Lieber Martin,
sehr geehrter Herr Präsident, dear António,
sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin, liebe Anke,
lieber Lars,
liebe frühere Parteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden,
liebe Jasmin,
lieber Frank,
ich glaube, es ist sehr gut, dass wir hier alle zusammen sind, liebe Freundinnen und Freunde,
meine sehr geehrten Damen und Herren
und ‑ das will ich in diesem Kreis gern noch hinzufügen ‑ liebe Genossinnen und Genossen!
Friedrich Ebert erlebte nur wenige uneingeschränkt glückliche Tage in seiner sechsjährigen Amtszeit als erster Reichspräsident der Weimarer Republik. Aber der 18. Mai 1923, das war so ein glücklicher Tag. Ebert war nach Frankfurt am Main gereist, um an der Feier zum 75. Jahrestag der demokratischen Paulskirchenverfassung von 1848 teilzunehmen. Zunächst sollte ein Festzug vom Römer zur nahegelegenen Paulskirche stattfinden. 30 000 Bürgerinnen und Bürger waren gekommen. Sie standen dicht an dicht, um dieses Schauspiel mitzuerleben. Später am Abend dann wurde der sozialdemokratische Reichspräsident im Frankfurter Opernhaus begrüßt ‑ mit Hochrufen und tosendem Beifall ‑, und zum abschließenden feierlichen Fackelzug strömten bis zu 70 000 Bürgerinnen und Bürger herbei. Es war ein großer, strahlender Tag der Demokratie in Deutschland.
Friedrich Ebert war tief beeindruckt. Die Ereignisse dieses Tages bewegten und ermutigten ihn. Hier in Frankfurt hatte er die umkämpfte junge Republik in seiner Rede gezielt in die Linie der großen freiheitlichen Ideen von 1848 gestellt, in die Tradition von demokratischer Revolution und Paulskirchenverfassung, und hier in Frankfurt hatte genau diese Herleitung große öffentliche Zustimmung erfahren, ja sogar Begeisterung ausgelöst.
Jedenfalls an diesem 18. Mai 1923 erlebte Friedrich Ebert: Es war sehr wohl möglich, was in diesen dramatischen Krisenjahren der Weimarer Republik sonst so unwahrscheinlich, ja, unmöglich schien, eine klassenübergreifende freiheitliche Bürgergesellschaft, die zusammenfand und zusammenhielt in ihrer Zustimmung zu Demokratie und Republik. Genau dieser demokratische Zusammenhalt aller Deutschen, das war Eberts Ziel. „Die Republik zum Siege zu führen, sie zu festigen, zu verankern, das ist unsere historische Mission“, so formulierte er es selbst. Für genau dieses Ziel kämpfte er unablässig – als pragmatischer Sozialdemokrat, als immer kompromissorientierter Reformpolitiker, ausdrücklich auch, wie er sagte, als „Präsident des Volkes und nicht einer Partei“.
Allerdings: Die Bedingungen seiner historischen Mission hätten kaum widriger sein können. Soziales Elend, Hyperinflation, Reparationslast, Ruhrkampf, Separatismus im Rheinland und in Bayern, polarisierte Milieus, politische Morde, die Dolchstoßlegende der alten Eliten, Putschversuche von links und rechts! Die multiplen Krisen der ersten Nachkriegsjahre machten es schwer, die neue und ungewohnte demokratische Ordnung über den Kreis der sowieso bereits überzeugten Republikaner hinaus zu popularisieren. Ein Übriges taten die tiefsitzenden Vorbehalte vieler Traditionalisten und Monarchisten gegen Demokratie und Republik, namentlich auch deren Verachtung für Ebert, diesen vermeintlich emporgekommenen Sattlergesellen und früheren Kneipenwirt, der nun das höchste Amt im Staate bekleidete.
So bildete jener strahlende Frankfurter Festtag im Mai 1923 einen seltenen Lichtblick in dunkler Zeit. Er verhieß doch zumindest die Möglichkeit einer heiteren, helleren demokratischen Zukunft in Deutschland.
Im Februar 1925, nur wenige Wochen vor Friedrich Eberts Tod, blickte der sozialdemokratische „Vorwärts“ zurück auf die sechsjährige Amtszeit des Reichspräsidenten. Das Urteil fiel nüchtern aus, vor allem aber anerkennend: „Eberts Aufgabe war es, zu verhindern, dass die Krisen zu Katastrophen wurden. (…) Seine Stellung war einzigartig und ohne Vorbild. (…) Jede Tradition fehlte, es musste alles neu geschaffen werden.“ Und das war tatsächlich gelungen: Die in den Nachkriegsjahren jederzeit möglichen Katastrophen waren ausgeblieben. Vieles Neue war geschaffen worden. Demokratie und Republik hatten sich behauptet – unter allerschwersten Bedingungen. Schon das allein war unendlich viel in dieser Zeit, und es war ganz maßgeblich auch das Verdienst des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert.
