arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

28.09.2005

Regierungsbildung von Olaf Scholz

Das für viele überraschende Wahlergebnis macht die Bildung einer stabilen Regierungsmehrheit nicht leicht. Eine Mehrheit für die schwarz-gelbe Opposition hat sich nicht ergeben. Die bisherige Regierungskoalition hat alleine auch keine Mehrheit mehr. Da in Deutschland der Kanzler und die Regierung vom Parlament gewählt werden, müssen jetzt die Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Geschäft der Regierungsbildung erledigen - anders als in anderen Ländern, in denen der Regierungschef direkt vom Volk gewählt wird. Eine solche präsidiale Demokratie haben wir nicht. Sonst wäre die Regierungsbildung bereits abgeschlossen. Für Gerhard Schröder hätte es in einer Direktwahl zwischen der Kanzlerkandidatin und dem Kanzler eine klare und deutliche Mehrheit gegeben.


Neuwahlen


Sicher ist die Lage schwierig. Aber unlösbar ist das Problem der Regierungsbildung nicht. Die Menschen in Deutschland würden es der politischen Klasse, den Parteien und den Abgeordneten niemals verzeihen, wenn sie vor einer bloß schwierigen Aufgabe kapitulierten und auf Neuwahlen aus wären. Deshalb sollten sich unabhängig von Interessenlagen und Zielrichtungen alle verantwortungsvollen Politikerinnen und Politiker in allen Parteien schon jetzt dazu verpflichten, Neuwahlen nicht anzustreben.

Diese klare Haltung sollte übrigens aus staatspolitischer Verantwortung und Achtung vor der Demokratie erfolgen und nicht aus parteipolitischem Kalkül, obwohl auch in der Hinsicht manches gegen Neuwahlen spricht. Die FDP zum Beispiel würde mit einiger Sicherheit nur halbiert aus einer solchen Neuwahlsituation hervorgehen.


Schwarz-gelbe Minderheit


CDU/CSU und FDP haben für ihr politisches Programm keine Mehrheiten bekommen - nicht nur für ihre Kanzlerkandidatin nicht. In nunmehr drei Wahlen 1998, 2002 und 2005 haben Parteien diesseits von CDU/CSU und FDP die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können. Zählt man die Stimmen der neben CDU/CSU und FDP im Parlament vertretenen Parteien zusammen, hatten sie 1998 52,7 %, 2002 51,1% und haben sie 2005 51,1 % der abgegebenen Stimmen erhalten.

Rechts von der SPD gibt es keine Mehrheiten im Parlament. Aus der strukturellen Mehrheit von CDU/CSU und FDP in der westdeutschen Republik ist im vereinten Deutschland - strukturell jedenfalls - eine Minderheitsposition geworden. Zwar sind auch unter solchen Gegebenheiten schwarz-gelbe Wahlerfolge möglich. Die Umstände sind aber so schwierig wie sie einst für die Sozialdemokraten waren, denen trotzdem immerhin von 1969 bis 1982 das gemeinsame Regieren mit einer sozial-liberal ausgerichteten FDP gelang.

Ein solcher Wahlerfolg ist CDU/CSU und FDP dieses Mal nicht gelungen, und das wird bei der Regierungsbildung zu berücksichtigen sein.

Es gibt nicht nur keine Mehrheit für eine Kanzlerin Merkel oder einen schnell positionierten Ersatzkanzler namens Koch, Wulf oder Stoiber. Es gibt auch keine Mehrheit für das politische Programm von CDU/CSU und FDP- im Parlament nicht und auch nicht in der Bevölkerung.

