Rede von Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales
anlässlich Forum der EU-Kommission zu EuGH-Urteilen am 9.10.2008 in Brüssel
Balance zwischen Ökonomie und Sozialem
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn über das soziale Europa geredet wird, dann wird oftmals nach kurzer Zeit das Unbehagen artikuliert, dass Europa die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu Ungunsten des Sozialen verändern würde. Nicht wenige Bürgerinnen und Bürger haben die Befürchtung, dass durch manche Brüsseler Entscheidungen Dinge ins Rutschen kommen. Auch einige jüngere Urteile des Europäischen Gerichtshofes zum Verhältnis wirtschaftlicher Grundfreiheiten zu Grundrechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben solche Reaktionen ausgelöst.
Deswegen bin ich der Kommission für das heutige Forum sehr dankbar. Es bietet die Gelegenheit, gemeinsam zu debattieren, was da passiert. Denn wenn wir die Legitimation europäischer Politik erhöhen wollen, dann muss die national erkämpfte Balance zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialen Rechten gewahrt bleiben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich will mit einer historischen Betrachtung beginnen: Der kanadische Arbeitsrechtler Harry W. Arthurs hat einen Umstand beschrieben, der für Deutschland in ganz besonderer Weise Gültigkeit beanspruchen kann: Labour law has always been built not from the top down, but from the bottom up.
Gesellschaftliches Engagement, gewerkschaftlicher, sozialpartnerschaftlicher und bürgerschaftlicher Einsatz sind wichtig gewesen, um Standards und Spielregeln zu vereinbaren. Richterinnen und Richter haben unter dem Eindruck dieser gesellschaftlichen Bewegungen einiges dazu beigetragen, eine ursprünglich im Wortsinne unsoziale Rechtsordnung sozialer zu gestalten.
Die deutsche Rechtsordnung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fokussierte in erster Linie auf wirtschaftliche Freiheitsrechte des Einzelnen. Noch im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) gab es keine gesetzlichen Regelungen zum Arbeitsverhältnis. Es wurde als normaler Dienstvertrag gesehen ganz so, als ob Unternehmen und Arbeitnehmer gleichstarke Vertragspartner wären. Das führte zum Beispiel dazu, dass ein Arbeitnehmer vor einem Streik seinen Arbeitsvertrag kündigen musste, weil er seine vertraglichen Dienstpflichten einzuhalten hatte. Strafrechtlich konnten Streiks als versuchte Erpressung verfolgt werden. Aber ein Recht, das keine Sensibilität für soziale Belange entwickelt, verliert schnell an Legitimität. Demokratischer und sozialer Protest ist die Folge.
So auch in diesem Fall: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begannen nach Wegen zu suchen, um die Übermacht wirtschaftlicher Interessen einzudämmen. Sie schlossen sich in Gewerkschaften und Parteien zusammen, um ihre Rechte zu erstreiten. Sie haben dafür gesorgt, dass Bürgerrechte nicht nur dem Bourgeois, sondern dem Citoyen offenstehen. Sie haben damit ein großes Kapitel Demokratiegeschichte geschrieben. Dazu war es nötig, soziale Aspekte in die Rechtsordnung hineinzutragen. Denn was aus der einen Perspektive wie eine unzulässige Kartellabsprache wirkt, kann aus der anderen die einzige Chance sein, Kräfte so zu bündeln, dass man einem übermächtigen Gegenüber überhaupt mit der Aussicht auf Erfolg begegnen kann.
Im Falle der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften war das sicherlich der Fall. Hier bedurfte und bedarf es des sozialen Ausgleichs, um Verhandlungslösungen möglich zu machen. Diese Einsicht selbst war das Ergebnis langer, und zum Teil immer noch andauernder gesellschaftlicher Kämpfe um Anerkennung (Habermas). Zumindest in Deutschland haben die Richter seit Ende des 19. Jahrhunderts auf diese gesellschaftlichen Forderungen reagiert und zunächst an den Zivilgerichten damit begonnen, die verschiedenen Anliegen gegeneinander abzuwägen. Sie entfernten sich dabei zusehends von der zu vereinfachenden Orientierung auf wirtschaftliche Freiheit.
