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13.08.2021

Scholz: Wir brauchen eine Gesellschaft auf Augenhöhe

SPIEGEL: Herr Scholz, die Entschuldigung beim Wähler – das scheint in diesem Wahlkampf das große Thema zu sein. Annalena Baerbock hat sich schon mehrfach entschuldigt, Armin Laschet musste sich entschuldigen, wann sind Sie an der Reihe?

Scholz: Wofür sollte ich das Ihrer Meinung nach tun?

SPIEGEL: Sie könnten sich zum Beispiel für den Spot Ihrer Partei entschuldigen, in dem der nordrhein-westfälische Staatskanzleichef Nathanael Liminski als »erzkatholischer Laschet-Vertrauter« bezeichnet und insinuiert wird, dass für die Laschet-CDU Sex vor der Ehe tabu sei.

Scholz: Für mich gelten klare Grundsätze: Wir treten für eine liberale und offene Gesellschaft ein. Jeder und jede muss in diesem Land nach seinen Vorstellungen leben können. Zu unserem Land gehören natürlich auch die christlichen Werte, an denen sich viele orientieren, ich auch. Der Spot wird nicht mehr genutzt.

SPIEGEL: Haben Sie das Video vorher gesehen?

Scholz: Der Spot ist im Willy-Brandt-Haus entwickelt und einmal gezeigt worden.

SPIEGEL: Bei der Präsentation Ihrer Wahlkampagne. Haben Sie ihn abgesegnet?

Scholz: Wenn ich für solche Freigaben die Zeit hätte, würde ich etwas falsch machen. Das macht unser Kampagnenmanager, und er macht das sehr gut.

SPIEGEL: Ist es fair, dass die Fehler ihrer Wettbewerber Baerbock und Laschet im Wahlkampf eine so große Rolle spielen?

Scholz: Die Frage könnte ich Ihnen zurückgeben. Ich jedenfalls fand manches ein wenig übertrieben, was da öffentlich diskutiert wurde.

SPIEGEL: Aber?

Scholz: Da hilft kein Lamentieren. Wer die nächste Bundesregierung führen und die Verantwortung für das größte Land der Europäischen Union übernehmen will, wird auf Herz und Nieren geprüft, ob er oder sie das Zeug dazu hat. Von den Bürgerinnen und Bürgern, aber natürlich auch von den Medien. Das ist auch richtig so, denn der Druck im Wahlkampf ist doch nur ein Vorspiel zu den Herausforderungen, denen man im Amt begegnet. Da hat man es dann plötzlich mit Flutkatastrophen oder einer Pandemie zu tun, die in keinem Wahlprogramm standen. Dann stehen Sie noch ganz anders im Blickpunkt der Öffentlichkeit.

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass der Wahlkampf bisher vor allem von Nebensächlichkeiten dominiert wird? Die großen Fragen wie Klimawandel, Rente oder soziale Gerechtigkeit scheinen kaum eine Rolle zu spielen.

Scholz: Ist das wirklich so? Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich die wichtigen Dinge, die die Zukunft unseres Landes betreffen, schon seit mehr als einem Jahr immer wieder anspreche.

SPIEGEL: Zum Beispiel?

Scholz: Die Frage, wie wir das Miteinander in der Gesellschaft verbessern können. Ich spreche über Respekt und darüber, dass wir eine Gesellschaft brauchen, in der wir einander auf Augenhöhe begegnen. Wir müssen für bessere Löhne sorgen, für die Lebensmittelverkäuferin, den Paketboten, die Altenpflegerin und den Krankenpfleger. Das alles ist wichtig, auch wenn wir den Populismus zurückdrängen wollen. Aber das ist längst noch nicht alles.

SPIEGEL: Damit hatten wir auch nicht gerechnet.

Scholz: Es geht um die Antwort auf die Frage, wie wir unsere wirtschaftliche Zukunft in den nächsten drei Jahrzehnten sichern. Seit 250 Jahren basiert unser Wohlstand auf der Nutzung von Kohle, Öl und Gas. Nun wollen wir in nicht mal 25 Jahren komplett klimaneutral wirtschaften. Schon im ersten Jahr der nächsten Regierung müssen wir das größte Modernisierungsprojekt unser Industrie seit mehr als 100 Jahren anschieben. Die Union ist da ein Totalausfall. Um es klar zu sagen: Eine weitere Regierung unter Führung von CDU und CSU würde Deutschland Wohlstand und Arbeitsplätze kosten.

