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09.09.2016

Rede zur Trauerfeier für Henning Voscherau

 

Liebe Familie Voscherau,
sehr geehrte Herren Bundesminister,
sehr geehrte Trauergäste,
 
wir nehmen heute Abschied von Henning Voscherau.

Mit der Familie, Freunden, beruflichen Weggefährten und politischen Mitstreitern nimmt bewegt Abschied: seine Heimatstadt Hamburg. Sie tut es mit Trauer und Dankbarkeit, mit Respekt und Bewunderung.

Henning Voscherau das war in den zurückliegenden Tagen ein wiederkehrendes Motiv in fast allen Nachrufen sei ein Hanseat durch und durch, ja geradezu die Verkörperung eines Hanseaten gewesen (NDR). Das stimmt und ich glaube, wir sehen daran auch, wie sehr und wie gern die Hamburgerinnen und Hamburger sich selbst in diesen Eigenschaften gespiegelt sehen wollten: verlässlich, klar, ernsthaft, aber auch humorvoll; der übernommenen Aufgabe sich respektvoll unterordnend, dabei aber die Konturen der eigenen Person nicht hinter dem Amt versteckend.

Henning Voscherau war ein ernsthafter Stadtmanager und sorgender Landesvater, Wertkonservativer und Sozialdemokrat, charmanter Gastgeber und ideenreicher, geschliffen formulierender Intellektueller. Sein Verständnis von Politik war geprägt von tiefer Verantwortung; einen spielerischen Umgang mit den vitalen Funktionen der Stadt würde er niemals zulassen, das musste jeder wissen.
   
Wir nehmen Abschied von einem langjährigen Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, einem starken Bürgermeister in bewegten Zeiten. Wie bewegt sie sein würden, hat auch er nicht vorausgesehen, aber als einer der ersten verstanden, als sich 1989 die Chance ergab, in der Deutschland- und Europapolitik auf eine neue Ebene zu kommen über die bisherigen, unverzichtbaren Teilnormalisierungen hinaus, so hat er sie genannt , und dabei hat er auch Hamburgs vitales Interesse im Auge gehabt.

Henning Voscherau hat seine politischen Ämter mit Format und Substanz ausgefüllt. Hamburgerinnen und Hamburger unterschiedlichster Herkunft und Prägung schätzten ihn und vertrauten ihm. Er hat die Stadt nach innen verbunden und nach außen glänzend vertreten.

Er hat in seiner Heimatstadt sichtbare und bleibende Zeichen hinterlassen. Die HafenCity wird eines davon sein und ist es, obwohl unfertig, schon jetzt: eine städtebaulich bahnbrechende Vision, die Henning Voscherau noch als Bürgermeister selbst entwickelt und unbemerkt über viele Jahre vorbereitet und schließlich auf den Weg gebracht hat.

Eine Vision, ja. In Hamburg haben wir gelernt, vorsichtig mit dem Wort umzugehen. Doch schon ein Aphorismus des griechischen Geschichtsschreibers Herodot besagt: Der Erfolg bietet sich meist denen, die kühn handeln, nicht denen, die alles wägen und nichts wagen wollen.

Wer das von Henning Voscherau gern und häufig zitierte Leitmotiv noch im Ohr hat in der Sprache der hanseatischen Kaufleute: buten un binnen   wagen un winnen , kann mit etwas Phantasie eine Verwandtschaft der beiden Zitate, auf jeden Fall eine Verwandtschaft des Denkens darin erkennen.

Das großartige Projekt HafenCity aber, das der Stadt lange ungenutzte, dann ideenreich umgenutzte Gebiete wieder erschlossen hat, verklammert die Vision mit dem alltagstauglichen Politikverständnis, das schon vor einem Vierteljahrhundert so auf Hamburger Plakaten erschien: Glück? Bezahlbares Wohnen gehört dazu. Liebe? Gute Kindergartenplätze gehören dazu. Beides waren wie auch die Zuwanderung neuer Hamburgerinnen und Hamburger damals schon große Themen der Stadt, von denen Henning Voscherau wusste, dass sie uns lange begleiten würden.

