arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
06.07.2023 | Berlin

Rede anlässlich der Verleihung des Deutschen Nationalpreises an Anselm Kiefer

Sehr geehrte Frau Weber und sehr geehrter Herr Knapp von HANGARMUSIK,
sehr geehrte Frau Wagner und sehr geehrte Frau Chimamoto von Démos der Pariser Philharmonie,
sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Rehlinger,
sehr geehrter Herr Botschafter Delattre,
meine Damen und Herren,

wir ehren heute Anselm Kiefer, der sich wie kaum ein anderer bildender Künstler um die Aufarbeitung und auch um das Aufwühlen und Freilegen deutscher Geschichte verdient gemacht hat. Die Laudatio von Florian Illies hat uns das schon sehr sorgfältig nahegebracht. Sie, Herr Kiefer, sind damit auch in Ihrer Wahlheimat Frankreich ein höchst angesehener und wichtiger Botschafter deutscher zeitgenössischer Kunst, ein Botschafter des geschichtsbewussten und des modernen Deutschlands. Diese Leistung will ich in diesem 60. Jahr des Élysée-Vertrages besonders hervorheben.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle vorab auch einen herzlichen Glückwunsch an die beiden großartigen Orchesterprojekte für Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Frankreich, HANGARMUSIK aus Berlin und Démos der Pariser Philharmonie, die heute mit dem Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung geehrt werden. Beide Projekte stehen beispielhaft für gelebtes Europa, für Integration mit Respekt, mit Ideen, mit Engagement und mit offenen Armen.

Lieber Anselm Kiefer, in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 2008 sagte der Kunsthistoriker Werner Spieß über Sie und Ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der eigenen Zeit, dass Sie - ich zitiere - „auf eklatante und lästige Weise gegen Vergessen und für Aufklärung“ kämpften. Es gehe Ihnen darum, die Verbrechen des Nationalsozialismus keineswegs als ein metaphysisches, unerklärliches Unheil darzubieten, sondern in einem aufdringlichen, beängstigenden Hier und Jetzt. Was dabei immer wieder hervortritt sind die Erinnerungen eines Kindes der unmittelbaren Nachkriegszeit, Düsteres, Verbranntes, Zerstörtes und dahinter Krieg, Flucht und Vertreibung. Sie werden häufig mit der Aussage zitiert, Ihre Biografie sei die Biografie Deutschlands. Das trifft zweifellos zu. Dennoch muss man einen wichtigen Zusatz machen: Ihre Biografie ist dadurch auch eine Biografie Europas.

Ihre Kunst ist es, das in unserer deutschen und europäischen Geschichte Verschüttete freizulegen, hartnäckig und auch gnadenlos. Denn es ist fast gleich, wo in Europa man den Boden aufwühlt; irgendwann gelangt man zu einer dieser Schichten von Asche, die ein prägendes Material Ihres Werkes ist. Wohin man auch schaut, gelangt man zu den zugedeckten und manchmal verschütteten Zeugnissen der Schrecken, die unsere gemeinsame, europäische Geschichte bereithält.

Auch als die riesigen Wassermassen des Kachowka-Stausees in der Ostukraine abgelaufen waren, zeigten erste Fotos vom einstigen Grund des Sees menschliche Skelette. Niemand kennt die Namen der Toten. Vermeintlich sind unter ihnen auch Überreste von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, wie sie auch schon früher im Raum Kachowka geborgen wurden.

Dieses deutsche und gleichzeitig europäische Erbe hat Sie in Ihrer Arbeit nie losgelassen. Mein Vorredner Florian Illies hat Sie, wenn ich es richtig sehe, dafür gerade auch ein wenig als Erneuerer von Historienmalerei verstanden. Aber was Sie dabei freilegen und uns im wahrsten Sinne des Wortes vorhalten, ist von erschreckender Aktualität. Krieg und Verheerung, ausgebrannte, zerschossene und zerbombte Häuser, das ist kein Bild aus Geschichtsbüchern. Das ist tägliche Realität in der Ukraine, hier in Europa, kaum weiter von Berlin entfernt als Barjac, der Ort ihres langjährigen Wirkens in Frankreich. Was wir mit dem russischen Angriffskrieg dort in der Ukraine erleben, ist das erschreckende Wiederaufwachen dessen, was wir lange sicher in der europäischen Friedensordnung eingeschlossen geglaubt hatten, von kriegerischem Imperialismus und mörderischer Verachtung für die elementarsten Regeln des Völkerrechts.

In einem Interview mit dem „Figaro“ haben Sie einmal gesagt: Ich bin weder düster noch pessimistisch, aber ich bin nicht von einem Baum gefallen, ohne Verbindung zur Geschichte. - Dass sich die Tür zur Hölle öffnen könne, dieser Gedanke verfolge Sie. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 leben wir mit der schwer erträglichen Erkenntnis, dass die Tür zum Wahnsinn des Krieges nicht so fest verschlossen war, wie wir es glaubten. Sie wurde von Putin brutal aufgerissen, und sie steht weiterhin offen, weil Putin diesen Krieg und die Vernichtung der Staatlichkeit der Ukraine weiterhin will.

