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Symbolbild: Olaf Scholz
Photothek
20.03.2024 | Leipzig

Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse

Sehr geehrter Herr Premierminister Rutte,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Jambon,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung,
sehr geehrte Frau Schmidt-Friderichs,
sehr geehrte Frau Böhmisch,
sehr geehrter Herr Buhl-Wagner,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer, Verlegerinnen und Verleger, Besucherinnen und Besucher – uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen, nicht die Macht des Geschreis!

Uns alle – und da schließe ich mich ein – verbindet die Liebe zum Lesen. Ob als Kind abends vor dem Einschlafen, als junger Politiker im Zug zwischen Hamburg und Bonn, oder jetzt, wann immer es meine Zeit erlaubt – seit ich denken kann, begleiten mich Bücher durch mein Leben.

Ich bin dabei genauso wenig wie viele andere auf ein ganz bestimmtes Genre festgelegt, wie zum Beispiel diese Messe hier auch nicht. Wissenschaft oder Gesellschaft, Abenteuer oder Krimi, Sachbuch oder Roman – wenn man es zulässt, dann wartet hinter dem Buchdeckel die Überraschung, die uns im Netz oft abhandenkommt, weil uns Algorithmen dort vor allem das zeigen, was wir sowieso gut finden oder gut finden sollen. Wenn man es zulässt, dann findet sich aber überall etwas Interessantes, Spannendes oder Berührendes.

Über diesen Aspekt würde ich gern sprechen: Lesen als Zulassen. Wir lassen andere Perspektiven als die eigene zu. Wir erleben, was uns selbst nie zuteilwurde. Wir nehmen persönlich Anteil an Entwicklungen, die uns sonst vielleicht kaltlassen würden. Mit jedem Kapitel, mit jeder neuen Seite können wir Gegensätze überwinden, die im Alltag manchmal unüberbrückbar scheinen, wie wir auch jetzt hier sehen!

Lesen ist deswegen der tägliche Beweis, dass wir uns trotz unserer Unterschiede verstehen können, dass unsere Gesellschaften in Deutschland, in Europa, mitnichten dazu verdammt sind, auseinanderzudriften. Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen,ie ganzen Gruppen in diesem Land die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft absprechen wollen. Glauben wir niemals denen, deren Antworten am Ende auf Intoleranz, Ausgrenzung und Hass hinauslaufen und deren verrückte Dexit-, D-Mark- und Remigrationspläne unser Land nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich ruinieren würden.

Glauben wir stattdessen an das, was uns verbindet. Es verbirgt sich auch zwischen denen, die möglichst klug und gebildet darüber sprechen können. Literatur lebt von den Buchdeckeln hier in Leipzig – in all seinen Facetten. Umso schöner, dass sich bei „Leipzig liest“, dem größten europäischen Lesefest, davon auch in diesem Jahr wieder hunderttausende Literaturfans in der ganzen Stadt überzeugen können. Denn Literatur lebt nicht nur von denjenigen, die lesen, sich darüber austauschen, die zulassen.

Darum freut es mich ganz besonders, dass der KulturPass in diesem Jahr in die Verlängerung geht. Das ist ein digital abrufbares Angebot der Bundesregierung für alle, die in diesem Jahr 18 Jahre alt werden. Sie erhalten ein Budget von 100 Euro, das sie frei für eine große Zahl kultureller Angebote einsetzen können – beispielsweise auch, um ermäßigten Eintritt hier bei der Buchmesse zu erhalten.

Und was nun ist die Leistung, für die der Kulturpass am meisten genutzt wird? Es ist tatsächlich, allem Kulturpessimismus zum Trotz, der Erwerb von Büchern – mit deutlichem Abstand auf Platz eins.

Auch das zeigt doch: Jede Geschichte, die erzählt wird, ist es wert, erzählt zu werden. Deswegen ist unsere vielfältige Verlagslandschaft von unschätzbarem Wert. Deswegen sind die tausenden Bücher, die hier jedes Jahr vorgestellt werden, gute Nachrichten für unser Land.

Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Jahr die Niederlande und Flandern als Gäste hier in Leipzig begrüßen können. Mit ihrem gemeinsamen Auftritt in diesem Europawahljahr stehen sie für das, was uns im vereinigten Europa ausmacht. Wir haben uns gemeinsam entschieden, die Brüche der Vergangenheit zu überwinden. Wir haben uns entschieden, das Gemeinsame zu sehen, ohne unsere Traditionen preiszugeben und ohne die Geschichte zu vergessen. Dass das geht, das zeigt Europa, das zeigt auch dieser gemeinsame Auftritt.

„Alles außer flach“ – mir gefällt auch dieses gemeinsame Motto sehr gut. Als Hamburger, aus den niedrigen Landen Deutschlands kommend, kann ich damit viel anfangen. Und in der Tat, wo könnte der Kontrast zwischen der Höhe über oder manchmal sogar unter dem Meeresspiegel und den künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen größer sein als in Flandern und in den Niederlanden. Man würde bei dem Versuch scheitern, hier aufzuzählen, was flämische und niederländische Meister für die Malerei, was flämische und niederländische Wissenschaftler für den Fortschritt, was niederländische und flämische Philosophen, Kartografen, Juristen oder Theologen für das Wohlergehen der Menschen und der Menschheit geleistet haben.

Deswegen will ich mich beim Blick in die Geschichte auf einen Ausschnitt beschränken, der aus meiner Sicht auch eine wichtige Botschaft für uns heute enthält. Auf dem Großteil des Gebiets der heutigen Niederlande existierte mit der Republik der Vereinigten Niederlande schon Ende des 16. Jahrhunderts ein Vorbote des modernen Bürgerstaats. Natürlich war dieser frühe Staat alles andere als perfekt. Unter anderem mit der damals begründeten Rolle als Kolonialmacht setzt sich ja auch die Gegenwartsliteratur in den Niederlanden intensiv auseinander.

Aber trotz eines Unabhängigkeitskriegs gegen die spanische Krone, trotz ungünstiger Voraussetzungen – keine Bodenschätze, anders als heute kaum Landwirtschaft – war dieser Staat ungemein erfolgreich. Denn die dort herrschende Religionsfreiheit zog Frauen und Männer aus ganz Europa dorthin, um freier arbeiten, forschen und schreiben zu können. Wissenschaftliche Bücher, die an anderen Orten verboten waren, konnten in den Niederlanden plötzlich frei gedruckt und verbreitet werden.

Die Niederlande wurden das Verlagshaus Europas und ein Leuchtturm des Geistes. Hugo Grotius legte die Grundsteine für das moderne Völkerrecht und das Seerecht. Baruch de Spinoza begründete die moderne Religionskritik. Christian Huygens begründete die Wellentheorie des Lichts und leistete Bahnbrechendes in der Mechanik und der Astronomie. Antoni van Leeuwenhoek entwickelte das moderne Mikroskop und legte damit die Grundlagen der Zellbiologie.

Gleichzeitig erreichte die Malerei eine nie dagewesene Blüte. Hunderte Meister produzierten zehntausende Gemälde im Jahr – zum ersten Mal Bilder für Bürger und von Bürgern. Werke, die uns noch heute einen unvergleichlichen Einblick geben in das tägliche Leben einer Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne.

Was diese Geschichte zeigt? Gerade Europa mit seiner kleinen Fläche, mit seiner gemessen an anderen Weltregionen relativ kleinen Bevölkerung, ohne viele Bodenschätze, dieses Europa ist dann und nur dann erfolgreich, wenn wir frei im Denken und weltoffen bleiben, wenn wir uns nicht verschließen, wenn die erste Frage nicht lautet: „Woher kommst du?“, sondern: „Was kannst du?“ Dann wird Europa auch in dem tiefgreifenden Umbruch, durch den wir gerade gehen, weiterhin erfolgreich sein.