 

*

 

Wir begleiten Henning Voscherau im Thalia-Theater auf seinem letzten Weg. Hier in diesem Theater hat Henning Voscherau viele Tage seiner Kindheit verbracht. Geboren am 13. August 1941 in Hamburg als Sohn des Thalia-Schauspielers Carl Voscherau und dessen Frau Martha, geborene Lohmann, hat er selbst sich früh für einen akademischen Berufsweg als Jurist entschieden. Vor und nach seiner Zeit als Bürgermeister unserer Stadt war er Notar. Mit 25 führte dann mit dem Eintritt in die SPD der Weg in die Politik. Das war 1966, und Erster Bürgermeister war Herbert Weichmann, den Henning Voscherau bewundert und später so beschrieben hat: Der sei ein Preuße von Herkunft und Gesinnung, ein Föderalist aus bitterer Erfahrung, ein Hanseat aus Überzeugung gewesen. Ein knappes Vierteljahrhundert später konnte Henning Voscherau selbst in seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident auf sehr ähnliche, erneut aktuell gewordene Herausforderungen und auf diese Prinzipien verweisen.

Zuerst kam die Zeit als Abgeordneter in Hamburg.1970 bereits als Dr. Voscherau in die Bezirksversammlung Wandsbek, 1974 in die Hamburgische Bürgerschaft und den Fraktionsvorstand seiner Partei gewählt, war er 1978 als Vorsitzender des Innenausschusses erstmals erfreut über eine Einigung in Sachen Bezirksreform, die für ihn ein wesentlicher Schritt voran auf dem Wege zu mehr Bürgernähe war (Abendblatt).

1982 wurde Henning Voscherau Fraktionsvorsitzender der SPD in der Bürgerschaft, und wir verdanken Klaus von Dohnanyi, zu der Zeit sein wichtigster Weggefährte, politischer Freund und manchmal Gegenspieler, eine Ahnung von dem beharrlichen Ringen um jeden Schritt, sei es voran oder erst einmal wieder zurück, das ja auch Politik ausmacht. Und von der sogar im wörtlichen Sinn Kesselschmiede, in der er selbst und Henning Voscherau damals politisch nun ja, geschmiedet wurden, außen hart, innen beweglich. Ich zitiere: Um zu regieren, braucht man gelegentlich auch offene Kompromissformeln und interpretierbare Entscheidungen. Und für solche Kompromisse war Henning Voscherau nicht nur unentbehrlich, er fand sie oft selbst, und dann konnte man sich auf ihn blind verlassen: ein Mann, ein Wort auch wenn es nicht immer leicht war, sein Wort zu gewinnen.

1988 trat Henning Voscherau die Nachfolge des Weggefährten Klaus von Dohnanyi als Erster Bürgermeister an.

Das Gelernte, Aufgesogene, Geprüfte, manchmal insgeheim schon besser Gewusste musste nun zum Nutzen Hamburgs angewandt werden. Und so ist es neun bewegte Jahre hindurch geschehen.

Bewährungsproben kamen schnell. 1988 bot der Treuhänder der Neuen Heimat Nord dem Hamburger Senat 41.533 Wohnungen zum Kauf an. Am 30. November 1988 lag dem von Henning Voscherau geführten Senat ein fertiger Vertrag vor. Im folgenden Jahr übernahmen die Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft mbH (GWG) und die Wohnungsverwaltungsgesellschaft Nord (WVN) die Wohnungen sowie unbebaute Grundstücke. Der Erhalt bezahlbaren Wohnraums für Viele in der heutigen SAGA/GWG war ein ganz wichtiges Zeichen für die Hamburgerinnen und Hamburger. Und in den ersten Jahren war es ein politisches Kunststück, die Forderung, die Wohnungen wieder zu verkaufen, zurückzuweisen.