SPIEGEL: Das klingt so, als hätten die Sozialdemokraten in den letzten vier Jahren nicht zusammen mit der Union regiert.

Scholz: Den Ausbau der erneuerbaren Energien, den Ausstieg aus der Nutzung von Atom und Kohle und das Klimaschutzgesetz hat die SPD vorangetrieben. Leider haben sich CDU und CSU beharrlich geweigert, die Ausbauziele für die Stromerzeugung anzuheben. Sie haben sogar behauptet, wir bräuchten gar keine höheren Ausbauziele. In der Sommerpause hat der zuständige Minister dann plötzlich eingestanden, dass seine bisherige Planung vorne und hinten nicht hinhaut. Allein die Chemieindustrie braucht um das Jahr 2050 herum so viel Strom wie Deutschland insgesamt heute nutzt, weil wichtige Prozesse auf Strom umgestellt werden müssen. Und schon 2030 brauchen wir viel mehr Strom als bislang unterstellt. Jahrelang ist aber die Planung neuer Windkraft- und Solaranlagen verzögert worden, weil es hieß, man brauche sie nicht. Ein Offenbarungseid, wenn sie mich fragen.

SPIEGEL: Und doch spielen diese Themen in der öffentlichen Auseinandersetzung kaum eine Rolle. Warum?

Scholz: Ich setze darauf, dass diese Themen in der heißen Phase des Wahlkampfs relevant werden. Die wachsenden Zustimmungswerte zu mir als Person und auch zu meiner Partei zeigen doch, dass die Bürgerinnen und Bürger sehen, dass wir klare Vorstellungen für die Zukunft unseres Landes haben.

SPIEGEL: Es stimmt, dass Sie als Kandidat im Vergleich zu Ihren Wettbewerbern in den Umfragen vorne liegen. Aber auf die SPD scheint Ihre Beliebtheit nicht so richtig abzufärben.

Scholz: Ich bin nicht sicher, ob ihre Beobachtung stimmt. Schauen Sie ruhig mal auf die aktuellen Umfragen. Viele Bürgerinnen und Bürger können sich offenbar vorstellen, dass ich die nächste Regierung führe. Dieses Vertrauen berührt mich sehr, das gebe ich gerne zu. Wer Scholz will, wählt SPD. Wir spüren ein Momentum, und da geht noch mehr.

SPIEGEL: Ihr Optimismus in allen Ehren – in Wahrheit liegt die SPD selbst nach leichten Zugewinnen nur bei 18 Prozent. Das wird nicht reichen, um die nächste Regierung zu führen.

Scholz: Sechs Wochen sind es noch bis zur Bundestagswahl und ein paar Prozente mehr, und es reicht. So wie es für die Sozialdemokraten in Dänemark, Schweden und Finnland gereicht hat. Es ist durchaus realistisch, dass die SPD die Wahl gewinnt.

SPIEGEL: Eine Civey-Umfrage zu Ihrem Politikstil trägt die Überschrift »Mr. Fachkenntnisse, sonst nicht viel«. Warum? Weil 38 Prozent der Befragten Ihnen zwar Fachkenntnisse bescheinigen, aber sonst nicht viel mehr. Nur elf Prozent glauben zum Beispiel, dass Sie eine langfristige Vision hätten.

Scholz: Insgesamt kann ich mich nicht beschweren, was Umfragen angeht. Meine wichtigsten Umfragen sind im Übrigen meine täglichen Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern. Und da gibt es sehr viele, sehr positive Rückmeldungen, weit über die SPD hinaus. Da bekomme ich ein gutes Gefühl dafür, wie die Dinge laufen, und im Moment läuft es ganz gut für uns.

SPIEGEL: Nur ein Drittel der Wähler glaubt, dass Sie Kanzler werden könnten.

Scholz: Schön ist doch, dass die Mehrheit mich bei einer Direktwahl vorne sieht, das finde ich viel entscheidender.

SPIEGEL: Auch wenn die meisten Befragten auf die Frage nach dem Kandidaten antworten: »keiner der drei«? Damit spielt dann doch die Parteipräferenz wieder die größte Rolle. Und da haben Sie das Pech, für die unbeliebte SPD anzutreten.

Scholz: Entschuldigung, es ist für mich eine große Ehre, für die Sozialdemokraten anzutreten. Ich bin schon mit 17 SPD-Mitglied geworden. Die Partei hat nach dem Zweiten Weltkrieg mit Willy Brandt und Helmut Schmidt zwei großartige Kanzler gestellt und 1998 mit Gerhard Schröder erneut das Kanzleramt erobert und unser Land nach vorne gebracht. Aber die Zeiten haben sich geändert. Bei dieser Wahl wird selbst die erfolgreichste Partei wohl nur etwas mehr als 20 Prozent erringen. Ich glaube, dass wir diese Partei sein könnten.