Meine Damen und Herren, der Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt, dass sich längst vergessen geglaubte Schrecken der Geschichte wiederholen können. Dass die Tür zum Krieg eben aufgerissen werden kann, wenn man sich nicht dagegen stemmt.

Die Antwort darauf ist die Antwort, die wir seit Beginn dieses Krieges geben. Diese Antwort lautet immer wieder: Zusammenhalt. Die Ukraine stemmt sich gegen diesen Angriffskrieg, gegen die Tür, die Putin aufgestoßen hat. Und wir stemmen uns gemeinsam mit ihr - für Frieden, für Freiheit, für Unabhängigkeit, für Demokratie und für das Recht einer jeden Nation, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Denn kein Staat gehört zur Einflusssphäre eines anderen Staats. Kein Staat ist durch erlebte und erlittene Geschichte in den Orbit eines anderen gezwungen.

„Die einzige rationale Einstellung zur Geschichte der Freiheit besteht in dem Eingeständnis, dass wir es sind, die für sie die Verantwortung tragen“, so schreibt Karl Popper. Gerade angesichts der blutigen Vergangenheit Europas gibt uns dieses Urteil auch Grund für vorsichtige Zuversicht. Denn, so Popper weiter: „Wir können die Geschichte interpretieren im Sinn unseres Kampfes für die offene Gesellschaft, für eine Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens. Obwohl die Geschichte kein Ziel hat, können wir ihr dennoch diese unsere Ziele auferlegen.“

Dass sich die Schrecken der Geschichte nicht wiederholen müssen, dafür steht das Zusammenwachsen Europas. Dafür steht auch die deutsch-französische Freundschaft. Nach Jahrhunderten des gegenseitig angetanen Leids, von Kriegen und Zerstörung steht diese Freundschaft für die Möglichkeit des Friedens, und zwar gerade auch durch die fortgesetzte Beschäftigung, das Hinterfragen, das Freilegen unserer gemeinsamen Geschichte.

Ihr Verdienst, lieber Anselm Kiefer, in diesem Prozess des Freilegens geht über die bildende Kunst weit hinaus. Ein roter - in Ihrem Fall vielleicht ein bleigrauer - Faden ist der fortwährende künstlerische Dialog mit deutschsprachiger Literatur, insbesondere mit den Werken von Paul Celan, dem Sie zuletzt Ende 2021/Anfang 2022 in Paris eine große Ausstellung gewidmet haben - wir haben schon davon gehört -, sowie mit Ingeborg Bachmann, über die Sie einmal sagten, dass Sie sich in einem immerwährenden Austausch mit ihr befinden. 

In einem ihrer bekanntesten Gedichte hat Ingeborg Bachmann eine europäische Utopie beschrieben, die Sie in einem Werk mit dem gleichen Titel aufgegriffen haben. Auf Ihrem Gemälde ziehen sich tiefe Furchen eines Weges durch ein weites Feld einem am oberen Rand liegenden hellen Horizont entgegen. Der Titel Ihres Werkes so wie auch von Ingeborg Bachmanns Gedicht: Böhmen liegt am Meer.

Was zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Gedichts im Jahr 1964 noch kaum denkbar war und auf Ihrem Gemälde aus dem Jahre 1995 mit dem hinter dem Horizont verborgenen Meer letztlich offenbleibt, diese Utopie ist mit der Europäischen Union Wirklichkeit geworden; denn keine undurchdringliche Grenze trennt Böhmen mehr vom Meer, nicht von Nord- noch Ostsee, nicht vom Mittelmehr oder vom Atlantik.

In der Europäischen Union haben wir aus dem einst Unerreichbaren täglich gelebte Realität gemacht. Eine Realität, die natürlich auch die bestehenden, manchmal tiefen Furchen zwischen West und Ost, Nord und Süd überwinden muss. Darin liegt die Probe, die wir immer wieder neu zu bestehen haben; die Probe, von der Ingeborg Bachmann sagt, dass „Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.“ 

Dieses „Böhmen am Wasser“ ist unser in Frieden und Freiheit geeintes Europa. Und wir werden weiter für das Recht einstehen, dass diejenigen, die zu unserer europäischen Familie gehören, auch die Perspektive haben, zur Europäischen Union zu gehören.

Falls Waldimir Putin geglaubt hat, er könne die Ukraine mit Panzern und Bomben davon abhalten, diesen Weg zu beschreiten, dann hat er sich geirrt. Er hat nichts als das Gegenteil bewirkt. Im Angesicht unserer Geschichte kann unsere Antwort nämlich nur die entschiedene Unterstützung der Ukraine, der Republik Moldau, der Länder des westlichen Balkans und auch Georgiens auf ihrem Weg nach Europa sein.

Dass dieses Bewusstsein unserer Geschichte weiterbesteht, daran haben Sie, lieber Anselm Kiefer, mit Ihrem Werk einen wichtigen Anteil - als ein deutscher und dabei zutiefst europäischer Künstler und als ein unermüdlicher Arbeiter an der Vergangenheit, der uns damit eine zentrale Orientierung für die Zukunft gibt. Dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung.

Ich gratuliere Ihnen deshalb ganz herzlich zum Preis der Deutschen Nationalstiftung!