Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Staat hat eine Rolle in wirtschaftlichen Prozessen. Wenn selbst wirtschaftsliberale Banker staatliche Interventionen loben, dann kann daran kein Zweifel bestehen. Dass es für diese Erkenntnis erst eine weltweite und tiefgreifende Kredit- und Börsenkrise geben musste, ist mehr als nur bedauerlich. Wenn daraus aber alle lernen, dass die Forderung Hands off! Staat, halte dich da heraus! falsch ist, dann wäre wenigstens etwas gewonnen.
Denn aus der richtigen Erkenntnis, dass sich der Staat in einer Marktwirtschaft nicht in alles einmischen soll, folgt noch lange nicht der Schluss, dass er sich aus allem heraushalten soll. Wir wissen, dass ökonomische Krisen voll auf die Legitimation unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfassung durchschlagen. Deswegen kann der Staat nicht nach dem Prinzip Laissez-faire danebenstehen. Ein kluger Ordnungsrahmen und manchmal auch gezielte Interventionen sind wichtig. Wenn wir aber die Akzeptanz für unsere Wirtschaftsordnung erhalten wollen, dann muss auch erkennbar sein, dass sie das liefert, was sie verspricht. Die Milliardengarantien in Richtung Finanzwirtschaft sind wichtig, um den Kollaps zu verhindern. Aber darin erschöpft sich soziale Verantwortung nicht. Zu einer klugen Rahmung des wirtschaftlichen Geschehens gehören auch die beiden Gesetze, die wir heute beraten. Durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz sollen überall dort Mindestlöhne ermöglicht werden, wo sie von den Sozialpartnern, aber auch von Experten und den jeweiligen Branchenvertretern für richtig gehalten werden. Mindestlöhne gehören zu einer modernen Marktwirtschaft dazu.
Ich glaube, dass wir eines ganz klar sehen sollten: Gäbe es noch heute eine Tarifbindung, wie wir sie in früheren Jahrzehnten gekannt haben, und wäre es noch heute so, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gemeinsam fast alle sozialen Bedingungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern regelten, dann würden wir heute nicht über diese Gesetze diskutieren. Dass es zu einer Mindestlohndebatte gekommen ist, ist auch das Verdienst derjenigen, die in den letzten 25 Jahren durch alle möglichen Talkshows gezogen sind, die immer wieder gefordert haben, es müsse Schluss sein mit der Sozialpartnerschaft, die Tarifverträge für schlecht gehalten haben und die das Ende der Kompromisse verlangt haben.
Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft infrage stellt, der darf sich nicht wundern, was dabei herauskommt. Wenn man es nicht der Selbstregulierung von Gewerkschaften und Arbeitgebern überlassen will, dann bekommt man den staatlichen Schutz als Ersatz dazu. Deshalb sind die Mindestlohndebatten, die wir heute führen, das Ergebnis des Handelns derjenigen, die die Sozialpartnerschaft infrage gestellt haben.
Meine Damen und Herren, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften alleine nicht in der Lage sind, in einer Branche für stabile Verhältnisse zu sorgen, dann dürfen wir nicht danebenstehen. Genauso wenig wie im Falle einer Bank, die in die Insolvenz trudelt. Hier müssen wir etwas tun und Haltelinien einziehen. Politik ist handlungsfähig. Und ich sage: Aus der Akzeptanzkrise unserer Wirtschaftsordnung wird eine Legitimationskrise der Demokratie, wenn wir nicht bereit sind, sozial regulierend einzugreifen und das Schlimmste zu verhindern. Wir als Politikerinnen und Politiker müssen dafür sorgen, dass die Löhne nicht ins Kellergeschoss gedrückt werden.
Meine Damen und Herren, moderne Industriegesellschaften haben ausgeweitete Sektoren mit Niedriglöhnen. Aber fast alle haben Mindestlöhne als ein notwendiges Korrektiv. Sie sind keine sozialromantische Idee, sondern eine ordnungspolitische Grundlage, die für unsere soziale Marktwirtschaft unverzichtbar ist. Denn sie sollen auch verhindern, dass Unternehmen einen Wettbewerb mit Lohndumping betreiben, indem sie mit staatlichen Sozialleistungen kalkulieren.
Paul Krugman, der in diesem Jahr den Nobelpreis für Wirtschaft bekommt, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Debatte über Mindestlöhne in Deutschland sinnvoll sei, und in diesem Zusammenhang von einem großen politischen Gewinn gesprochen. Recht hat er, meine Damen und Herren.
