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Olaf Scholz
Bundesregierung
29.01.2025 | Berlin

Rede zum 75. Jahrestag der Gründung des Sozialverbands VdK Deutschland e. V.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Verena,
liebe Ehrenamtliche,
liebe Mitglieder des VdK,
meine Damen und Herren!

Eines vorweg: Ich bin später gekommen, und die ganze Veranstaltung geht etwas später los, weil im Bundestag heute auch etwas los war. Das haben alle mitbekommen. Und ich will gerne sagen, dass ich noch eine gewisse Zeit brauchen werde, das zu verarbeiten, was wir da gemeinsam erlebt haben. Es wird sicherlich auch später so sein, dass es welche gibt, die uns das als historisch beschreiben, denn zum ersten Mal ist ein Entschließungsantrag mit einer Mehrheit, die auch von der AfD getragen wurde, beschlossen worden. Ich glaube, das ist für ein Land, das zusammenhalten soll, ein schlechtes Zeichen.

Im September habe ich ein neun Jahre altes, fröhliches Kind kennengelernt. Dieser Junge saß bei einer Veranstaltung neben mir. Und wir haben viel gelacht. Das würde man nicht unbedingt erwarten, wenn man seine Geschichte kennt, denn er ist Botschafter des Bundesverbands Kinderhospiz und selbst schwer krank. 50.000 Familien in Deutschland haben ein Kind mit der Diagnose: keine Aussicht auf Heilung, keine Aussicht auf Genesung. Es lässt sich nur schwer ermessen, was das für die Eltern bedeutet und was solch eine Diagnose für jedes betroffene Kind bedeutet. Dieser Junge hat aber trotz seiner Krankheit eine Lebensfreude ausgestrahlt, die sehr ansteckend war. Er hat Zuversicht ausgestrahlt. Und das hat mich beeindruckt.

Zuversicht ist in diesen Zeiten ein rares Gut – nicht nur bei uns hier in Deutschland. Weltweit wachsen die Zweifel an der Demokratie. Fast überall haben Populisten und Extremisten Zulauf. Der Grund dafür ist überall ähnlich: Den ganz normalen Leuten droht die Zuversicht abhandenzukommen, dass die Dinge für sie und ihre Familien gut ausgehen, dass auch sie gemeint sind, wenn Unternehmer, Politikerinnen und Wissenschaftler über die Zukunft diskutieren.

Wir müssen diese Wahrnehmung dringend ändern. Deshalb lautet die entscheidende Zukunftsfrage in allen demokratischen Gesellschaften: Wie begründen wir neue Zuversicht – Zuversicht, dass die Zukunft eine gute sein wird? Und zwar nicht nur für einige wenige, denen es besonders gut geht – denen ich das natürlich gönne –, sondern für alle, die in unserem Land leben. Die Antwort darauf steckt aus meiner Sicht in folgender Gleichung: Zukunft braucht Zuversicht, und Zuversicht braucht Zusammenhalt.

Für Zusammenhalt sorgen, das ist so etwas wie der Wesenskern des VdK. Die Geschichte des VdK – wir haben eben schon von ihr gehört – handelt von Solidarität, seit 75 Jahren schon. Die Bilder der Anfangszeit haben wir alle vor Augen: zerbombte Häuser, Trümmer, Kälte, wenig zu essen. Die Ausgebombten, die Überlebenden, die Kriegsopfer und Kriegsversehrten, die Witwen und Waisen waren auf praktische Hilfe angewiesen. Das war die Geburtsstunde des VdK.

Schon bald ging die Arbeit des VdK weit über diese ursprünglichen Zielgruppen hinaus – du hast es eben schon erzählt, liebe Verena. Eins aber hat sich nie geändert: Praktische Hilfe vor Ort, einfach, unkompliziert, voller Menschlichkeit und Mitgefühl, das ist auch heute noch das Kerngeschäft eures Verbandes. Und weil der VdK so nah dran ist an den Problemen im Land, haben seine Empfehlungen große politische Kraft – auch die, die wir zum Abschreiben kriegen.

