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15.11.2010

Rot-Grün, eine Reformbilanz und die offenen Baustellen

Beitrag für das Progressive Zentrum



Die gemeinsame Regierungszeit von Rot-Grün war eine sehr erfolgreiche Periode der Modernisierung und Liberalisierung unserer Gesellschaft. Die Fortschritte bei der Gleichstellung von Männern und Frauen, ein neues Familienbild, das neue Staatsangehörigkeitsrecht, die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, Antidiskriminierungspolitik, die ökologische Industriepolitik, der Atomausstieg, der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien, eine neuformulierte deutsche Außenpolitik zeugen davon. Sie gehören nun zum natürlich nicht ungefährdeten - Selbstverständnis unserer Republik.

Am Anfang stand ein Missverständnis

Und dazu zählen auch die Reformen des Sozialstaats, die lange für viel Aufregung sorgten. Die Debatte begann seinerzeit mit einem Missverständnis, denn es handelte sich um zwei große Vorhaben, die jedoch als eines wahrgenommen wurden:

Das eine war die Sanierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Es galt, eine veritable Anpassungskrise des in mehr als hundert Jahren gewachsenen Sozialstaates zu bewältigen. Insbesondere die demografische Herausforderung hatte die finanzielle Stabilität der Sozialversicherungen und der sozialstaatlichen Aufgabenwahrnehmung einem regelrechten Stresstest ausgesetzt. Es handelte sich dabei aber nicht um ein ideologisch motiviertes politisches Projekt, und ebenso wenig wie damals sollte man es jetzt dazu erhöhen. Die rot-grüne Regierung tat, was getan werden musste, um Einnahmen und Ausgaben wieder in Einklang zu bringen. Heute steht fest, dass wegen der Reformpolitik der rot-grünen Jahre die finanzielle Stabilität der traditionellen Sozialversicherungen wieder gewährleistet ist. Eine sozialstaatliche Perspektive ist für Deutschland wieder plausibel und wird nicht mehr derart in Frage gestellt, wie es vor den Reformen der Fall war.

Das zweite Projekt zielte auf die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit. Deutschland hatte sich seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in drei Jahrzehnten an die Arbeitslosigkeit eines großen Teils seiner Bevölkerung gewöhnt. In einer so sehr auf Arbeit gegründeten Gesellschaft wie der deutschen kann das auf Dauer nicht gut gehen. Eine demokratische Marktwirtschaft darf sich niemals mit Massenarbeitslosigkeit abfinden.

Daraus entstand das Anliegen, die Gesellschaft so zu organisieren, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potenziale und Möglichkeiten nutzen. "Empowerment" war deshalb zur neuen Herausforderung eines auf Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürgern ausgerichteten Gemeinwesens geworden.

Es ging zuvörderst um eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und damit verbunden eine viel bessere und intensivere Vermittlung von Arbeitsuchenden. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsförderung waren richtige Weichenstellungen.

Zu wenige Arbeitsvermittler

Allerdings: Der Ausbau der Vermittlung wurde nicht entschieden genug vorangetrieben. Viele Arbeitssuchende beschwerten sich zu Recht. Erst am Ende der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung 2009 waren annähernd so viele Arbeitsvermittler im Einsatz wie zu Beginn der Reform der Arbeitsvermittlung angekündigt. Und vom Erforderlichen ist Deutschland noch immer entfernt. Alle Untersuchungen belegen, dass sich ein Arbeitsvermittler nicht um mehr als 75 Arbeitsuchende zugleich kümmern kann, wenn eine maximale Integration des Arbeitspotentials in den Arbeitsmarkt gelingen soll. Das bleibt ein Auftrag für die Zukunft. Allerdings müssten fortschrittliche Parteien die Bedeutung einer exzellenten Arbeitsvermittlung als zentrales Anliegen einer Teilhabepolitik und der sozialen Marktwirtschaft anerkennen und nicht wie bisher gering schätzen.

Unnötige Verunsicherung

Und: Die rechtliche Absicherung der Arbeitsverhältnisse wurde unnötigerweise in Frage gestellt. Die (minimale) Lockerung des Kündigungsschutzes, der Ausbau der befristeten Beschäftigung und der Leiharbeit hatten nichts mit einer Aktivierungsstrategie zu tun. Individuelle Verunsicherung als ein Beitrag zur Aktivierung ist ein untaugliches Konzept. Die jüngste Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass kollektive Flexibilisierungsstrategien wie die Kurzarbeit ausgesprochen schlagkräftige Instrumente sind. Der einzelne Beschäftigte muss keineswegs seine Sicherheit verlieren, damit unsere Wirtschaft flexibel auf wirtschaftliche Störungen reagieren kann. So schafft etwa erst der Kündigungsschutz ein gesellschaftliches Modell, in dem es für Unternehmen unbedingt plausibel ist, auf sozialpartnerschaftliche Handlungsinstrumente wie die Kurzarbeit zu setzen.