Nach der Hitze des Wahlgefechtes ist nun eine nüchterne Analyse angebracht. Deshalb dieser trockene Hinweis: es gibt keine Mehrheit für die Idee der FDP, die gesetzliche Krankenversicherung abzuschaffen und alle Menschen privat zu versichern. Es gibt keine Mehrheit für die Idee der Kopfpauschale oder Gesundheitsprämie von CDU/CSU. Es gibt keine Mehrheit im Deutschen Bundestag und in der deutschen Bevölkerung für eine Lockerung des Kündigungsschutzes oder für eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie durch gesetzlich forcierte betriebliche Bündnisse für Arbeit. Es gibt keine Mehrheit für eine Einschränkung der Unternehmensmitbestimmung. Es gibt keine Mehrheit für eine Absenkung des Spitzensteuersatzes, weder auf 39 noch auf 35 oder gar auf 25 Prozent. Es gibt keine Mehrheit für den Wiedereinstieg in die Atomenergie. Es gibt keine Mehrheit für den Verzicht auf die Förderung erneuerbarer Energien. Es gibt auch keine Mehrheit für einen Ausstieg aus der Ausbildungsförderung und ihrer Ersetzung durch Bankkredite. Es gibt keine Mehrheit für eine Reduzierung des Mieterschutzes. Es gibt keine Mehrheit für eine Beendigung der liberalen Modernisierung des Zusammenlebens in Deutschland, angefangen beim Lebenspartnerschaftsgesetz bis hin zum Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungsgesetz. Und es gibt keine Mehrheit für eine Regierung, die den bisherigen außenpolitischen Kurs der Bundesregierung Deutschland verlassen will.

Eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung hätte keine Chance, ein einziges der oben beschriebenen Vorhaben im Deutschen Bundestag durchzubringen. Sie hätte schon Schwierigkeiten mit dem Haushaltsgesetz.

Allerdings müsste eine solche schwarz-gelbe Minderheitsregierung ständig damit rechnen, dass eine Parlamentsmehrheit ihr nicht genehme Gesetze beschlösse, z.B. die die Angleichung des ALG II in Ost und West oder die Verlängerung des Rechtsanspruches auf 32-Monate Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um weitere zwei Jahre. Der Bundestag könnte, ohne vom Bundesrat aufgehalten zu werden, einen gesetzlichen Mindestlohn beschließen. Auch in der Krankenversicherung sind Reformvorhaben von rot-grün, die bisher im Rahmen des Gesundheitskompromisses nicht beschlossen wurden, aber sehr wohl eine Beschlussfassung durch den Bundestag auch ohne den Bundesrat zugänglich sind, denkbar. Stichwort: Positivliste für Arzneimittel. Aus der letzten Legislaturperiode sind ein paar Gesetzesvorhaben liegen geblieben, die gar nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürften, z.B. das bereits in dritter Lesung verabschiedete Antidiskriminierungsgesetz.

Der fehlenden parlamentarischen Mehrheit für die politischen Konzepte von CDU/CSU und FDP entspricht auch eine fehlende Mehrheit in der Bevölkerung. Das ist das Ergebnis des Wahlkampfes, dass die Menschen sich im Rahmen der dramatisch zugespitzten Wahlkampfsituation einer Bundestagswahl nicht mehr nur auseinander gesetzt haben mit den Beschwerlichkeiten des Reformprozesses der rot-grünen Bundesregierung, sondern die Reformen gewogen haben im Lichte der Alternativen. Die Chance von CDU/CSU und FDP im Wahlkampf hätte darin gelegen, darauf zu setzen, dass die Menschen ohne auf Details zu schauen wie abends beim Zappen im Fernsehen sich nach sieben Jahren für ein anderes Programm entscheiden. Dadurch, dass politische Konzepte diskutiert wurden, durch die Diskussion über Mehrwertsteuererhöhung und Kirchhoffschen Spitzensteuersatz, ist einer großen Zahl der Wählerinnen und Wähler klar geworden, dass im Falle eines Regierungswechsels nichts besser würde. Vor dem Wahlkampf hatte mancher Rentner und manche Rentnerin vielleicht gehofft, im Falle eines Regierungswechsels gäbe es bessere Rentensteigerungen. Nach der Diskussion über die Mehrwertsteuererhöhung war das vorbei.

Dass SPD und Grüne die Möglichkeit haben, für Gesetzesinitiativen eine Mehrheit zu bekommen, die CDU/CSU und FDP nicht wollen, umgekehrt CDU/CSU und FDP aber keine Mehrheit bekommen können für Gesetzentwürfe, die SPD und Grüne nicht wollen, ist ein bedeutender Unterschied. Schwarz-gelbe Positionen können deshalb nicht die Richtlinien der Politik bestimmen und deshalb kann auch keine CDU-Kanzlerin gewählt werden.


Die Chancen von CDU/CSU und FDP


Rot-rot-grün ist keine Perspektive für eine Regierungsbildung. Und dass  nicht nur jetzt nicht, sondern auch später. Es geht da nicht nur um Personen. Es geht auch um politische Programme, die unverantwortlich sind im Hinblick auf die Herausforderungen an Sozialstaat, Wirtschaftskraft und internationale Stellung Deutschlands.