Im Jahr 1955 urteilte beispielsweise das deutsche Bundesarbeitsgericht, dass Streiks nicht nur abstrakt zulässig sein müssten, sondern auch die Teilnahme an einem zulässigen Streik kein Kündigungsgrund sein dürfe. Richterinnen und Richter haben durch derartige Urteile große Teile des deutschen Arbeitsrechts entwickelt. Das Arbeitsrecht entsteht from the bottom up und aus den praktischen Anliegen, Konfliktlinien und Erfahrungen der Arbeitswelt. Ich greife auf diese Erfahrungen zurück, weil wir in Europa diese 50 Jahre Lernprozess bereits hinter uns haben, aber noch nicht immer entsprechend handeln.
In einer Gemeinschaft von 27 Staaten ist es natürlich ungleich schwerer, einen gemeinsamen Nenner zu formulieren. Aber: Wenn wir eine Legitimationskrise der europäischen Institutionen vermeiden wollen, dann darf Europa den Bürgerinnen und Bürgern nicht als die Institution begegnen, die über mehr als ein Jahrhundert gewachsene und erkämpfte soziale Rechte in Frage stellt. Zwar ist die Europäische Union als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beinahe ausschließlich auf wirtschaftlichen Freiheiten aufgebaut worden. Aber seitdem ist viel passiert. Mittlerweile sind sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt gleichberechtigte Zielsetzungen der Europäischen Union. Nicht zuletzt der Europäische Gerichtshof hat dazu wichtige Beiträge geleistet. Auch künftig kann eine mutige Rechtsprechung dazu beitragen, dass die Balance gewahrt und damit Europa in der Erfolgsspur bleiben kann.
Sehr geehrte Damen und Herren,
nüchtern betrachtet müssen wir aber einräumen, dass diese Perspektive derzeit nicht leicht zu vermitteln ist. Es dominiert der Eindruck, dass wirtschaftliche Grundfreiheiten soziale Belange dominieren. Besondere Sorge bereitet dabei die Auslegung der Entsenderichtlinie im Lichte der Dienstleistungsfreiheit.
In kaum einem anderen Bereich wird in Europa derzeit so hart darum gerungen, wie die beste Balance zwischen Ökonomie und Sozialem aussieht. Der europäische Gesetzgeber hatte seinerzeit in der Entsenderichtlinie einen Kompromiss gefunden, der das Interesse des freizügigen Marktzugangs mit dem des Arbeitnehmerschutzes zum Ausgleich bringen soll. Und der EuGH hat in seiner Rechtsprechung in den letzten 20 Jahren immer wieder klar gemacht, dass Maßnahmen zum sozialen Schutz entsandter Arbeitnehmer nicht den Grundfreiheiten widersprechen, wenn sie entsprechend gestaltet sind. Der Richtlinie zufolge müssen die Zielstaaten einen harten Kern zwingender Schutzvorschriften auch entsandten Arbeitnehmern garantieren. Zugleich haben sie über diese Pflicht hinaus die Möglichkeit, für entsandte Arbeitnehmer auch günstigere Bestimmungen als Mindeststandards vorzuschreiben.
Dieses Recht lässt sich der Gesamtkonzeption der Richtlinie und insbesondere ihrem Artikel 3 Absatz 7 entnehmen. Es entspricht dem erklärten Willen des europäischen Gesetzgebers.
Die jüngeren Urteile des EuGH allerdings deuten das Spannungsfeld anders. Ich will einige Beispiele nennen.
Das Streikrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurde einer gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen. Das führt zu Rechtsunsicherheit bei den Betroffenen.
Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft, das zu einem hohen Schutzniveau der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beigetragen hat, wird in Frage gestellt.
