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30.11.2005

Rede im Deutschen Bundestag vom 30. November 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz von der SPD-Fraktion.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD) - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Oh! Jetzt kommt der Aufschwung!)

Olaf Scholz (SPD):
Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat in ihren Eingangsbemerkungen darauf hingewiesen, dass sich einige Ideen der Regierungsbildung nach dem Internet richten sollen. Eine der Kategorien moderner Internetdebatten lautet Open Source: dass Programme gewissermaßen für jeden verfügbar werden, unabhängig von der Quelle.

(Jörg Tauss (SPD): Sehr gut!)

   Wenn wir das jetzige Regierungsprogramm betrachten, dann können wir Sozialdemokraten sagen: Darin sind viele unserer Programmquellen enthalten und wir sind einverstanden, dass in dieser Frage keine Urheberrechtsansprüche geltend gemacht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn über die Regierungsbildung diskutiert wird, geht es auch um die Frage, wie es zu dieser Koalition gekommen ist. Wer sich die Debatten der letzten Wochen oder auch die heutige anschaut, wird festgestellt haben: Ernsthafte Kritik daran, dass es nun zu einer großen Koalition gekommen ist, wird eigentlich von niemandem geäußert,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

auch nicht - das ist interessant - von den Parteien der Opposition.

   Die Grünen und ihre Wählerinnen und Wähler haben eingesehen, dass es für Rot-Grün nicht mehr gereicht hat und dass eine andere Konstellation mit drei Parteien nicht funktioniert. Die FDP hat gesagt, sie wolle für bestimmte Konstellationen nicht zur Verfügung stehen. Deshalb kann Sie nur einverstanden damit sein, dass es jetzt zu einer großen Koalition gekommen ist. Für die PDS/Linkspartei gilt Ähnliches. Sie wollte ohnehin mit niemandem regieren und niemand mit ihr. Insofern kann auch sie nicht kritisieren, dass es jetzt zur Bildung dieser Regierung gekommen ist.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das ist jetzt der Aufbruch! - Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

   Was mich etwas wundert, ist, dass das allgemeine Einverständnis über die Bildung dieser Koalition dazu führt, dass im Rahmen dieser Debatte über die Regierungserklärung nirgendwo ein richtiger Gegenentwurf gezeichnet worden ist.

(Zuruf von der FDP: Na, na, na!)

In den Beiträgen der Oppositionsredner - es gibt ja drei Oppositionsparteien ganz unterschiedlicher Richtung - konnte man an keiner Stelle hören, wie eine andere Linie aussehen sollte als die, die die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung vorgetragen hat, und als die, die im Koalitionsvertrag vereinbart wurde.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wie bitte? Ich glaube, Sie wollten es nicht hören! Sitzen Sie eigentlich auf Ihren Ohren?)

Meine Damen und Herren, dafür kann es viele Gründe geben. Einer der Gründe kann natürlich sein, dass wir es so falsch nicht gemacht haben. Ich plädiere für diese Antwort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wenn nach fast 40 Jahren erneut eine große Koalition gebildet wird, dann muss sie natürlich auch solche Aufgaben lösen, die nur im Rahmen einer großen Koalition lösbar sind.

Ich denke, das ist ein Maßstab, den sich eine solche Regierung setzen muss und dem sie auch genügen muss.
   Es gibt ein paar solcher Aufgaben, von denen nicht nur wir hier im Parlament, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land annehmen, dass sie zu lösen nur funktioniert mit der ganzen Kraft einer großen Koalition in diesem Parlament, aber auch den Möglichkeiten, die sie im Sinne von Überzeugungskraft in Richtung Länder hat. Ich denke, diese Aufgaben sind im Koalitionsvertrag benannt und es ist auch gesagt worden, wie man sie lösen kann.

   Das erste Thema ist die Reform der föderalen Ordnung. Wir alle wissen, dass sie notwendig ist; aber wir alle ahnen auch, dass es ganz schwierig ist, angesichts der verhakelten Situation eine Reform mehrheitsfähig zu machen - nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat. Es ist deshalb gut und richtig, dass die Koalition im Vertrag sehr viel Platz für dieses Reformwerk gelassen hat. Ja, wir wollen die Reform des Föderalismus in Deutschland gleich im ersten Jahr, noch bis zur Sommerpause zustande bringen. Dieses Werk sollten wir ab Januar angehen und wir sollten zeigen, dass wir das schaffen, dass diese Koalition das zustande bringen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Das zweite große Thema, das gerade in einer solcher Konstellation vorwärts bewegt werden kann und bei dem man zu Recht die Vermutung hat, anders ginge es wohl nicht, ist eine Weiterentwicklung des Beamtenrechts. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass das Berufsbeamtentum in Deutschland eine Zukunft hat und dass es die Aufgabe auch dieses Hauses ist, dafür zu sorgen, dass das Beamtenrecht und das Berufsbeamtentum - die zusammengehören - für die Zukunft weiterentwickelt werden.