Ein Mindestlohn ist als Untergrenze notwendig


Mit Sicherheit wären die anstrengenden Bestandteile der Arbeitsvermittlungsreform besser akzeptiert worden, wenn sie von vorneherein mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn verbunden gewesen wären. Der Mindestlohn tauchte zu spät in der politischen Debatte auf. Die SPD hatte zwar schon früh darüber diskutiert, aber die Umsetzung konnte erst in der Großen Koalition erfolgen und war dann mit der Union nur nach zähen Verhandlungen und branchenweise möglich. Zulange gab es hierzulande die Vorstellung, Löhne und Gehälter lägen allein in der Verantwortung der Tarifpartner. Das ist im Kern immer noch richtig, aber die extrem niedrigen Löhne in manchen Branchen zeigen, dass der Staat zumindest eine Lohnuntergrenze festschreiben muss.

Und es geht beim Mindestlohn um mehr als das Geld. Dass man seine Arbeit gut machen will, ist eine unverzichtbare Einstellung für die qualifizierte Arbeit in modernen Volkswirtschaften. Auf das Vorhandensein dieser Einstellung kommt es für den Erfolg unserer Volkswirtschaft mehr denn je an. Ein Versprechen muss unsere Gesellschaft aber jedem geben: Wer sich anstrengt, wer sich Mühe gibt, der kommt auch zurecht. Wer von morgens bis abends jeden Tag seiner Arbeit nachgeht, der muss am Monatsende davon leben können. Das entspricht den Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen unserer Arbeitskultur.

Bildung, Bildung, Bildung

Eine hoch effiziente Arbeitsvermittlung ist das eine Standbein des Empowerment-Konzeptes. Das andere Standbein ist eine effiziente Bildungs- und Qualifizierungsstrategie.

Bildung ist im deutschen Verfassungssystem Ländersache. Gleichwohl handelt es sich um ein Thema des ganzen Staates. Und deshalb waren die Initiativen der rot-grünen Bundesregierung zum Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen genau richtig. Über ihre unmittelbare Wirkung hinaus, haben sie die Debattenlage verändert. Der Einsatz für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen ist heute Mainstream. Und die Sozialdemokraten haben mit dem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr bis zur Einschulung, diesen Weg sogar in der anschließenden Großen Koalition fortsetzen können. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Lage nach wie vor zu größter Sorge Anlass gibt. Mehr als 60 000 junge Leute verlassen jedes Jahr die Schulen ohne Abschluss. Ein Fünftel der jungen Generation bleibt ohne Berufsabschluss. Doch wer ohne Berufsabschluss ist, hat auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen. Künftig noch weniger als bisher schon. Deshalb gehört Qualifizierung zu einer auf Aktivierung ausgerichteten Arbeitsmarktstrategie. Die Notwendigkeit massiver Qualifizierungsangebote war anfangs bei den Reformen nicht genügend beachtet worden, wurde aber von sozialdemokratischen Arbeitsministern bis zum Ende der anschließenden Großen Koalition entschieden vorangetrieben. Ein nicht nur symbolischer Erfolg war der Rechtsanspruch für Arbeitslose auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses.

Klempner in Detmold

Zu recht wird oft darüber gesprochen, dass in jeder Generation immer größere Teile hohe Schulabschlüsse erreichen und studieren müssen, damit unser Land die Herausforderungen der Zukunft meistern kann. Aber auch in dieser Zukunft wird es für die meisten darauf ankommen, einen klassischen Berufsabschluss zu erwerben. Möglichst niemand sollte ohne bleiben. Im 19. Jahrhundert klagte der Dramatiker Christian Dietrich Grabbe: "Einmal auf der Welt, und dann ausgerechnet als Klempner in Detmold". Ich bin ganz anders als Grabbe der Meinung, dass diese berufliche Perspektive nicht schlecht ist.

Das bleibt zu tun

Die Arbeitsvermittlung und die Qualifizierung zu verbessern sind noch lange nicht erledigte und schon deshalb fortwährende Aufgaben rot-grüner Reformpolitik. Sich an diese Aufgaben zu machen, ist der zugleich humanistische und wirtschaftlich vernünftige Gegenentwurf zu konservativ-liberalen Deregulierungsvorstellungen. Empowerment ist eine dauernde Aufgabe im Sozialstaat.