Entscheidungen ganz anderer Art fielen ebenfalls in Henning Voscheraus Bürgermeisterzeit: die schlussendlich friedliche Einigung mit der Hafenstraße, diesem bundesweit bekannten Projekt und Symbol, anknüpfend an den Weg, den vor ihm Klaus von Dohnanyi eingeschlagen hatte.

In dieser Zeit wurde in Hamburg ein kommunales Wahlrecht für ausländische Stadtbewohner beschlossen. Diese Regelung, die es auch in Schleswig-Holstein gab, wurde vom Bundesverfassungsgericht zwar aufgehoben, ist dann aber schließlich doch noch Realität geworden. Die im Grundgesetz abgesicherten europäischen Verträge haben ein kommunales Wahlrecht für EU-Inländer etabliert.

Als Großstadtbürgermeister braucht man Fleiß, Härte und Präzision, so hat Henning Voscherau einmal gesagt. Und damit auch beschrieben, wie es ihm gelang, so lange Zeit im Amt des Ersten Bürgermeisters relevant und erfolgreich zu wirken. Was ihn als Bürgermeister stark gemacht hatte, hat ihn dann 1997 zum Verzicht auf eine weitere Amtszeit als Erster Bürgermeister seiner Stadt bewogen, obwohl das Wahlergebnis sie ermöglicht hätte. Doch eine verlässliche Grundlage schien das für ihn nicht mehr zu sein. Wohl aber der Anlass, andere Personen mit anderen Bündnisstrategien auf ihren, vielleicht ja richtigeren, Weg zu schicken. Man würde sehen.

Das politische Leben war mit dem Verlust des Amtes längst nicht beendet. Henning Voscherau wehrte Fragen, wie er denn ohne die Politik überhaupt zurechtkommen werde, meistens ab und mischte sich weiter ein. So gehörte er ab 2003 dem Vorstand der Deutschen Nationalstiftung an, die ein Freundeskreis um Helmut Schmidt in den Jahren nach der Deutschen Vereinigung gegründet hatte. Er war Vizepräsident des Senats dieser Stiftung.

Mit Vertretern der Amicale Internationale de Neuengamme verband ihn eine enge Freundschaft. Die Gedenkstätte ist heute ein lebendiger Lernort ohne Strafanstalten.

Den früheren Bundeskanzler hatte er oft um seinen Rat gebeten, und nach dessen Tod hat Henning Voscherau Ende vergangenen Jahres Radio Bremen auf die Frage nach dessen wichtigsten Eigenschaften zuerst diese genannt sie werfen ein Licht auf eigene Prinzipien: Er war sehr mutig und stand mit Zivilcourage zu seiner gründlich erarbeiteten Überzeugung, auch dann, wenn sie unpopulär war (…), und setzte sie durch. Beide haben nach dem Ende ihrer Ämterzeiten ihre Überzeugungen weiter durchdacht, aber nie den Ehrgeiz entwickelt, dass die möglichst allen gefallen sollten.    

Henning Voscherau war im Kuratorium der Hamburger Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und er war Aufsichtsrats- und Kuratoriumsmitglied der privaten Hamburger Bucerius Law School. Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Bildung und Erziehung ein guter Kanon, aber nicht fehlen durfte das Eintreten für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, manifestiert noch bis zum Frühjahr 2015 durch den Vorsitz in der Mindestlohn-Kommission. Dafür war er die denkbar beste Wahl, denn auch in dem Interessengeflecht zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften kannte er sich aus, wusste er manches zu entflechten.

 

*

 

Henning Voscherau war respektiert, geachtet,  von Mitarbeitern höchstens tageweise gefürchtet, bei den Hamburgerinnen und Hamburgern beliebt.

Respektiert und geachtet auch von den meisten derer, die ihn, den Sozi, nie gewählt haben. All das wusste er und er durfte es genießen, denn er hat sich Respekt, Achtung und Zuneigung nicht erschlichen. Er hat sie sich verdient: durch Geradlinigkeit.

