sein, dass Einwohnerschaft und Wahlvolk nicht auseinanderfallen, oder, etwas pragmatischer ausgedrückt: Wer auf Dauer hier lebt und arbeitet, der soll auch wählen und gewählt werden können, der soll Teil unseres Landes sein, mit allen Rechten und Pflichten, die dazugehören, und zwar völlig unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder religiösem Bekenntnis.

Zu dem Berührendesten was ich als Politiker bislang erlebt habe, gehören die Einbürgerungsfeiern, die wir zu meiner Zeit als Bürgermeister im Hamburger Rathaus immer wieder organisiert haben. Ich will es ganz klar sagen: Ich habe dort in jedem Jahr vier oder fünf solcher Veranstaltungen durchgeführt, mit immer gleichem Ablauf, und ich war immer an der gleichen Stelle gerührt, an den mehreren gleichen Stellen, um ganz ehrlich zu sein, weil es mir immer wieder passiert ist. Ich musste dann irgendwie ganz systematisch cool gucken, damit es die anderen nicht merkten.

Für die allermeisten der Neubürgerinnen und Neubürger war der Schritt, Deutsche oder Deutscher zu werden, die Einbürgerungsurkunde zu bekommen, was jedenfalls symbolisch für einige dort auch vor allen Augen passiert ist, und am Ende der Feier die Nationalhymne zu singen, erst recht ein ganz besonders emotionaler Moment. Viele haben jahrelang auf diesen Moment gewartet. Jeder und jede hatte eine eigene Geschichte zu erzählen.

Einige haben mit der eigenen Einbürgerungsentscheidung auch gehadert und sie auch lange vor sich hergeschoben, oft, weil sie ihre frühere Staatsangehörigkeit und damit ein starkes Band zu ihrem Herkunftsland nicht aufgeben wollten, wobei ich auch gelernt habe, was es schon bedeutet hat, einen Brief zu bekommen, in diesem Fall vom Bürgermeister, in dem natürlich datenschutzrechtlich vollständig abgesichert sorgfältig stand: Sie sollten sich überlegen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu wählen. Ich erinnere mich jedenfalls daran, dass ich mehrfach von einigen angesprochen wurde: Woher hast du meine Adresse? Keine Sorge, der Datenschutzbeauftragte hat daraufgeschaut, und das alles ist „gemergt“ worden, sodass das alles mit den Unterschriften klappte. Die Adressen habe ich persönlich natürlich nie gesehen. Aber dieser Moment hat bei vielen etwas ausgelöst, weil sie plötzlich das Gefühl hatten, dass sie gemeint sind. Das hat den Unterschied gemacht.

Was die Mehrstaatigkeit anbetrifft, habe ich nie verstanden, weshalb wir darauf bestanden haben. Zugehörigkeit und Identität sind nämlich kein Nullsummenspiel.

Ich finde, es ist wichtig, dass wir wie mit dem Brief, über den ich eben gesprochen habe, diejenigen, die eine solche Entscheidung treffen, ermuntern und sie dabei unterstützen. Einige, die die Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidung unterstützt haben, sind die Einbürgerungslotsinnen und lotsen, die damals in Hamburg dafür eingesetzt worden sind. Für diese wichtige Arbeit sage ich ihnen sicherlich auch im Namen von uns allen hier herzlichen Dank.

Mit der von der Staatsministerin angesprochenen Einbürgerungskampagne des Bundes und der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts werden wir die Arbeit dieser Lotsen durch weniger bürokratischen Hürden für die Einbürgerung, kürzere Fristen und eben durch die Hinnahme der Mehrstaatigkeit erleichtern. Schon heute behalten rund 60 Prozent der Eingebürgerten ihre bisherige Staatsangehörigkeit. Auch das gehört, glaube ich, zu den weitgehend unbekannten Tatsachen unserer heutigen Realität. Aber es ist so. Für die anderen 40 Prozent ist oft schwer verständlich, warum das, was für eine Mehrheit derjenigen, die solche Anträge stellen, längst gilt, für sie im Einzelfall nicht gilt. Natürlich können wir alle die Gesetze aufsagen und erklären, warum es so ist. Aber Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen auf diese Art und Weise nicht. Deshalb ist es gut, dass wir, die ganze Regierung, uns vorgenommen haben, das zu ändern, und zwar mit den Vereinbarungen, die wir uns für diese Legislaturperiode aufgeschrieben haben.

Die Wege, die Frauen, Männer oder gleich ganze Familien in unser Land führen, sind ganz unterschiedlich. Saša Stanišić hat das in seinem großartigen Buch „Herkunft“ treffend beschrieben:

„Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, (…) Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“

Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer hatten in den letzten Monaten keine Wahl. Über eine Million von ihnen sind vor Russlands Bomben und Terror auch hier zu uns nach Deutschland geflüchtet. Wer vor Krieg und Verfolgung flieht, wer um sein Leben fürchten muss, der wird in Deutschland nicht abgewiesen. Er ist uns in unserem Land willkommen, und zwar nicht nur, weil wir die völkerrechtliche Pflicht haben, Asylsuchende bei uns aufzunehmen, sondern weil dieses Land, unser Land, mit seiner Geschichte und seinen Erfahrungen ganz bewusst die Würde jedes Einzelnen und jeder Einzelnen allem anderen voranstellt.

Viele der Ukrainerinnen und Ukrainer wollen nichts lieber, als in ihre Heimat zurückzukehren, zu Ehepartnern, Vätern oder Eltern, nach Mariupol oder Cherson, nach Hause. Auch deshalb unterstützen wir die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf im Schulterschluss mit unseren internationalen Partnern, damit die Ukraine eine Zukunft in Frieden und Freiheit hat.

Meine Damen und Herren, oft entscheiden Zufälle, wo man landet. Das Leben entscheidet, wie lange man bleibt. Saša Stanišić schreibt, sein Aufenthalt in Deutschland sei zunächst als kurzzeitige Rettung gedacht gewesen. Daraus ist wie bei so vielen anderen ein Bis-auf-Weiteres geworden und vielleicht ein Längst-für-immer.

Es wäre ein Glück für unser Land.

Schönen Dank.