Liebe Verena, du hast einmal gesagt: „Man muss trommeln, sonst wird man nicht gehört.“ Du trommelst, und man hört dich – sehr gut sogar. Der VdK ist heute der größte Sozialverband Deutschlands mit über 2,3 Millionen Mitgliedern, Tendenz steigend. Das zeigt: Vielen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land ist soziale Gerechtigkeit ein Herzensanliegen. Ich finde, das wird zu oft übersehen. Wenn ich im Land unterwegs bin, dann höre ich immer wieder: „Früher gab es mehr Miteinander“ oder „Heute denkt jeder nur an sich“. Der VdK und die vielen Ehrenamtlichen in seinen Reihen sind der lebende Beweis, dass dies so pauschal nicht stimmt. Und dafür sage ich an dieser Stelle vielen herzlichen Dank.

Ohne Sie alle wäre unser Land heute ein anderes, ein kälteres und ungerechteres. Sie setzen sich ein für diejenigen, die manchmal von oben herab „die kleinen Leute“ genannt werden. Sie wollen einen Sozialstaat, auf den man sich verlassen kann. Sie wollen, dass wir als Land und als Gesellschaft zusammenhalten.

Und das will ich auch. Mit mir wird es keine Sozialkürzung geben. Lassen Sie es mich so deutlich sagen, wie es ist: Wer großflächige Steuersenkungen für die reichsten zehn Prozent in unserem Land verspricht, aber nicht sagt, wer die Zeche zahlen soll, der macht den Leuten etwas vor. Die Zeche – das ist doch ganz klar – zahlen dann die ganz einfachen Angestellten und Beschäftigten, die Rentnerinnen und Rentner, Patientinnen und Patienten und diejenigen, die auf Pflege angewiesen sind, weil dann bei ihnen gekürzt wird.

Deshalb müssen wir uns entscheiden: Wollen wir solche Entlastungen für Millionäre? Oder wollen wir etwas tun für Millionen? Nehmen wir ein sinkendes Rentenniveau in Kauf? Oder – was ich richtig finde – stabilisieren wir die Renten? Wollen wir, dass Sportplätze, Spielplätze und Schwimmbäder verschwinden? Oder sorgen wir für starke Städte und Gemeinden? Kurz: Wollen wir ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat bleiben, wie es im Grundgesetz steht, oder wollen wir das nicht?

Ich sage: Stabile Sozialsysteme helfen nicht nur denen, die gerade Unterstützung brauchen. Stabile Renten, Pflege und Gesundheit machen unser ganzes Land stark, weil sie Sicherheit geben in unsicherer Zeit. In diesem Wissen hat Helmut Schmidt den Sozialstaat einst als eine der großen kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts bezeichnet – mit dem Versprechen stabiler Renten, guter Gesundheit und Pflege. Das stimmt zweifellos. Und doch ist es ausgerechnet der Sozialstaat, auf den einige in Krisenzeiten als Erstes zielen, auch in diesen Tagen wieder.

Ich will das einmal an einem Beispiel deutlich machen: Die Rente nach 45 Beitragsjahren – zu teuer, sagen einige. Oft schwingt da der Vorwurf mit, die Leute seien zu faul, noch ein paar Jährchen länger zu arbeiten. Das sagen aber fast ausnahmslos Leute, die selbst nie auf 45 Beitragsjahre kommen, weil sie nach dem Abitur erst einmal fünf, sechs Jahre studiert haben und den ersten Job mit Mitte oder Ende 20 begonnen haben. Wenn solche Leute dann der Krankenschwester, dem Maurer oder der Kassiererin sagen: „Du musst noch ein paar Jahre länger arbeiten bis zur Rente“, dann ist das schlicht und einfach unredlich.

Es ist gut, dass es Stimmen wie den VdK gibt, die sich solcher Doppelmoral entgegenstellen. Nicht jeder erbt ein Vermögen oder ein Haus. Nicht jede kann mit Aktien oder Fonds fürs Alter vorsorgen. Die Rente ist für viele Beschäftigte das größte Vermögen, das sie haben. Und ich sage bewusst „Vermögen“, denn genau das ist es: etwas, das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich hart erarbeitet haben, und kein Almosen, über das der Staat nach Belieben entscheiden darf.