Als leidenschaftlichen Taktiker haben ihn manche Nachrufe gewürdigt. Diese Formulierung hätte ihm, dem jederzeit druckreif formulierenden Freund der deutschen Sprache, trotz allem nicht gefallen. Gelten lassen hätte er, dass das eine das andere zur Voraussetzung haben kann. In der Demokratie muss die Mehrheit überzeugt werden, bevor und damit gutes Regieren möglich wird. Henning Voscherau war auf beiden Feldern illusionsloser Praktiker. Also auch Taktiker.

Die Mehrheit musste überzeugt und, wenn es nötig schien, auch aufgefordert werden, sich zu zeigen. 1991 hatte sie das getan und seiner Partei, und ihrem Bürgermeister und Spitzenkandidaten, die absolute Mehrheit der Sitze in der Bürgerschaft verschafft. Woran er selbst nicht geglaubt hatte, zumindest im Vorwärts (Juli 1991) hatte er die Wahrscheinlichkeit mit der von Sechs Richtigen im Lotto bemessen.

Zwei Jahre später war der große Erfolg nichts mehr wert, musste aus einsichtigen, aber doch vielfach als ärgerlich empfundenen formalen Gründen neu gewählt werden. Inzwischen hatte sich das Klima in Deutschland schon verändert, blieben Wählerinnen und Wähler zu Hause, stellten bereits offen oder verdeckt rechtsextreme Parteien den Konsens in Frage, schien die Zeit absoluter Mehrheiten vorbei. Sollte eine solche Partei in die Bürgerschaft einziehen und die SPD deutlich unter vierzig Prozent liegen, dann, so hat es Henning Voscherau schon in dem Jahr angekündigt, würde er aus diesem persönlichen Vertrauensentzug Konsequenzen ziehen.

Was 1993 vielleicht zur Wiederwahl beigetragen, allerdings das Eingehen einer neuen Koalitionsregierung erfordert hatte, half 1997 nicht mehr.

Doch längst hatte Henning Voscherau für seine Stadt wesentliche Zukunftsentscheidungen getroffen. Gleichzeitig hatte er sich auf bundespolitischer Ebene als Mahner und Ideengeber profiliert. Und beides hing eng zusammen.

Denn Henning Voscherau war jemand, der neue Situationen schnell erfasste und darin Orientierung gab. So erkannte er schon früh, dass der Mauerfall und seine Folgen, die nun mögliche deutsche Wiedervereinigung und das Zusammenwachsen Europas, auch das Schicksal der Freien und Hansestadt stark beeinflussen würden. Er hat die neuen Chancen für Handel und Wandel erkannt und entschlossen zugepackt, um sie zum Wohl der Stadt zu nutzen. Dass Hamburg unter den harten Wettbewerbsbedingungen einer globalisierten Weltwirtschaft heute so erfolgreich dasteht, hat auch viel damit zu tun, dass Henning Voscherau die Infrastruktur beherzt, gegen manche Widerstände, erweitert und damit die Voraussetzungen geschaffen hat.

Das gilt für den Containerterminal Altenwerder, lange und intensiv umstritten, ein Projekt, das für viele Bewohner schmerzliche Konsequenzen hatte. Heute sehen wir dort ein Stück hamburgische Infrastruktur, die es Hamburg ermöglicht hat, den Anschluss an den Übersee-Containerverkehr zu halten und seine Position auszubauen lebenswichtig für die ganze Stadt und Metropolregion.

Mit dem Bau der vierten Elbtunnelröhre wurde zu Henning Voscheraus Amtszeit begonnen, und parallel lief schon das Ausbauprogramm HAM21 mit dem Ziel einer grundlegenden Modernisierung des Flughafens, als Weitblickende nicht mehr an die langgehegten Pläne einer Verlegung nach Kaltenkirchen glaubten. Selbst wiederkehrende Aufgaben wie die Elbfahrrinnenanpassung wären ohne seine gründlich erarbeiteten Überzeugungen und sein Durchsetzungsvermögen nicht auf dem heute erreichten Stand. Hamburg hätte um die Eigenschaft und das Prädikat Tor zu Welt fürchten müssen.


