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30.03.2009

Rede von Olaf Scholz: "Vereint Zukunft sichern"

Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung der "Allianz zur Beratung der Bundesregierung in Fragen des Arbeitskräftebedarfs"



Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich willkommen im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Wir treffen uns heute, um gemeinsam die "Allianz zur Beratung der Bundesregierung in Fragen des Arbeitskräftebedarfs" oder kurz "Arbeitskräfteallianz" zu gründen. Ich freue mich sehr, dass der Raum so gut gefüllt ist und die Initiative bei allen relevanten Kräften auf so großes Interesse stößt. Willkommen heiße ich die Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die anwesenden Personalverantwortlichen aus verschiedenen Unternehmen, sowie natürlich die Vertreter der betroffenen Bundesressorts, der Integrationsbeauftragten und der Länder. Zudem stehen uns beratend Vertreter von Forschungsinstituten, des Sachverständigenrates für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und andere Wissenschaftler sowie Mitarbeiter nachgeordneter Bundesbehörden zur Seite. Auch Ihnen allen ein herzliches Willkommen!

Das Bewusstsein ist also vorhanden: Ob wir es schaffen, weiterhin ausreichend qualifizierte und motivierte Fachkräfte in unserem Land auszubilden und zu halten, ist die entscheidende Zukunftsfrage einer guten Politik für den Arbeitsmarkt. Da sind wir uns einig.

Wenn wir unseren Wohlstand und letztlich auch den Bestand des Sozialstaats sichern wollen, müssen wir dieser Aufgabe unsere ganze Aufmerksamkeit widmen. Diese Herausforderung weist weit über die gegenwärtige Krise hinaus. Es gibt ganz unabhängig von den derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zwei Möglichkeiten, wie sich der Arbeitsmarkt in unserem Land entwickeln wird:

Wenn wir nicht konsequent handeln, werden die Unternehmen immer händeringender nach Fachkräften suchen, während sich lange Schlangen vor den Arbeitsvermittlungen bilden. Oder wir können die Weichen so stellen, dass die Unternehmen die Fachkräfte finden, die sie brauchen und gleichzeitig die Arbeitslosigkeit mittelfristig weiter sinken wird. Wir müssen jetzt den Zug aufs richtige Gleis stellen gerade auch in der Krise! Selbst in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage können viele Stellen nicht besetzt werden, weil das entsprechend qualifizierte Personal fehlt.

Die Sorge um genügend gut ausgebildete Fachkräfte ist alles andere als ein Luxusthema für bessere Zeiten. Wir können nur erfolgreich sein, wenn wir kurz-, mittel- und langfristige Lösungen finden. Wir können schon jetzt auf keinen einzigen verzichten. Nicht auf die Leistungsfähigkeit der Jüngeren und nicht auf das Wissen der Älteren. Auf das Können der Frauen genauso wenig wie auf die Fähigkeiten der Migrantinnen und Migranten. Denn aufgrund der demografischen Entwicklung verlassen immer weniger junge Bürgerinnen und Bürger die Schulen, Berufsschulen und Universitäten. Gleichzeitig werden die Anforderungen in vielen Bereichen der Berufswelt immer spezialisierter. Die Anzahl der Arbeitsplätze mit einfachen Tätigkeiten wird weiter zurückgehen. Darüber hinaus beschleunigt sich der Strukturwandel hin zu wissens- und forschungsintensiven Industrien.

Gut ausgebildete und motivierte Fachkräfte sind in dieser Welt unser größter Standortvorteil. Den dürfen wir nicht verspielen. Nur qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Lage, auch in Zukunft innovative Produkte zu entwickeln, herzustellen und sie anschließend erfolgreich zu vermarkten. Wir brauchen dafür vor allem gute Bildung von Anfang an und zwar für jeden! Es geht um Investitionen in Bildung und Weiterbildung, aber auch um strukturelle Reformen: So müssen wir uns dringend daran machen, die Durchlässigkeit der Bildungswege zu erhöhen. Es ist nicht einzusehen, warum man als Meister oder mit entsprechender Berufserfahrung kein Studium aufnehmen kann.