Die Mindestlohndebatte ist nicht nur volkswirtschaftlich sinnvoll, sondern sie ist auch gut für diejenigen, um die es geht. Ich will darauf hinweisen, dass es nicht in Ordnung ist, dass eine Friseurin in Sachsen Vollzeit arbeiten geht und nach der Gesellenprüfung am Ende des Monats mit 755 Euro brutto dasteht und dann zur Arbeitsagentur muss, um ihre Familie zu ernähren.
Es ist auch nicht in Ordnung, dass ein Wachmann im Revierwachdienst in Brandenburg in Vollzeit in der untersten Tarifgruppe mit unter 1 000 Euro dasteht und seine Miete nicht ohne staatliche Hilfe bezahlen kann. Solche Löhne und ich kann dafür viele weitere Beispiele nennen verletzen die Ehre hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger.
Dass es Tariflöhne sind, macht die Sache nicht besser, meine Damen und Herren.
Auch wenn wir diese individuellen Probleme nicht alle mit den beiden Gesetzen lösen können das starke Signal, dass Löhne eine ordentliche Höhe haben müssen, können und müssen wir mit diesen Gesetzen auch senden.
Ein großer Teil unseres wirtschaftlichen Erfolgs beruht schließlich darauf, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeit gut machen wollen. An gute Arbeit, an Engagement und Leistung knüpft sich das Versprechen, dass sich individuelle Anstrengung auch lohnen wird. Dieses Versprechen muss auch in Zukunft gelten. Wer etwas leistet, wer sich reinhängt, wer sein Bestes gibt, der muss wissen, dass sich das auszahlt. In der angemessenen Entlohnung von Arbeit drückt sich eine Wertschätzung aus, die der Würde der Arbeit entspricht.
Mit den Entwürfen zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz und zum Mindestarbeitsbedingungengesetz, die wir jetzt beraten, ermöglichen wir aus all diesen Gründen die Festsetzung von branchenspezifischen Mindestlöhnen. Sie lösen zwar nicht alle Probleme, aber doch einige sehr wesentliche. Beide Gesetze sind das Ergebnis einer Lösung, auf die sich die Koalition im Sommer des letzten Jahres verständigt hat. Was wir hier weiterentwickeln, hat sich bewährt; denn beide Gesetze gibt es schon lange. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz hat Auswirkungen auf die Praxis. Für das Baugewerbe gibt es schon Mindestlöhne, die sich dort positiv ausgewirkt haben. Viele loben das nach dem Motto: Es ist nicht alles Gold, aber Bronze ist auch eine Menge. Nachdem nun auch das Gebäudereinigerhandwerk und die Briefdienstleistungsbranche aufgenommen wurden, ist es uns mittlerweile gelungen, dafür zu sorgen, dass 1,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Mindestlöhne geschützt sind. Das ist eine gute Sache.
Wir sorgen dafür, dass weitere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diesen Schutz erhalten. Acht weitere Branchen haben sich gemeldet. Eine Arbeitsgruppe unter meiner Leitung beschäftigt sich mit dem Thema. Wir werden prüfen, ob die Kriterien, auf die wir uns in der Koalition verständigt haben, bei diesen jeweiligen Branchen erfüllt sind.
Es ist ganz klar: Wir haben gesagt, dass nur diejenigen aufgenommen werden können, bei denen eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent gegeben ist. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Branche muss also bei Arbeitgebern beschäftigt sein, die der Tarifbindung unterliegen. Das werden wir prüfen. Die Branchen, bei denen wir feststellen, dass das so ist, werden aufgenommen werden.
Als Zweites gibt es das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, das auch schon lange existiert. Mit diesem Gesetz wird ermöglicht, dass wir dort, wo eine geringe Tarifbindung herrscht, ebenfalls schützen können. Dort, wo Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften keine Möglichkeit haben, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, können wir dann mithilfe einer staatlichen Gesetzgebung dafür sorgen, dass sie nicht alleine bleiben und schlimmsten Ausbeutungsbedingungen ausgesetzt sind.
Ich will gerne ergänzen: Aus meiner Sicht hat es Sinn, dass diese beiden Gesetze von einer Großen Koalition beraten werden; denn beide Gesetze stammen aus Zeiten, in denen beide Parteien jeweils etwas dazu beigetragen haben.
Das Mindestarbeitsbedingungengesetz stammt aus dem Jahre 1952. Es gab damals einen Antrag der SPD-Fraktion, und mit der Mehrheit der CDU/CSU-Stimmen im Deutschen Bundestag wurde es dann beschlossen. Insofern steht es in einer guten Tradition, dass wir es jetzt mit Leben erfüllen und dafür sorgen, dass es endlich auch zur Anwendung kommt.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurde während der Koalition von CDU/CSU und FDP verabschiedet. Es wurde damals zwar so geschrieben, dass es nicht zur Anwendung kommt, aber als Gerhard Schröder die Regierung übernommen hatte, war es dann doch so weit. Für die Bauwirtschaft hat es geklappt.