   Drei Punkte in diesem Koalitionsvertrag spielen dabei eine große Rolle: Erstens sagen wir auch im Rahmen der Föderalismusreform: Es ist möglich, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums weiterzuentwickeln. Das werden wir machen und das ist die Voraussetzung für alle Reformen.

   Zweitens wollen wir zulassen, dass ein großer Teil des Beamtenrechts, insbesondere was Besoldungsfragen betrifft, entweder in den Ländern oder im Bund geregelt wird - immer genau da, wo es darauf ankommt; auch das ist etwas, was Modernisierung, was Weiterentwicklung möglich macht. Denn die bisherige Situation, dass sich16 Bundesländer und ein Bundesstaat einigen mussten, hat meistens dazu geführt, dass der eine auf den anderen verwiesen hat bei der Frage, warum er nichts gemacht hat. Das ist jetzt beendet und auch das ist ein Fortschritt - ein Fortschritt, den die sich Bürgerinnen und Bürger lange gewünscht haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Drittens gehört zur Reform des Beamtenrechts natürlich auch das eine oder andere, was wir jetzt unmittelbar in Angriff nehmen, indem wir bei den Besoldungsstrukturen des Bundes Anpassungen vornehmen, die sich an denen der Länder ausrichten.
   Das dritte große Thema, an dem sich eine solche Koalition beweisen muss, ist, dass wir es schaffen, das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme zurückzuerobern.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD)

Ich halte das für einen ganz wichtigen Punkt. Ich sage das auch mit einem Bekenntnis verbunden: Ich glaube, dass unsere traditionellen Institutionen Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung zu Recht eine so lange Tradition haben - das gilt für die ersten beiden - und dass es sich lohnt, dass sie auch in Zukunft weiter zu den wichtigsten Garanten von Sozialstaatlichkeit in Deutschland gehören. Das müssen wir jetzt und in dieser Koalition endgültig zustande bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wer als junger Mann oder junge Frau einen Vertrag abschließt mit der Rentenversicherung, mit der Krankenversicherung und auch mit der Pflegeversicherung, lässt sich auf einen Vertrag ein, der viele Jahrzehnte funktionieren muss: für den Einzahler wie für den Leistungsempfänger. Dieser Vertrag läuft länger als manche Ehe, auf alle Fälle viel länger, als Regierungen in Deutschland zu halten pflegen. Und der eine oder andere Regierungswechsel ist im Laufe der Jahrzehnte durchaus möglich. Insofern muss es unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen nicht vor einem Regierungswechsel fürchten, wenn es um die Grundbedingungen von Renten- und Krankenversicherung geht. Das ist eine Aufgabe, die sich wirklich lohnt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir sind bei der Rentenversicherung schon viel weiter, als die öffentliche Diskussion wahrgenommen hat: Von den Reformvorstellungen der Rürup-Kommission für die Regierung ist fast alles umgesetzt, und was noch fehlt, das traut sich die Koalition jetzt im Koalitionsvertrag.
Das finde ich richtig, weil das die Grundlage für Zutrauen und Vertrauen ist.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD)

   In der Frage der Krankenversicherung sind unter der letzten Regierung Fortschritte gemacht worden. Manches von dem, was wir uns in Bezug auf mehr Wettbewerb und mehr Kosteneffizienz vorgestellt haben, steht jetzt im Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen, die Frage, wie wir das Gesundheitssystem finanzieren, gemeinsam im nächsten Jahr zu beantworten. Ich betone: in einem Jahr. Angesichts der Tatsache, dass ein großer Streit vorausgegangen ist, der nicht vom Zaune gebrochen worden ist, sondern seine Ursache in den gewaltigen Problemen hinsichtlich Finanzierung und Zukunftsfähigkeit des bisherigen Systems hat, ist es eine ehrgeizige, aber lösbare Aufgabe, in einem Jahr eine Lösung zu suchen.

