1. Lesung SPD/Grüne-Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien (Drs. 15/4538)
Olaf Scholz (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor etwas mehr als 200 Jahren haben die Menschen in Frankreich, in England und in den späteren Vereinigten Staaten von Amerika die Demokratie erkämpft und sich für Grundfreiheiten und Grundrechte eingesetzt. Viele der Dinge, die damals gesehen worden sind, sind noch heute Bestandteil unserer Verfassungsordnung und der Verfassungsprinzipien. Dazu gehört auch und ganz zentral, dass der Staat niemanden wegen seines Geschlechts, wegen seiner Behinderung, wegen seines Alters, wegen der sexuellen Identität oder ethnischen Herkunft diskriminieren darf.
(Beifall bei der SPD und der FDP)
Heute, etwa 200 Jahre später, besteht eine Situation, in der wir das so selbstverständlich finden, dass wir sagen: Solche Prinzipien sollen nicht nur gelten, wenn es um die Beziehung zwischen Staat und Bürgern, wenn es um Abwehrrechte geht, sondern auch dann, wenn es um die Beziehung von Bürgerinnen und Bürgern, jedenfalls mächtigeren Bürgerinnen und Bürgern, zu anderen geht. Das heißt, solche Prinzipien, wie sie unsere Verfassungsordnung mittlerweile für jeden von uns selbstverständlich hat werden lassen, sollen auch im Zivilleben und in der Zivilgesellschaft gelten.
Das ist die mittelbare Wirkung der Grundrechte, etwas, das wir unterstützen, das aber niemals oder fast nie unmittelbar durchgesetzt wird; der Gesetzgeber muss aber auch etwas tun, damit es dazu kommt. Die in manchem Kommentar gern geschriebene und an vielen Stellen wiederholte Behauptung, dass durch unsere Gesetzgebung bereits alles geregelt sei, ist nicht richtig. Manche künstliche Aufregung wäre nicht erklärbar, wenn sie richtig wäre. Was wir hier tun, ist also schon etwas Notwendiges.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Worum geht es? Wir als anständige Bürgerinnen und Bürger wollen Folgendes einfach nicht mehr hinnehmen: Eine Gruppe Behinderter hat ein Hotel gebucht, erscheint dort und dann wird ihr gesagt: Ihr könnt hier nicht sein; wir wollen nicht, dass ihr als behinderte Menschen, als Rollstuhlfahrer die übrigen Gäste stört. - Das ist die Situation, die unerträglich ist und die wir nicht mehr hinnehmen wollen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, das ist die Situation, die Sie immer vor Augen haben müssen, wenn Sie das, was Sie hier vorhaben zu sagen, sagen,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU - Ina Lenke [FDP]: Warten Sie doch erst einmal ab!)
wenn Sie aufschreiben, was Sie an verschiedenen Stellen schon aufgeschrieben haben und was Sie auch anderswo nachlesen können, nämlich dass es uns angeblich darum gehe, in die Privatbeziehungen der Bürger hineinzugehen.
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Da meldet sich Ihr schlechtes Gewissen!)
Wenn man sich klar macht, was die Gefühle eines behinderten Menschen sind, der dort nicht eingelassen wird,
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie müssen Herrn Schröder verklagen!)
dann kommt man zu dem Schluss, dass es zynisch ist, wenn man liest und hört, dass es ein unangemessenes Vorgehen des Staates wäre, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Wir wollen uns einmischen - im Sinne des Anstands, den wir hier in diesem Land zu vertreten haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Es ist auch so, dass wir ein sehr pragmatisches Gesetz gemacht haben. Das wichtigste Kennzeichen für den Pragmatismus, den wir in diesem Gesetz haben walten lassen,
(Dirk Niebel [FDP]: Definieren Sie doch einmal bitte "pragmatisch"!)
ist, dass man sich ohne besondere Lektüre dieses Gesetzes gesetzeskonform verhalten kann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Dann können wir es ja gleich lassen! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wozu brauchen wir dann überhaupt ein Gesetz?)
Wer so ist, wie wir alle sein wollen - trotz Ihrer Aufregung glaube ich, dass Sie persönlich etwas für das Gesetz übrig haben - und wie ein anständiger Bürger sein sollte, der wird mit diesem Gesetz keine Probleme haben und braucht auch keinen Rechtsanwalt.
(Beifall bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Montesquieu! - Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wer sich an die zehn Gebote hält, braucht auch keine Gesetze!)