Darin liegt eine wichtige Erkenntnis: Die Demokratie von Weimar war eben nicht von Anfang an dem Untergang geweiht. Manche meinen ja, das sei so, aber es stimmt nicht. Als Friedrich Ebert am 28. Februar 1925 starb, da hatte die Weimarer Republik all die schweren Krisen ihrer frühen Jahre überdauert. Sie hatte sie überdauert, weil sie in ihren frühen Krisenjahren von entschiedenen Demokraten angeführt und auf Kurs gehalten wurde, auf Kurs gehalten von Männern – und erstmals auch Frauen –, die den Erfolg dieser Republik unbedingt wollten, die mit aller Macht darum kämpften, die Demokratie in Deutschland zum Erfolg zu führen.
Wie erfolgreich dieser Kampf gewesen war, das zeigte sich erst in den Jahren nach Friedrich Eberts Tod. Im Jahrfünft der sogenannten „Golden Zwanziger“ bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 stabilisierte sich die Weimarer Republik politisch, und auch wirtschaftlich ging es nun bergauf. Aber: Als Nachfolger von Friedrich Ebert wählten die Deutschen schon im Frühjahr 1925 Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten. An der Staatsspitze der Demokratie von Weimar stand nun kein Demokrat mehr und kein Republikaner, sondern ein Feldmarschall, ein reaktionärer Monarchist und Militär, ein Verfechter der Dolchstoßlegende, ein erklärter Gegner desjenigen demokratischen Staates, dem er nun als Präsident vorstand. Es war Hindenburg, der 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte und damit den Untergang der Weimarer Republik besiegelte.
Deshalb nochmals: Das Ende der Demokratie von Weimar hat viele Gründe. Aber es war ganz sicher nicht „vorherbestimmt“ und unvermeidlich. Friedrich Eberts Tod im Februar 1925 ‑ viel zu früh mit 54 Jahren ‑ war damit eine entscheidende Zäsur, ohne die die Geschichte der Weimarer Republik womöglich anders ausgegangen wäre.
„Demokratie braucht Demokraten“ ‑ hier zeigt es sich. Deshalb ist es gut, dass heute so viele Friedrich-Ebert-Plätze, Friedrich-Ebert-Alleen oder Friedrich-Ebert-Schulen überall in Deutschland an diesen großen sozialdemokratischen Staatsmann erinnern. Und deshalb ist es erst recht gut, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung genau diesen stolzen Namen führt. Ganz herzlichen Glückwunsch zu eurem 100. Jubiläum!
Ihr werdet gebraucht! Denn „Demokratie braucht Demokraten“ ‑ dieser Satz von Ebert gilt heute ganz genauso wie vor 100 Jahren! Auch heute sind wieder Leute unterwegs, die den Bürgerinnen und Bürgern weismachen wollen, früher sei alles besser gewesen ‑ hier bei uns in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern.
„Make America Great Again!“ „Take Back Control!“ „Hol Dir Dein Land zurück!” ‑ Again! Back! Zurück!
Wir kennen die politischen Kräfte, die mit diesen Parolen hausieren gehen. Wir haben sie im Bundestagswahlkampf gerade erst wieder erlebt ‑ und ja, wir sind nicht gut genug darin gewesen, diesem Sound die Botschaft begründeter Zuversicht entgegenzusetzen. Darüber müssen wir ganz grundsätzlich nachdenken, wir Demokraten und wir Sozialdemokraten. Daran müssen wir arbeiten, und auch dafür wird die Friedrich-Ebert-Stiftung ganz dringend gebraucht.
Dieses Zurück in die gute alte Zeit ist ja auf den ersten Blick ein verlockendes Angebot. Denn nicht wenige fürchten sich vor dem Wandel, vor der Veränderung, vor der Erneuerung, vor all den Risiken und Gefahren da draußen, gerade jetzt in diesen Wochen und Monaten.
Wie sehr werden sich die USA verändern? Wie endet der russische Angriffskrieg in der Ukraine ‑ mit einem russischen Sieg oder mit einem gerechten, dauerhaften Frieden? Und was sind die Folgen für uns hier in Deutschland, für uns hier in Europa?
Diese Sorgen sind real. Sie sind völlig normal, völlig verständlich in einer Gesellschaft, in der es vielen ja nicht schlecht geht, in der viele einiges zu verlieren haben. Manche fühlen sich verunsichert, überfordert, bevormundet und belehrt, ja auch angegriffen und geringgeschätzt in ihrer Art zu leben, wenn sie von Aufbruch und Veränderung hören. Was die Populisten und die rechten Extremisten vorgaukeln, ist Sicherheit vor dem Wandel.