Millionen Beschäftigte, auch die Jüngeren, vertrauen darauf, dass sie am Ende ihres langen Arbeitslebens eine stabile Rente bekommen. Und dieses Vertrauen verdient Schutz. Ein Jahr früher als geplant haben wir die Rentenangleichung in Ost und West geschafft – unabhängig davon, ob man in Bielefeld oder Bitterfeld in Rente geht –, wir haben Zuschläge für Erwerbsminderungsrenten erreicht und die Hinzuverdienstgrenzen bei vorgezogenen Altersrenten abgeschafft. Und wir haben einen Vorschlag erarbeitet, wie wir das Rentenniveau langfristig stabilisieren. Sie alle haben mitbekommen, warum dieses Gesetz vor der Bundestagswahl nicht mehr beschlossen werden konnte. Und ich bedauere das sehr. Aber wir bleiben da dran. Die Garantie des Rentenniveaus, die wir schon einmal durchgesetzt haben, läuft im Sommer aus, wenn wir nichts dagegen machen. Und deshalb muss die Stabilisierung des Rentenniveaus eine der ersten Aufgaben sein, die eine neue Bundesregierung anpackt.

Die Arbeit am Sozialstaat – für stabile Renten, Gesundheit und Pflege – ist eine Daueraufgabe, denn die Gesellschaft ändert sich und mit ihr die Ansprüche. Wir haben in den vergangenen drei Jahren einiges geschafft, für das auch Sie seit Jahren eintreten, meine Damen und Herren, für die Rentnerinnen und Rentner – ich habe darüber gesprochen –, aber auch für diejenigen, die Pflege brauchen, und für Familien. Wir haben das Kindergeld deutlich erhöht und auch den Kinderzuschlag für Familien mit geringem Einkommen. Darunter sind viele Alleinerziehende. 2,5 Millionen Kinder leben bei nur einem Elternteil, wobei es meistens die Frauen sind, die alleine erziehen. Das Risiko für Armut ist bei ihnen dreimal so hoch wie bei Eltern, die sich gemeinsam um ihre Kinder kümmern. Und das liegt nicht daran, dass sie nicht erwerbstätig sind. Aber viele Alleinerziehende arbeiten in Teilzeit, weil wir bei der Kinderbetreuung immer noch nicht da sind, wo wir sein müssen.

Deshalb unterstützen wir die Länder auch in diesem und im nächsten Jahr mit weiteren vier Milliarden Euro für Kitas und bessere Betreuungsmöglichkeiten. Und das muss weitergehen – im Interesse der Familien und im Interesse unserer Wirtschaft, die auf Fachkräfte angewiesen ist –, genauso, wie unser Kampf gegen Kinderarmut weitergeht. Zusammen mit den Ländern wollen wir dafür sorgen, dass Kitakinder und Schulkinder ein gesundes und kostenloses Mittagessen erhalten. Wir wollen auch, dass die Eltern die Unterstützung, die ihnen zusteht, leichter bekommen können, denn jeder Euro, den wir heute in ein besseres Leben und eine bessere Bildung unserer Kinder investieren, zahlt sich später um ein Vielfaches aus. Das ist die sinnvollste und größte Rendite, die es gibt.

Bleibt natürlich noch das Thema Pflege. Für einen Platz im Pflegeheim zahlt man heute im Schnitt mehr als 2.400 Euro pro Monat, im ersten Jahr sogar fast 3.000 Euro. Das ist eine Menge Geld. Hätten wir das, was jede und jeder da zuzahlen muss, also die Eigenanteile, nicht gesenkt, wäre es noch mehr. Ich finde, langfristig sollte niemand mehr als 1.000 Euro pro Monat dafür aufbringen müssen. Das ist sonst etwas, das viele nicht schaffen können. Wir brauchen einen Deckel, was die Kosten der Pflege betrifft.

Eine gute und zugleich auch bezahlbare Pflege sicherzustellen, wird eine der großen Aufgabe für die kommende Regierung. Ein erster Schritt wäre, private Pflegeversicherungen in ein solidarisch finanziertes Pflegesystem einzubeziehen. Und ich trete dafür auch ein, denn wenn mehr Bürgerinnen und Bürger Pflege brauchen, ist es wichtig, dass die Pflegeversicherung weiter funktioniert.