Tatsache ist: Außerhalb des akademischen Bereichs haben wir keinen strukturellen Bedarf an Arbeitskräften, den wir nicht durch Ausbildung im eigenen Land decken könnten. Denn wir verfügen in unserem Land über ein großes Potenzial an Arbeitskräften, das wir brach liegen lassen. Diesen Bürgerinnen und Bürgern müssen wir die notwendigen Mittel in die Hand geben, um ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln. Dabei müssen wir insbesondere die Bedingungen für diejenigen verbessern, die bisher zu wenig Chancen bei der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt bekommen haben: Auch die Älteren, die Frauen, und die Migrantinnen und Migranten in Deutschland müssen Ihr Können und Wissen in vollem Maße ins Berufsleben einbringen können. Das ist ein Gebot der Sozialstaatlichkeit und der gerechten Teilhabe. Aber eben auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft.

Investitionen in Bildung und Weiterbildung brauchen genau wie strukturelle Veränderungen Zeit, bis sie auf dem Arbeitsmarkt Wirkung zeigen. Je früher wir also anfangen, desto besser. Deshalb hat die Bundesregierung bereits letztes Jahr eine breite Qualifizierungsinitiative gestartet. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die ohne Abschluss die Schule verlassen, zu halbieren. Jedes Jahr sind es immer noch 80.000. Das können wir nicht länger zulassen. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung war die Einführung des Rechtsanspruchs, sich auf das Nachholen des Hauptschulabschlusses vorzubereiten und zwar ein Leben lang. Letztlich muss es unser Ziel sein, dass jede und jeder entweder eine Berufsausbildung oder ein Abitur als Eintrittskarte in das Berufsleben in der Hand hält.

Außerdem,
sehr geehrte Damen und Herren,

haben wir verabredet, an den Schulen eine verbindliche Begleitung in den Berufseinstieg einzuführen. Dazu hat mein Ministerium schon dieses Jahr ein groß angelegtes Modellprojekt auf den Weg gebracht. Wir kümmern uns zudem um bessere Betreuungsangebote und um bessere Möglichkeiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Wir haben eine Initiative für eine "Neue Kultur der Arbeit" ins Leben gerufen, um Instrumente zur Gestaltung guter Arbeitsbedingungen bekannter zu machen und in den Unternehmen zu etablieren.

Wo wir unseren Bedarf auch mittelfristig nicht aus eigener Kraft decken können, haben wir den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt deutlich vereinfacht. Denn auch Deutschland steht im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass Deutschland heute im Bereich der Akademiker und Hochqualifizierten einen der offensten Arbeitsmärkte der Welt hat:

Ich möchte dem Referat des parlamentarischen Staatssekretärs des Innenministeriums, Herrn Altmaier, hier nicht vorgreifen, deswegen sei es nur ganz kurz erwähnt:
Für den Zugang von Akademikern aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten, Hochqualifizierten ab einem bestimmten Jahreseinkommen und von ausländischen Absolventinnen und Absolventen deutscher Hochschulen sowie deutscher Auslandsschulen bestehen praktisch überhaupt keine Beschränkungen mehr. Das und die weiteren Maßnahmen, über die Herr Altmaier berichten wird, müssen noch viel bekannter werden!

Sehr geehrte Damen und Herren,

bei allen unseren Bemühungen stoßen wir aber an Grenzen. Denn wir haben ein Problem: Die Prognosen und Einschätzungen, in welchem Umfang und an welchen Stellen uns wann Fachkräfte fehlen werden, sind sehr unterschiedlich. Das liegt zum Einen an der unsicheren Datenlage, zum Anderen aber auch an den unterschiedlichen Blickwinkeln der Betrachter. Wir brauchen also zunächst verlässlichere Daten. Ohne die ist keine informierte Diskussion zu führen. Wir wissen im Moment nicht genau, wieviele Arbeitskräfte in einer bestimmten Region und mit einer bestimmten Qualifikation gebraucht werden. Es fehlt an entsprechenden systematischen Auswertungen. Das müssen wir in einem ersten Schritt ändern.

Dafür brauchen wir vorrangig ein gemeinsames Verständnis darüber, welche Indikatoren auf einen zukünftigen Fachkräftemangel hinweisen. Dieses Verständnis zu finden, wird auch eine Aufgabe der Arbeitskräfteallianz sein. Letztendlich ist aber das Ziel, auf Grundlage dieser Zahlen einen offenen und transparenten Dialog zu führen, der uns eine gemeinsame Problemdefinition ermöglicht. Wie viele Fachkräfte mit welchen Qualifikationen werden wo benötigt?