Aber dieses Versprechen ist falsch und trügerisch. Oder glaubt irgendjemand ernsthaft, dass irgendetwas besser wird, wenn wir aus der EU austreten ‑ ausgerechnet jetzt ‑, wenn wir die D-Mark wieder einführen, wenn wir Atomkraftwerke bauen, wenn wir die Klimakrise leugnen, wenn wir Schlüsseltechnologien wie Mikroelektronik, Quantencomputing, Batterietechnik oder Künstliche Intelligenz anderen überlassen?
Wir haben da die besseren Ideen ‑ und genau hier liegt deshalb die große Aufgabe der Sozialdemokratie in dieser Zeit und in den kommenden Jahrzehnten. Wir wissen: Sicherheit durch Wandel und Sicherheit im Wandel, beides gehört zusammen. Neue Sicherheit, Wohlstand, gute Arbeitsplätze, eine gute Zukunft ‑ das geht nur mit Veränderung.
Aber wir wissen zugleich: Richtige Ziele sind nicht genug. Ohne Geländer, ohne Sicherheit im Wandel, lassen sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht darauf ein, den Weg der Veränderung zu gehen. Zu diesem Geländer gehören ein kraftvoller Sozialstaat und eine leistungsfähige Infrastruktur ‑ wer wüsste das wohl besser als wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten?
Und deshalb bin ich sehr glücklich darüber, dass unsere Verhandlerinnen und Verhandler in den Gesprächen mit der Union das durchgesetzt haben, wofür wir in den letzten Jahren und im Wahlkampf immer wieder geworben haben, nämlich dass wir jetzt kraftvoll in unser Land investieren, damit es hier in Deutschland auch in 10, 20, 30, 40 Jahren gut und sicher zugeht und man gut leben kann. Dazu gehört auch ein gesellschaftliches Klima, dazu gehört eine politische Kultur, die Veränderung erleichtert und ermöglicht.
Viele der Blockaden, der Konflikte, der Verletzungen, der Kränkungen, der Ressentiments in unserer Gesellschaft haben doch damit zu tun, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht anerkannt, nicht gesehen, nicht gewürdigt fühlen ‑ untereinander nicht und auch nicht in ihrem Verhältnis zum Staat. Auch darum bleibt mein Plädoyer: Die Sozialdemokratie muss weiter einstehen für eine Gesellschaft des Respekts.
Respekt ‑ das heißt, dass wir uns bei aller Verschiedenheit immer als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen. Respekt ‑ das heißt, dass niemand auf andere herabschaut, weil er oder sie sich selbst für stärker hält, für gebildeter, für reicher oder für deutscher als andere.
Die Kassiererin im Supermarkt, der IT-Experte, der Soldat, die Altenpflegerin, die Reinigungskraft, der Paketbote, die Chefärztin, der Zugbegleiter im Regionalexpress, sie alle werden gebraucht; jede und jeder einzelne von ihnen leistet einen unverzichtbaren Beitrag für unser Land. Und sie alle haben Anspruch auf Anerkennung, auf Würde und Respekt, auf anständige Arbeitsbedingungen zum Beispiel.
Mehr Freundlichkeit und Wohlwollen, mehr Anerkennung und Augenhöhe, übrigens auch mehr Gelassenheit im Umgang mit anderen Ansichten und Lebensstilen, das alles macht eine Gesellschaft des Respekts aus. So eine Gesellschaft des Respekts ist schon für sich genommen eine erstrebenwerte Gesellschaft.
Und schon deshalb bleibe ich dabei: Die Sozialdemokratie muss auch im 21. Jahrhundert die Partei in Deutschland bleiben, die klipp und klar das Ziel einer Gesellschaft des Respekts auf ihre Fahnen schreibt. Auf diesem großen Ziel zu beharren, das hat nichts mit utopischem Überschuss zu tun! Auf diesem Ziel zu beharren ist heute das Gebot ganz praktischer politischer Vernunft! Denn all die großen Veränderungen und Aufgaben, vor denen wir stehen, werden wir nur bewältigen, wenn wir den Weg gemeinsam gehen, und zwar alle gemeinsam. Erst Respekt schafft die Voraussetzung für Zuversicht ‑ dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht Zuflucht suchen in irgendeiner angeblich guten alten Zeit, sondern die begründete Zuversicht schöpfen: Das geht gut aus! Das geht gut aus für mich selbst! Das geht gut aus für mein Dorf, meine Stadt, meine Region! Das geht gut aus für meine Kinder und meine Enkel!
Erst Respekt schafft die Voraussetzung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sich dem zuwenden, wofür die deutsche Sozialdemokratie schon immer steht: Politik für eine gute Zukunft. Politik für eine gute neue Zeit.
„Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in aller Zukunft sich selbst.“ – Friedrich Ebert sagte diesen stolzen sozialdemokratischen Satz im Februar 1919 in seiner Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung.
Ich sage heute: Dabei wird es in Deutschland bleiben! Eine starke Sozialdemokratie ist dafür ein Garant. Und deshalb kommt es weiter auf uns an, auch jetzt wieder, gerade jetzt und erst recht in schwieriger Zeit.
Schönen Dank!