Die Möglichkeit, soziale Vergabekriterien bei der öffentlichen Auftragsvergabe zu berücksichtigen, wird beschränkt.
Die Mindestschutzvorschriften der Entsenderichtlinie werden zu Höchststandards erklärt. Hier wird die Absicht des Gesetzgebers verkannt, der ausdrücklich zwingende Minimalstandards und keine zulässigen Maximalstandards definieren wollte.
Diese Entscheidungen gefährden die mühsam gefundene Balance zwischen ökonomischen Freiheiten und sozialen Rechten. Das sage ich auch mit Blick auf die Dienstleistungsrichtlinie, die wir lange wegen solcher Befürchtungen diskutiert haben. Für die weitere Diskussion dieser Urteile wird der Andersson-Bericht des Europäischen Parlaments eine maßgebliche Rolle spielen. Der vorliegende Entwurf des Beschäftigungs- und Sozialausschusses enthält wichtige Aussagen: Grundfreiheiten, heißt es darin, dürften nicht höher bewertet werden als Grundrechte,
und die Entsenderichtlinie müsse so ausgelegt werden, dass national höhere Schutzstandards im Arbeits- und Sozialrecht festgelegt werden können.
Die Debatte in Europa ist also eröffnet. Wir sollten sie mit aller Konsequenz und Ernsthaftigkeit weiterführen. Denn nur wenn wir klar machen können, dass Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern nutzt, wird soziale Akzeptanz wachsen. Es ist aber zu einfach, nur den EuGH zu kritisieren. Denn wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die europäische Gesetzgebung Mängel hat. Ein großes Problem ist nach wie vor, dass den Grundfreiheiten der Wirtschaftsteilnehmer gegenwärtig kein entsprechendes grundrechtliches Gegengewicht der Arbeitnehmer gegenüber steht. Dieser Zustand wäre in keiner Verfassung der Mitgliedstaaten haltbar. Kein Staat würde einseitig Wirtschaftsgrundrechten gegenüber Arbeitnehmer-Grundrechten Vorrang einräumen. Deshalb brauchen wir europäische Grundrechte, die den Gerichten als Abwägungsmaßstab dienen können und eine neue Balance ermöglichen. Dann könnten die Grundfreiheiten wieder als das eingeordnet werden, was sie im größeren konstitutionellen Rahmen sind: wirtschaftliche Grundrechte, die gleichberechtigt neben anderen Gemeinschaftsgrundrechten stehen.
Die Mitgliedstaaten haben deshalb an der unbefriedigenden Situation ihren Anteil:
Nach wie vor ist nicht klar, wann der Vertrag von Lissabon in Kraft treten kann. Er wird die soziale Dimension Europas weiter stärken. Bis dahin fehlt nach wie vor ein rechtsverbindlicher Grundrechte-Katalog auf europäischer Ebene.
Bis aber die Mitgliedstaaten endlich die Waagschalen ins Gleichgewicht bringen, müssen Richterinnen und Richter in Europa die soziale Dimension der Union in ihrer Rechtsprechung berücksichtigen. Ein reiner Gesetzespositivismus wäre verfehlt. Da noch für längere Zeit die Gesetzgebung in Parlament, Kommission und Rat angesichts der komplizierten Entscheidungsmechanismen hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben wird, ist es an dem Gericht, durch seine Rechtsprechung eine antieuropäische Legitimationskrise wegen fehlender sozialer Balance zu vermeiden. Der EuGH muss sich in seinem Verhältnis zum Gesetzesrecht nicht so weit vorwagen, wie der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber sich aus rechtsphilosophischer Erwägung dieser Aufgabe zu entziehen, wäre auch nicht richtig.
Der EuGH braucht seinen eigenen Stil, der die institutionellen Komplikationen der EU ebenso bedenkt wie die Tradition des sozialen Europa. Diese Tradition ist schließlich eine der stolzesten in der Demokratiegeschichte. Wir sollten sie gemeinsam weiterschreiben.
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09.10.2008