Es ist auch nicht notwendig, dass jetzt viele Unternehmen die teuren Seminare besuchen, die überall angeboten werden: "Wie bereite ich mich auf das Antidiskriminierungsgesetz vor?" Das ist verschwendetes Geld; das sollten die sparen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Wer sich schon angemeldet hat, sollte sich wieder abmelden. Das ist nicht notwendig. Wenn Sie einen Rechtsanwalt gefunden haben, der sagt, man müsse vorsorgen und dokumentieren - was man überhaupt nicht muss -,
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Aber beweisen muss man es können!)
dann sollten Sie ihn auf Schadenersatz verklagen, weil er Sie falsch beraten hat. Das ist die Situation.
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Markus Grübel [CDU/CSU]: Haben Sie das Gesetz überhaupt schon einmal gelesen?)
Ich glaube, dass wir uns in einer rechtlichen Kultur befinden, die man folgendermaßen beschreiben kann: Verbandsvertreter, Rechtsanwälte und alle, die einen beraten - auch Politiker -, handeln ganz marktwirtschaftlich: Wenn man laut schreit, gibt es mehr Geld. Sicherlich hat die Tatsache, dass wir unseren Gesetzentwurf vor Weihnachten vorgestellt haben, auch dazu beigetragen, dass mancher Verbandsvertreter mehr an die Weihnachtsprämie und an die Zusatzvergütung gedacht hat, als er gesagt hat: Ihr müsst noch einmal Geld an meinen Verband überweisen, weil ich euch vor etwas warnen muss. Das war aber falsch und nicht notwendig.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Insofern, glaube ich, ist hier eine angemessene Betrachtung angebracht.
Das beliebteste Beispiel zu diesem Thema - ich will es gerne aufgreifen; jeder darf dabei etwas Falsches sagen und sich dennoch gut fühlen - ist immer wieder - in verschiedenen Varianten falsch nacherzählt -, dass jemand, der sich um eine Wohnung beworben und sie nicht bekommen habe, nur behaupten müsse, er werde diskriminiert, weil er homosexuell sei; schon müsse der Vermieter beweisen, dass das Gegenteil der Fall sei. Das ist grober Unfug. Das steht nicht im Gesetz. Das Gesetz wird auch niemals so ausgelegt werden können. Aber all die, die das immer wieder behaupten, leben davon, dass sie auf lauter Leute treffen, die erst einmal annehmen: Ein Abgeordneter lügt nicht.
(Zurufe von der CDU/CSU)
Diese Leute denken sich: Wenn er das sagt, wird das wohl so im Gesetz stehen. - Es steht aber nicht im Gesetz. Deshalb sage ich Ihnen: Das werden Sie im Gesetz nicht finden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja eine Faschingsrede!)
Damit Sie es nicht so leicht haben, haben wir uns bei der Gesetzgebung einen ganz wichtigen Schritt überlegt. Wir haben nämlich gesagt: In der Frage der Beweiserleichterung, die uns die EU in vielen Fällen vorgeschrieben hat und die wir auch gerne umsetzen wollen, greifen wir das auf, was wir schon in unserer Rechtsordnung haben. In § 611 a BGB steht, dass es eine Beweiserleichterung gibt, wenn jemand im Arbeitsleben wegen seines Geschlechts diskriminiert worden ist. Das ist eine pragmatische Regelung, bei der man all die unwahren, schrillen Töne abtesten kann, die jetzt erklungen sind. Es gab wegen dieses Paragraphen nämlich keine Prozessflut. Es hat auch keine Dokumentationspflichten und keinen strukturellen Missbrauch wegen dieser Regelung gegeben. Ja, am Anfang haben sich fünf naseweise männliche Jurastudenten auf Frauenjobs beworben, in der Hoffnung, dass jemand sagt: Ich nehme keine Männer. Das hat halb geklappt, halb nicht. Nun hat die Rechtsprechung das klargestellt. Sie können jedenfalls an wenigen Händen abzählen, wie viele Verfahren es zu diesem Thema gibt. Dann wissen Sie, dass es einfach die Unwahrheit ist, zu sagen, hier drohe Bürokratie und hier drohe eine Prozessflut. Das ist nichts weiter als Propaganda, die keine Rechtfertigung in diesem Gesetzesvorhaben hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Die letzte der beliebten falschen Behauptungen lautet, wir gingen hier unglaublich über die Vorgaben der Europäischen Union hinaus. Zunächst einmal ist dazu zu sagen: Wir machen das Gesetz nicht, weil die EU uns dazu zwingt, sondern deshalb, weil wir das für richtig halten. Wir bekennen uns zu dem, was wir da machen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Ina Lenke [FDP]: Das hat ja lange gedauert! Sie hatten fast ein Verletzungsverfahren am Hals! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum lassen Sie sich dann so viel Zeit?)