An diese gute Tradition knüpfen wir an, indem wir Gesetze auf den Weg bringen, mit denen wir dafür sorgen, dass das, was die Tarifvertragsparteien vor Ort und diejenigen, die in der Branche engagiert sind, richtig finden, zur Geltung kommen kann. Wir schützen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer schlimmen Ausbeutung. Ich glaube, das ist eine gute Tradition, die wir hier weiterentwickeln.
Meine Damen und Herren, wenn über Mindestlöhne gesprochen wird, dann gibt es eine ganze Reihe von Argumenten, die vorgetragen werden, aber nicht immer sehr stichhaltig sind. Das am häufigsten vorgetragene Argument lautet, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Dafür gibt es keinerlei empirische Belege.
Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, die mit abstrakten Berechnungen vollgeschrieben werden, aus denen sich ergeben soll, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten. Wenn wir uns aber in der Welt umschauen, dann sehen wir, dass alle möglichen Staaten über Mindestlohnregelungen verfügen, dass sie dort, wo sie in jüngster Zeit eingeführt worden sind, keine Arbeitsplätze gekostet haben und dass dort vielmehr ein Aufwärtstrend auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen war. Das kann man am Beispiel Großbritannien sehen.
Deshalb will ich auch ausdrücklich sagen, dass ich mir sicher bin, welches Schicksal diese Berechnungen und Bücher haben werden: Sie werden in den Regalen verstauben. Die gleichen Professoren und Politiker, die jetzt sagen, dass Mindestlöhne eine Bedrohung für die Marktwirtschaft sind, werden in zehn Jahren sagen, dass es in der Marktwirtschaft schon immer Mindestlöhne gegeben hat und dass sie eines der besten Argumente für eine soziale Marktwirtschaft sind. Recht haben sie dann in zehn Jahren.
Ich glaube, dass wir hier etwas voranbringen, durch das die Tarifautonomie in Deutschland gestärkt wird und das dazu beitragen kann, dass die Sozialpartnerschaft, die in unserem Lande eine gute und lange Tradition hat, wieder eine größere Rolle spielt. Am Ende dieses Prozesses werden Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser als heute dastehen, und sie werden unmittelbar spüren, dass es Sinn hat, dass sich der Deutsche Bundestag, der Gesetzgeber, mit ihren Angelegenheiten befasst und dazu beigetragen hat, dass es besser geht. Sie werden nicht alleingelassen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur politischen Stabilität in unserem Lande und zur Verbesserung der Situation dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wenn wir in diesen Zeiten, in denen alles ein bisschen drunter und drüber geht, dazu beitragen würden, dass viele wieder daran glauben, dass die soziale Stabilität in unserer Gesellschaft noch funktioniert, dann hätten wir damit einen großen Beitrag geleistet.
Ich bin davon überzeugt, dass wir dabei sind, wichtige Gesetze voranzubringen und dass wir mit dem, was wir heute beschließen wollen, für die soziale Marktwirtschaft werben. Ich bin mir sicher, dass das sehr wichtig ist. Denn wenn sich die Bürgerinnen und Bürger alleingelassen fühlen und das Gefühl haben, dass ihr Schicksal allen egal ist, man zynische Reden hält und ihnen nicht konkret hilft, dann ist das wirklich eine Bedrohung für unser soziales Zusammenleben. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass das, was wir hier tun, für den Fortschritt in unserer Gesellschaft, für den sozialen Zusammenhalt und für die soziale Marktwirtschaft wichtig ist.
Was ich gerade ausgeführt habe, ist sozusagen ein Gegenargument zu einem Argument, das ich gestern gehört habe und das mich empört hat. Deshalb will ich zum Schluss noch darauf eingehen. Ein Redner der Linksfraktion hat gesagt, das sei doch keine Demokratie.
Das hat er in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt. Ich finde, dass man sehr vorsichtig sein muss. Er hat gesagt, das sei doch keine Demokratie. Er hat das rhetorisch mehrfach wiederholt.
Wir haben ein Problem, und es geschehen Dinge, die nicht in Ordnung sind und uns alle empören müssen.
Aber dann müssen wir, der Bundestag, als demokratisch Verantwortliche und als Gesetzgeber dafür sorgen, dass die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung eine Rolle spielen.
Aber man darf nicht die Demokratie und die Handlungsmöglichkeiten, die wir haben, infrage stellen und ein bisschen den Eindruck erwecken, dass die Alternative zu dem, was wir vorhaben, eine Art Volksdemokratie wäre.
Danach klang die Äußerung gestern viel zu stark. Von jemandem, der sich in der Linkspartei verortet, ist das ein bisschen geschichtsvergessen.
Schönen Dank.