SPIEGEL: Leiden Sie eigentlich am Helmut-Schmidt-Syndrom? Über den hieß es auch: Guter Kandidat, falsche Partei.

Scholz: Helmut Schmidt hat mehrere Wahlen für die SPD gewonnen.

SPIEGEL: Sie wissen, worauf wir hinauswollen. Die SPD-Mitglieder haben Sie Ende 2019 als Parteivorsitzenden durchfallen lassen. Und jetzt wollen Sie die Menschen davon überzeugen, dass ausgerechnet Scholz die SPD ist und die SPD Scholz?

Scholz: Wir hatten nach der Bundestagswahl 2017 eine schwierige Lage, weil die FDP vor der Regierungsverantwortung davongelaufen ist. Die SPD ist dann unter großen Mühen noch einmal in die Große Koalition gegangen. Das war damals nicht einfach. Heute sind die Sozialdemokraten froh darüber und viele andere auch. In der Pandemie haben wir finanziell stark gegengehalten, um die Gesundheit zu schützen, Unternehmen zu stützen und Arbeitsplätze zu sichern. Die Kurzarbeit hat mehr als zwei Millionen Jobs gerettet. Das wäre ohne Regierungsbeteiligung der SPD nicht gelungen. Auch die gemeinsame europäische Antwort, das EU-Wiederaufbauprogramm, hätte es ohne uns nicht gegeben.

SPIEGEL: Aber noch einmal: Der Mann, den die Partei als Vorsitzenden nicht haben wollte, soll nun für sie ins Kanzleramt einziehen. Diesen Widerspruch müssen Sie erklären.

Scholz: Das ist kein Widerspruch. Ich bin froh, dass ich 2019 angetreten bin. Schon die Regionalkonferenzen im ganzen Land zeigten damals: Wir gehören zusammen. Die Zusammenarbeit mit den Vorsitzenden, dem Fraktionschef und dem Generalsekretär ist topp. Selbst wer mich seinerzeit nicht unterstützte, ist sich jetzt sicher, dass ich der richtige Kanzler wäre. Das haben die einstimmigen Entscheidungen auf Vorschlag der Parteichefs in den Gremien und das nahezu einstimmige Votum des Parteitags gezeigt.

SPIEGEL: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben damals die Mitgliederbefragung gegen Sie gewonnen. Wie ist Ihr Verhältnis zu den beiden Parteivorsitzenden?

Scholz: Eng und vertrauensvoll. Wir sprechen uns sehr intensiv ab. Die SPD hat auch in schwierigen Zeiten gezeigt, dass das geht. Denken Sie an die legendäre Zusammenarbeit von Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Die waren sich nun wirklich nicht immer einig, wussten aber immer, was ihre Aufgabe ist.

SPIEGEL: Saskia Esken hat angekündigt, im Dezember erneut für den Parteivorsitz zu kandidieren. Hat Sie Ihre Unterstützung?

Scholz: Absolut. Die Zusammenarbeit ist sehr gut.

SPIEGEL: Ist Frau Esken ministrabel?

Scholz: In der SPD sind viele ministrabel, die Führungsaufgaben in der Fraktion oder der Partei wahrnehmen, die Vorsitzenden selbstverständlich auch.

SPIEGEL: Welche Voraussetzungen müssen da sein, damit Sie Kanzler werden können?

Scholz: Ein starkes Votum für die SPD. Und natürlich eine Koalition. Das wird aller Voraussicht nach ein Dreierbündnis sein.

SPIEGEL: Der Auftrag für eine Regierungsbildung würde zuerst an die stärkste Partei gehen. Und das dürfte kaum die SPD sein.

Scholz: Lassen Sie doch erst einmal die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Selbst auf Platz zwei kann man Kanzler werden. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik schon häufiger gegeben.

SPIEGEL: Um Kanzler zu werden, brauchen Sie vermutlich die FDP. Warum sollten die Liberalen mit Ihnen koalieren?

Scholz: Solche Spekulationen vor einer Wahl irritieren die meisten Bürgerinnen und Bürger. Weil sie das Gefühl bekommen, nicht sie würden über die neue Regierung entscheiden, sondern die Funktionäre der Parteien oder die Journalisten in Berlin. Es ist gefährlich, wenn der Eindruck entsteht, es handele sich hier um ein Spiel. Und weil sie die FDP ansprechen: Deren Entscheidung gegen Jamaika 2017 war ja nicht nur ein Problem der FDP und ihres Vorsitzenden.