Es ist auch richtig, dass es mittlerweile vier Richtlinien gibt, die wir umsetzen müssen. Aber jeder, der den Satz sagt oder schreibt, wir gingen über die Vorgaben hinaus, hofft, dass ihn keiner fragt, was er eigentlich damit meint. Denn dann müsste man antworten, dass damit nicht gemeint ist, wir gingen bei der Ausgestaltung der Rechte zu weit, etwa in Bezug auf Beweiserleichterung, in Bezug auf die Unterstützung durch Antidiskriminierungsverbände oder in Bezug auf ähnliche Dinge - diese sind ja vorgeschrieben; das sollen wir machen -, sondern dass wir in dem Punkt darüber hinausgehen, dass wir zum Beispiel Menschen mit Behinderungen einbeziehen. Wenn Sie der Meinung sind, wir sollten für die Menschen mit Behinderungen nichts tun, dann sagen Sie das auch, statt sich auf einen so abstrakten, nicht hinterfragbaren Satz wie den zurückzuziehen, wir gingen über die Vorgaben hinaus.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Scholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Olaf Scholz (SPD):
Ich bin zwar fast am Ende meiner Rede, aber bitte.
Ina Lenke (FDP):
Herr Scholz, vielleicht sind Sie gleich mit Ihrem Latein am Ende, wenn Sie auf meine Frage antworten sollen. Ich frage Sie, ob es richtig ist, dass Sie die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 nicht, wie die EU es vorgeschrieben hat, bis zum Dezember 2003 umgesetzt haben. Sie sagten, dass Sie die Vorgaben der EU gar nicht brauchten; aber bis 2003 haben Sie gar nichts gemacht.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Lenke, guten Morgen! - Zurufe von der SPD: Oh!)
Es war fast ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig. Vielleicht können Sie sich einmal dazu äußern.
Olaf Scholz (SPD):
Ich bedanke mich für Ihre Frage.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Es ist in der Tat so, dass mittlerweile eine ganze Reihe von Richtlinien, die umgesetzt werden müssen, aufgelaufen ist, und manche davon hätten schon umgesetzt sein müssen. Das ist gar nicht zu bestreiten.
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Ihnen aber völlig egal!)
Ein wenig müssen Sie sich - ich weiß nicht, wie Sie sich hier einlassen wollen - oder wenigstens die Vertreter Ihrer Partei und von der Union schon darauf verständigen, was Sie sagen wollen. Wollen Sie sagen, wir gingen zu weit, oder wollen Sie sagen, wir seien nicht rechtzeitig genug fertig geworden? Beides ist nicht dasselbe.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das eine hat mit dem anderen doch nichts zu tun! Ganz unterschiedliche Zusammenhänge, Herr Scholz! - Zurufe von der CDU/CSU)
Deshalb will ich Ihnen gerne sagen, dass wir das sehr bewusst so gemacht haben. Manchmal ist es nämlich so, dass eine längere Beratungszeit dazu beiträgt, dass man einen umfassenden und sorgfältig abgewogenen Gesetzentwurf zustande bringt, so wie wir es jetzt geschafft haben.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Regierung hat das nicht zustande gebracht!)
Deshalb glaube ich, dass sich die lange Beratungszeit in einem guten Ergebnis niedergeschlagen hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Letzte Bemerkung: Wir hielten es für richtig, auf der Ebene der Zivilgesellschaft und des Privatrechts zu bleiben.
(Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt auch Strafrecht!)
Wir haben uns das, was die französischen konservativen Juristen im Rechtsausschuss vorgetragen haben, nicht zu Eigen gemacht. Diese haben vorgeschlagen, eine hohe Behörde einzurichten, die in alle Privatbeziehungen intervenieren kann, und das Strafrecht zu verschärfen. Wir haben gesagt, die Menschen sollen das untereinander regeln. Dabei helfen wir ihnen. Das ist ein Fortschritt für dieses Land.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
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21.01.2005