Aber die Deutsche Einheit herzustellen, erforderte Präsenz an vielen Orten, gedanklich und real, 1989 und danach. Versuchen wir uns in jenes Jahr zu versetzen. Henning Voscherau war seit einem Jahr Erster Bürgermeister in Hamburg und blickte voraus auf zunächst einmal eine oder zwei weitere, die Kraft und Autorität eines Hanseaten fordernde, weltpolitisch eher im Windschatten liegende Legislaturperioden. Auf das politische Leben als einen langsamen, mehr oder weniger stetigen Fluss, vergleichbar der Elbe, die hier in Hamburg, längst gezähmt, nur selten über die Ufer tritt.

Es kam anders. Die friedliche Revolution derjenigen, die in Polen, Ungarn, der damaligen ČSSR, dann machtvoll auch in der DDR ihre Rechte einklagten und ihren Willen nach Veränderung deutlich machten; der Sturz einer Diktatur in Deutschland durch das Volk in unserer Geschichte zum ersten Mal, wie Henning Voscherau nicht müde wurde hervorzuheben;  

diese schon so lange überfälligen und, als sie dann kamen, doch schwer zu fassenden Ereignisse, diese neue Situation, die erforderte schnelles Denken und Handeln. Sie würde auch den westlichen Teil Deutschlands, und nicht ganz zuletzt Hamburg, verändern. Mit Risiken, ja natürlich, aber vor allem doch mit Chancen, bei deren bloßer Aufzählung einem schwindlig werden konnte. Aber nicht durfte, denn es galt, diese Chancen jetzt entschlossen zu nutzen.

Niemand hat das schneller verstanden als Henning Voscherau, niemand hat klarer das abrupte Ende genau des Dornröschenschlafes gefordert, in dem sich Deutschland und Hamburg in mancherlei Hinsicht befanden.

Er sah es voraus und sprach es aus: Für die Einheit der Lebensverhältnisse, der Köpfe, der Herzen, braucht es jetzt Zeit Zeit, Geduld, Behutsamkeit, Zuversicht und praktische Vernunft.   
Aber Zuversicht, sein vielleicht am häufigsten gebrauchtes Wort in jenen Monaten, die musste einkehren und dabei war Hilfe erforderlich.

Am Anfang war die Tat, mit diesen pathetischen Worten Goethes begann Voscherau seine Regierungserklärung, in der es unmittelbar um die in der DDR ausharrenden Bürger, die um politische Veränderung und wirtschaftliches Überleben rangen, ging. Und es folgten Taten: Henning Voscherau nutzte die Städtepartnerschaft, diese besondere Beziehung zwischen den Städten, die in Zeiten der Teilung begonnen hatte, und beschritt mit den Partnern in der sächsischen Stadt kurze Dienstwege, wo immer sie gangbar waren. In Dresden erinnert man sich heute dankbar daran wie auch St. Petersburg, eine andere Partnerstadt, ihm den persönlichen Einsatz für Lebensmittel- und andere humanitäre Hilfe in schwerer Wendezeit nicht vergessen hat.

Das war die eine Seite, der persönliche Einsatz vor Ort. Eine andere Aufgabe konstituierte sich als Gemeinsame Verfassungskommission des Deutschen Bundestages und des Bundesrates im Januar 1992. Gemeinsam mit Rupert Scholz führte Henning Voscherau fast zwei Jahre lang den Vorsitz dieses großen, aus allen demokratischen Fraktionen gespeisten Gremiums, und er tat es mit der Leidenschaft eines überzeugten Föderalisten und detailkenntnisreichen Juristen. Es ging um nichts Geringeres als die Frage, welche Folgerungen sich aus der Deutschen Einheit für das Grundgesetz vielleicht auch eine neue deutsche Verfassung ergaben. Auch darum, ob das gesamte Deutsche Volk zu einer Abstimmung aufgerufen sei, um, wie es in der Präambel steht, in freier Selbstbestimmung die Einheit zu vollenden; nunmehr vor dem Hintergrund der Europäischen Integration einerseits und zu tarierender Bund-Länder-Kompetenzen andererseits.