Mitte-links kann deshalb ohne CDU/CSU oder FDP nur regieren, wenn SPD und Grüne eine Mehrheit alleine gegen das gesamte übrige Parlament haben. So war es 1998 mit dem überragenden Wahlergebnis für die SPD. So war es 2002 angesichts des Scheiterns der PDS an der 5-% Hürde.

Jetzt ist es zu der komplizierteren Normallage eines möglicherweise längerfristigen 5-Parteien-Systems im Deutschen Bundestag gekommen. Ob die Linkspartei.PDS sich längerfristig oder dauerhaft im Parteiensystem etablieren kann, entscheiden letztlich die Wählerinnen und Wähler. So lange es der Linkspartei.PDS aber gelingt, erfolgreich in den Bundestag zu ziehen, sind Parlamentszusammensetzungen wie die aktuelle wahrscheinlicher als solche, wie sie sich 1998 und 2002 ergeben hatten.

Die parlamentarische Etablierung der Linkspartei.PDS muss übrigens weder die Sozialdemokraten noch die Grünen schrecken. Für die SPD kann das sogar eine Chance sein. Wenn sie sich als pragmatische, regierungsfähige, handlungskompetente Partei profiliert, wird ihr das  Zuspruch bringen und die Akzeptanz bei vielen Wählerinnen und Wählern in der politischen Mitte der Republik erhöhen. Sie muss diese Fähigkeit im Wettbewerb zu CDU/CSU und FDP nicht mehr immer neu beweisen, wenn ihr genau diese Fähigkeit von links außen stets vorgeworfen wird. Deshalb sollte die Sozialdemokratische Partei auch niemals versuchen, in einen Überbietungswettbewerb mit maßlosen Forderungen einzutreten.

Das nun ist die Chance der Parteien jenseits der Sozialdemokratie. CDU/CSU und FDP können, da eine Regierungsbildung sonst nicht möglich ist, erreichen, an der Regierung beteiligt zu werden. Dafür können sie auch Forderungen stellen und eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses in ihre Richtung verlangen. SPD und Grüne müssen akzeptieren, dass angesichts der Zusammensetzung des Parlaments Vorstellungen, wie sie in FDP und CDU wichtig sind, einen bedeutenden Einfluss auf das politische Geschehen nehmen. Aber eben nur das und nicht, dass eine Minderheitsposition unversehens zur Mehrheit mutiert. Weder SPD noch Grüne könnten ohne Gefahren für ihre eigene Partei dem Programm zum Erfolg verhelfen. Übrigens gilt dies auch umgekehrt: Eine CDU geführte Regierung, die das Wahlprogramm der SPD umsetzte, wäre auch für die Union problematisch.

Ein Ansatzpunkt für mögliche Konsense könnten zum Beispiel das Ergebnis des Beschäftigungsgipfels oder die Vorstellungen zur Reform der föderalen Ordnung sein.

Jetzt ist die Frage, wer beherzt die Chance ergreift, die Interessen und Ansichten der CDU/CSU und FDP Wählerinnen und Wähler unseres Landes in eine Regierung einzubringen und ihnen damit Geltung zu verschaffen: FDP oder CDU/ CSU.


Die stärkste Partei


Die stärkste Fraktion muss nicht den Kanzler stellen. Die sozialdemokratischen Kanzler Brandt und Schmidt stützten sich meist auf eine Fraktion, die kleiner war als die der CDU/CSU.

Wenn Deutschland sich auf längere Sicht auf ein 5-Parteien-System einrichten muss, muss es sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass stets die stärkste Fraktion einer Koalition den Kanzler stellen muss. In der ersten deutschen Demokratie standen oft Kanzler der Regierung vor, deren Fraktion kleiner war als ihr Koalitionspartner. Gustav Stresemann z.B. führte eine große Koalition aus seiner deutlich kleineren Volkspartei und der SPD. Joseph Wirth und Wilhelm Marx waren Regierungschefs obwohl ihre eigene Zentrumspartei nicht die stärkste Kraft war.

Es kommt darauf an, wer vor dem Hintergrund des Wahlergebnisses am ehesten in der Lage ist, eine Regierung zu bilden. Heute sind das die SPD und ihr Kanzler.