Wie wichtig das ist, habe ich Anfang des Monats im Pflegezentrum „Marie Juchacz“ in Köln-Chorweiler erlebt. Dort arbeiten 400 Frauen und Männer und versorgen 300 Bewohnerinnen und Bewohner. Eine von ihnen war eine 88 Jahre alte Dame. Sie wohnt seit einem Jahr dort und hat mit mir „Drei gewinnt“ gespielt – aber nicht auf einem kleinen Spielbrett, sondern auf einem großen Touchscreen. Wenn ich ihr zu viel geredet habe, dann hat sie mir gesagt: „Herr Bundeskanzler, jetzt hörnse mal auf zu reden, spielen se lieber.“

Aber auch mit den Pflegekräften dort habe ich gesprochen. Und das macht einem bewusst, wie wichtig ihre Arbeit für uns alle ist, aber auch, wie schwer – nicht nur körperlich, sondern immer auch emotional – diese Arbeit ist. Dafür braucht es mehr Anerkennung, nicht nur, aber eben auch finanziell. Deshalb war mir der Pflegemindestlohn so wichtig und die Erhöhung, denn ich finde, es ist nicht nur fair, gute Löhne zu zahlen, bessere Löhne helfen uns auch, die Fachkräfte zu finden, die wir dringend brauchen.

Das gilt übrigens nicht nur in der Pflege, sondern überall. Wenn wir unsere Rente, die Pflege- und Krankenversicherung zukunftsfest machen wollen, dann brauchen wir vor allem genügend Frauen und Männer, die in diese Systeme einzahlen. Heute gibt es in Deutschland mehr Erwerbstätige als jemals zuvor, mehr als 46 Millionen – und das auch zu höheren als früher, guten Löhnen, denn wir haben gleich zu Beginn meiner Amtszeit den Mindestlohn für alle erhöht. Sechs Millionen Beschäftigte haben davon direkt profitiert. Und auch insgesamt steigen die Löhne nun endlich wieder.

Der Niedriglohnsektor ist massiv geschrumpft. Vor einigen Jahren arbeitete noch jeder Vierte dort. Heute ist es immerhin „noch“, aber dann im Verhältnis auch „nur noch“ jeder Siebte. Diese Entwicklung muss weitergehen, denn auch die Preise und die Mieten sind ja gestiegen. Und ich finde: Jeder und jede, der sich beziehungsweise die sich anstrengt, muss ein ordentliches Leben führen und es sich leisten können!

Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung: Ich habe über diejenigen gesprochen, die manchmal etwas abschätzig auf die vermeintlich kleinen Leute herabsehen. Ich kann das nicht ausstehen. Es gibt keine kleinen Leute. Es gibt nur kleingeistige Leute, Leute, die sich selbst für groß halten, wenn sie andere kleinmachen, die sich selbst für stark halten, wenn sie gegen Schwächere austeilen. Aber sie sind nicht stark! Stark sind diejenigen, die sich für andere starkmachen. Stark sind Sie, meine Damen und Herren. Stark sind diejenigen, die keinen Unterschied machen zwischen denen, die neu zu uns gekommen sind, und denen, die schon immer hier leben, zwischen denen, die ein Luxusauto bauen, und denen, die es später fahren, zwischen denen, die einen Rollstuhl verordnen, und denen, die mit ihm unterwegs sind. Trotzdem werden einige in diesem Land nicht müde, in die Welt zu schreien, dass Hautfarbe, Herkunft, die körperliche oder geistige Verfassung eben doch einen Unterschied machen, dass jemand weniger wert sein kann als ein anderer. Ich kann dazu nur sagen: Egal, wie laut sie schreien, sie irren sich sehr!

Ich arbeite jeden Tag für eine Gesellschaft, die zusammenhält, für ein Land, das zusammenhält und nicht ins „Jeder gegen jeden“ zerfällt. Den VdK weiß ich dabei an meiner Seite. Dafür sage ich von Herzen: Schönen Dank und alles Gute für die nächsten 75 Jahre!