SPIEGEL: Sondern?

Scholz: Nach meinem Eindruck haben Union und Grüne damals zu zweit verhandelt und gedacht, die FDP brauche nur noch zu unterschreiben. Das war nicht klug und kein Ausweis besonderer Regierungskunst.

SPIEGEL: Wo sehen Sie eine Schnittmenge mit der FDP?

Scholz: Es gibt eine lange sozialliberale Tradition in Deutschland. Meine Jugend war geprägt von der Kanzlerschaft Brandts und Schmidts von 1969 bis 1982. Beide haben mit der FDP regiert, und diese Zeit hat dem Land gut getan. Als Regierungschef müssen Sie politische Kompromisse organisieren, die plausibel, erklärbar und gut für unser Land sind.

SPIEGEL: Fragt sich, wie Sie zum Beispiel beim Thema Steuern einen Kompromiss mit den Liberalen hinbekommen könnten. Sie wollen Steuern für Großverdiener erhöhen, die FDP will Steuern grundsätzlich senken. Wie soll das gehen?

Scholz: Zerbrechen Sie sich mal nicht meinen Kopf. Wir stehen längst noch nicht in Koalitionsverhandlungen. Aber die Position der SPD ist klar. Ende 2022 wird der deutsche Staat wohl mehr als 400 Milliarden Euro zusätzlicher Kredite aufgenommen haben. Die müssen in den nächsten 20 Jahren zurückgezahlt werden. Da wäre es unverantwortlich, die Steuern für Leute zu senken, die so viel verdienen wie ich oder sogar noch mehr. Es wäre auch nicht finanzierbar.

SPIEGEL: FDP-Chef Christian Lindner hat sich weitgehend auf eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen festgelegt. Und er verteilt auch schon die Ressorts.

Scholz: Schön, dass Sie es ansprechen. Das wollte ich nämlich mal loswerden: Offenbar ist es Mode geworden, im Tagesrhythmus neue Ministerien zu erfinden, statt zu sagen, worum es inhaltlich eigentlich gehen soll. Und dann gibt es auch schon die ersten, die sagen, welche Jobs sie dann haben wollen.

SPIEGEL: Lindner zum Beispiel will Sie als Finanzminister beerben.

Scholz: Und ich will den Job von Frau Merkel. Passt also. Aber mal im Ernst – ich finde, da sollte manch einer mehr Demut zeigen. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden am 26. September.

SPIEGEL: Wie ist Ihr Verhältnis zu Christian Lindner?

Scholz: Gut. Wir brauchten als Regierungskoalition mit einer knappen Mehrheit häufig die Zustimmung der Oppositionsparteien, wenn wir die Verfassung ändern wollten. Ich habe mehrere solcher Änderungen mit Grünen, Linken und der FDP, also auch mit ihm besprochen, und das zeigt: Es kommt immer auf den politischen Gestaltungswillen an.

SPIEGEL: Zu den Grünen ist die alte Liebe abgekühlt. Annalena Baerbock und Robert Habeck setzen eher auf ein Bündnis mit der Union. Aber für eine Dreierkoalition wären Sie zwingend auf die Grünen angewiesen.

Scholz: Das sehe ich ganz entspannt. Zum 30. Jubiläum der Grünen habe ich seinerzeit eine Rede gehalten und zu dieser Frage etwas gesagt, was ich hier gerne wiederhole: »Die Grünen sind nicht Fleisch vom Fleische der SPD. Und wenn wir mit schlechtem Gewissen mit der Union koalieren können, können die Grünen das auch.« Ich glaube, diese Sätze waren wichtig und sind dort auch gut angekommen.

SPIEGEL: Das klingt so, als rechneten Sie selbst mit Schwarz-Grün.

Scholz: Keineswegs. Im Gegenteil. Ich habe mich immer für Rot-Grün eingesetzt. In Hamburg habe ich mit den Grünen regiert, auf Bundesebene war ich Generalsekretär zu Zeiten von Rot-Grün. Die Grünen sind eine eigenständige Partei mit eigenen politischen Vorstellungen und kein Ableger der SPD. Das zu sagen, gebietet der Respekt, den ich auch in dieser Hinsicht für eine Tugend halte.

SPIEGEL: Herr Scholz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.