Wir wissen, dass es dazu nicht gekommen ist und dass die Beratungsergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission in eher unspektakulärer Weise in Grundgesetzanpassungen eingeflossen sind. Henning Voscherau hat in seiner kritischen Bilanz festgehalten, dass ohne die Empfehlungen der Kommission die Ratifikation des Maastricht-Vertrages nicht möglich gewesen wäre. Aber das letzte Wort sei über manches noch nicht gesprochen damit meinte er die Verfassungsdiskussion und die Herstellung der Deutschen Einheit insgesamt. 

 

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Noch etwas hat Henning Voscherau gewusst und klar benannt. Nämlich so: Weltweiten Migrationsströmen, Völkerwanderungen aus Hunger und Not, aus politischer Verfolgung können wir nicht begegnen mit einem neuen Zaun um Deutschland und um ganz Europa. Wir müssen Elend und Unfreiheit da bekämpfen, wo diese Menschen zu Hause sind. Henning Voscherau vor fast 25 Jahren.

Und weil jene Rede am Tag der Deutschen Einheit 1991 gehalten wurde dem ersten überhaupt nach der Vereinigung und dem ersten, den Hamburg in neuerer Zeit ausrichten durfte weil es 1991 war, und nur deshalb, fehlte der neue alte Grund, den heute viel zu viele haben, um ein besseres Leben anderswo zu suchen: Krieg, Bürgerkrieg, Vertreibung, Zerstörung der Häuser und der Lebensperspektiven. 1991, das war vor Jugoslawien, vor dem Irakkrieg, vor Syrien. Auch deswegen war es ja so ein hoffnungsvolles Jahr.

Es war eine hoffnungsvolle Zeit für Europa. Ich bin für eine europäische Föderation mit eigener Außenpolitik und Verteidigungspolitik, sagte Henning Voscherau, der Pro-Europäer, in der Zeit, und weiter: Ich bin allerdings der Meinung, dass man die Einführung des Euro, noch mehr die Osterweiterung, mit einer Demokratisierung der Europäischen Union kombinieren müsste. Sätze, an die wir zurzeit in mancherlei Weise erinnert werden.

Henning Voscherau wusste um die Bedeutung des Friedens, der in Europa Realität geworden war. Er erinnerte sich auch an die ersten Geräusche in seinem Leben, verursacht von den Motoren der Bomberflotten über Hamburg im Zweiten Weltkrieg. Er ist ein klarer Gegner nicht nur des Irakkrieges von 1991 gewesen, sondern hatte das Beharren auf friedlichen Konfliktlösungen tief verinnerlicht.

 

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Henning Voscheraus Politik war nie wechselnden Moden angepasst, aber immer für Veränderungen offen, also modern. Dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt ihm vertrauten, lag auch daran, dass Hamburg in seinem Amt als Erster Bürgermeister stets sein erstes und wichtigstes Anliegen war. Er verbrachte sein ganzes Leben in unserer Stadt und stellte sein ganzes politisches Wirken in ihren Dienst. Ein ganzes Menschenleben nach den Motoren der Bomberflotten konnte er auf eine weltoffene, kosmopolitische Stadt blicken, die seit Jahrzehnten wieder in Frieden und Wohlstand erblüht und mit Selbstvertrauen in die Zukunft schaut. Er hat einen großen Beitrag dazu geleistet.

Liebe Familie Voscherau, Sie verlieren einen liebevollen und geliebten Ehemann, Familienvater und Bruder. Wir alle trauern heute mit Ihnen.

Die Freie und Hansestadt Hamburg wird seiner allzeit in Dankbarkeit und Zuneigung gedenken.

 

Es gilt das gesprochene Wort.