Die nächste Frage wird lauten: Wie können wir handeln und auf welche Lösungsansätze können sich möglichst viele verständigen? Dafür brauchen wir diese Plattform, auf der sich gemeinsame Erkenntnisse bilden können. Denn ohne eine valide Handlungsgrundlage kommen wir nicht weiter. Die wollen wir gemeinsam schaffen. Dafür werden wir noch in diesem Jahr ein Instrument entwickeln, um den aktuellen und zukünftigen Fachkräftebedarf feststellen zu können. Eine zentrale Rolle hierbei sollen die Erwartungen der Unternehmen spielen, die im Rahmen einer Betriebsbefragung erhoben werden. Wir haben hierzu bereits ein Konzept in Auftrag gegeben, das verschiedene Modelle aufzeigen soll, wie man das anpacken kann. Mithilfe Ihres Sachverstands und dem Ihrer Organisationen wollen wir diese Vorschläge prüfen und ihre Tauglichkeit für die Praxis bewerten. Noch vor der Sommerpause wird die Arbeitskräfteallianz hierzu zusammenkommen. Bereits im nächsten Jahr wollen wir den Fachkräfteindex dann auch Wirklichkeit werden lassen. Anschließend können dann alle, die Verantwortung tragen, auf dieser Grundlage pragmatische Entscheidungen treffen.

Die Politik ist da natürlich gefragt aber nicht allein: Ohne die Unternehmen, die Arbeitgeberverbände und die Arbeitnehmervertreter werden wir bei der Sicherung unserer Fachkräftebasis nicht erfolgreich sein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

es wird möglicherweise Bereiche geben, in denen wir einen akuten Fachkräftemangel erkennen, den wir nicht mehr von heute auf morgen durch vorausschauende Maßnahmen beheben können.

Da - und nur da - werden wir auch darüber reden müssen, ob der zielgenaue Zugang für ausländische Fachkräfte über die bereits erwähnten Maßnahmen für Hochqualifizierte hinaus zeitweilig erleichtert wird - bis unsere eigenen Anstrengungen greifen. Konkrete Zahlen sind hierfür besser als abstrakte. Wenn wir wissen, was nötig ist, können wir danach handeln. Und was viele nicht wissen: Wir haben jetzt schon das rechtliche Instrumentarium dazu. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales kann das mit dem Wohlwollen des Bundesinnenministeriums durch Verordnung regeln.

Ich erwarte dann aber, dass die Unternehmen, genauso wie die Sozialpartner in dieser Zeit das Notwendige zu tun, damit wir unseren Bedarf an Fachkräften in Zukunft aus eigener Kraft decken können. Wir werden sie dabei nach Kräften unterstützen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Aufgabe, die vor uns liegt, ist nicht in wenige Tagen getan.

Deswegen ist es mir wichtig, dass wir mit der Arbeitskräfteallianz eine dauerhafte Plattform des Gedankenaustausches, aber auch für konkretes Handeln schaffen eine Institution, die das Thema unabhängig vom Wechsel der Legislaturperioden konstruktiv bearbeitet, im Bewusstsein hält und zu konkreten Lösungen kommt. Und zwar auch, indem die Allianz am Ende jeden Jahres einen Bericht vorlegen wird, in dem steht, welchen Bedarf an Fachkräften die Unternehmen haben und haben werden. Und was konkret unternommen wurde bzw. noch zu veranlassen ist, um den Bedarf zu decken. Ich rufe Sie alle auf, auch in Ihren jeweiligen Organisationen für unser Anliegen zu werben. Wir brauchen die Unterstützung der Unternehmen bei den anstehenden Befragungen und die tatkräftige Mithilfe aller bei der Umsetzung der Lösungsvorschläge.

Wichtig ist mir, dass wir die Plattform nicht nur nutzen, um zu reden, sondern auch, um zu handeln. Erfolg wird es nur mit vereinten Kräften geben!

Ich bin sehr froh, dass wir diesen ersten Schritt der Arbeitskräfteallianz heute gemeinsam gehen können und wünsche unserem auf Dauer angelegten gemeinsamen Projekt gutes Gelingen!

 

 

Auf der Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales können Sie sich diesen Text auch anhören.

 

 

Info-Broschüre: Allianz zur Beratung der Bundesregierung in Fragen des Arbeitskräftebedarfs (PDF-Dokument)