   Ich will zusammenfassen: Wenn es die große Koalition schafft, in einem Jahr eine Lösung für die Finanzierungsprobleme der Krankenversicherung zu finden, die beide Parteien über die Koalition hinaus auch in den nächsten Jahrzehnten weiter mittragen und die gesellschaftliche Akzeptanz hat, dann haben wir etwas Großes zustande gebracht. Ich bin sicher, wir werden das schaffen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Der vierte Punkt betrifft die Frage der Staatsfinanzen; dieses Thema ist schon angesprochen worden. Die Menschen erwarten, dass wir eine Lösung finden. Wir alle sollten so ehrlich miteinander sein, zu bekennen: Es wurde in diesem Zusammenhang von eigentlich allen Parteien in diesem Hause eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht; nur die Zusammensetzung des Cocktails war jeweils eine andere. Die Menschen denken, dass wir uns alle bei so manchem Punkt, der im Koalitionsvertrag steht, fast einig sind, dass wir aber nur deswegen nichts machen, weil wir es im politischen Wettstreit nicht hinbekommen. Wenn wir diese Punkte, etwa wenn es um den Abbau von Steuersubventionen geht, aufgreifen und sagen, diese Steuersubventionen schaffen wir ab, und zwar gemeinsam, weil wir alle das eigentlich immer richtig fanden, dann werden wir auf viel mehr Akzeptanz stoßen, als die FDP vermutet. Wir werden auf gesellschaftliche Unterstützung stoßen, weil jeder denkt, das war lange fällig, das musste gemacht werden und es ist gut, dass es jetzt geschieht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Zu einer Debatte über die Lage des Staatshaushaltes gehört immer Ehrlichkeit.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Überall!)

- Ja, überall. - Zur Ehrlichkeit gehört aber, dass man nicht nur sagt, wie es nicht geht, sondern dass man Vorschläge macht, wie es gehen soll. Es gibt die schlechte Mode, Entschließungsanträge zu schreiben; wir werden am Ende dieser Debatte drei Beispiele dazu zu bewältigen haben. Entschließungsanträge beziehen sich eigentlich auf Gesetzgebungsvorhaben, sind aber häufig eine reine Meinungsbekundung. So löst man kein Problem, weil man sich nicht wirklich zu dem bekennen muss, was man eigentlich will, und weil die Konzepte nicht aufgehen müssen.

(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE)
   Ich habe mir den Entschließungsantrag der FDP und den Entschließungsantrag von PDS/Linkspartei angesehen. Ich musste feststellen, dass darin eigentlich kein Vorschlag zur Lösung eines der genannten Probleme steht.
(Widerspruch bei der LINKEN - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie können nicht nur nicht hören, Sie können auch nicht lesen, Herr Kollege!)

   Ich bin außerdem sehr daran interessiert, herauszufinden, was Sie meinen. Ich jedenfalls habe große Zweifel, ob es wirklich in Ordnung ist - wie das die FDP vorschlägt -, bei den sozialen Sicherungssystemen bei dem, was hineinkommen muss, und dem, was herausgenommen werden muss, mehr zuzulangen und mehr zu sparen,

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ich dachte, wir schlagen nichts vor!)

ohne den Menschen zu sagen - das ist eine mögliche Übersetzung der rhetorisch groß vorgetragenen Rede von Herrn Westerwelle -, dass wir die Renten sofort und ordentlich kürzen, damit die Staatsfinanzen in Ordnung sind.

(Beifall bei der SPD - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das glauben Sie doch selber nicht!)

Ich finde, ohne diesen ehrlichen Zusatz ist die ganze Rede nur noch hohl. Davor sollte man sich als Politiker in Acht nehmen. Jetzt tritt eine Regierung ins Amt, die mit ihrer Mehrheit viele reale Taten zustande bringen wird. Daher kommt man mit hohlen Sprüchen nicht sehr weit. Ich rate zu mehr Ehrlichkeit.

(Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir werden noch ein paar Mal im Parlament über Ihre Taten debattieren!)

   Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen. Ich habe an den verschiedenen Beifallsbekundungen heute festgestellt, dass es gelegentlich Einigkeit zwischen FDP und PDS/Linkspartei gibt

(Widerspruch bei der LINKEN - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Jetzt schockieren Sie uns aber! Das geht zu weit, Herr Kollege! Jetzt ist Schluss! Bisher waren wir nett!)
- das werden Sie auch bleiben -,

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wo ist Platzeck?)

während an bestimmten Stellen auch zwischen Grünen und den beiden Koalitionsfraktionen Gemeinsamkeiten bestanden. Das hat etwas damit zu tun, dass sich die Vorstellung, was gerecht ist und was Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft ausmacht, bei den Regierungsparteien und bei unserem bisherigen Koalitionspartner auf diese Welt bezieht.
Gerecht kann nur sein, was auch möglich ist.

(Lachen bei der LINKEN)

   Was ist das "einig Uneinige" zwischen der FDP und der PDS/Linkspartei? Die FDP will, dass das mögliche Maß an Gerechtigkeit nicht verwirklicht wird, weil man auch darunter bleiben kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist doch völliger Unsinn!)

Die PDS/Linkspartei möchte das Unmögliche und hält das für gerecht.
   Beides ist falsch. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wie war das mit den hohlen Sprüchen? Das war jetzt aber sehr hohl! - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Und was ist mit uns?)