Literatur kann uns dabei Orientierung geben. Ihrem Manifest zur Buchmesse haben die Kuratorinnen des Gastlandprogramms, Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, einen Satz mit einer wichtigen Mehrdeutigkeit vorangestellt: Wenn die Welt sich verändert, verändert sich auch die Literatur. Ja, die Literatur folgt dem Lauf der Welt. Sie reagiert auf Kriege, auf die Klimakrise, auf Flucht und Vertreibung. Sie spiegelt die wichtige Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit, mit Rassismus und Diskriminierung, mit der Angst vor Veränderung genauso wie mit glücklichen Veränderungen. Nur eines ist sie eigentlich nie, statisch. Damit ist sie ein hochsensibler Sensor für die Welt von morgen. In ihr zeigen sich die ersten Ausschläge des Kommenden. Sie kann Veränderungen vorgreifen, bevor wir diese in der Welt entdecken. Die Literatur verändert die Welt; auch dieser Satz gehört hierher auf die Leipziger Buchmesse.

Danken möchte ich daher den vielen Autorinnen und Autoren, die uns die Welt gestern, heute, morgen durch ihre Augen sehen lassen, besonders natürlich den Gästen aus den Niederlanden und aus Flandern.

Danken möchte ich auch all denjenigen, die uns fremdsprachige Literatur überhaupt erschließen, den Übersetzerinnen und Übersetzern. Tausende übersetzter Titel werden Jahr für Jahr in Deutschland veröffentlicht, Tausende Welten, die sonst im wahrsten Sinne das Wortes unverständlich geblieben wären. Ohne Sie, liebe Übersetzerinnen und Übersetzer, gäbe es schlicht keine Weltliteratur und damit noch weniger Verbindendes in einer Welt, die zwar besser vernetzt ist denn je, die sich dadurch aber nicht automatisch besser versteht.

Meine Damen und Herren, es ist eine bittere Erkenntnis: Wir leben nicht in friedlichen Zeiten. Der verbrecherische russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der mörderische Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel und der Krieg in Gaza, hunderttausendfaches Leid, unendliche Trauer, unendliche Wut. Selten war es leichter, sich von dieser Wut mitreißen zu lassen.

Ich habe von Lesen als Zulassen gesprochen, als täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive infrage zu stellen, seine eigene Blase zu verlassen, sich an die Stelle des anderen zu begeben. Diese Bereitschaft ist und bleibt gerade jetzt wichtig. Sie ist essenziell für unsere Demokratie.

Deswegen habe ich mich darüber gefreut, dass in diesem Jahr Omri Boehm für sein Buch mit dem Titel „Radikaler Universalismus“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird.

Lieber Herr Boehm, Sie rufen uns im 300. Geburtsjahr Immanuel Kants in Erinnerung, welche Impulse auch heute von diesem großen europäischen Aufklärer für unser Miteinander hier und heute, für unsere demokratischen Gesellschaften ausgehen können. Gegen die lautstarke Betonung des Trennenden führen Sie uns das Verbindende zwischen uns vor Augen, nämlich die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen. Auch von mir herzlichen Glückwunsch zur heutigen Ehrung!

Meine Damen und Herren, wir leben nicht in friedlichen Zeiten. Ich verstehe es deswegen gut, wenn sich manche fragen: Was nutzt die Macht des Wortes gegen die schreckliche Tat? Nichts bringt die unschuldigen Opfer von Krieg und Terror zurück zu ihren Eltern, Kindern und Freunden. Das Schwarz kann man nicht weiß reden, die Nacht nicht zum Tag. Dennoch können Worte Trost und Halt geben. Worte können uns mit anderen verbinden und Kraft geben. Alle Gesellschaften sind aus Worten entstanden, und keine Gesellschaft kommt ohne Worte aus.

Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie ist stark dank Ihrer Arbeit. Haben Sie vielen Dank dafür!