Die Welt: Die Bundestagswahl steht vor der Tür, Zeit für eine Bilanz: Was fanden Sie am Wahlkampf am interessantesten, Herr Scholz?
Olaf Scholz: Die vielen intensiven Gespräche mit Bürgern. Sie stellen viele Fragen und beschäftigen sich mit den Programmen. Ich rechne deshalb auch mit einer ordentlichen Wahlbeteiligung.
Welt: Und was fanden Sie am spannendsten, Herr Fischer?
Dirk Fischer: Wie die Moderatoren im Fernseh-Duell mit den beiden Spitzenkandidaten klar kommen mussten, die sich nicht von ihrer Strategie abbringen lassen wollten.
Welt: Hat das TV-Duell noch den Wahlkampf befeuern können?
Fischer: Ja, schon. Das Problem ist ja: In der Krise verlangen die Leute, dass wir uns zusammenraufen und die Probleme gemeinsam lösen. Wenn wir das aber tun, sagen viele, dass sei langweilig und habe keinen Unterhaltungswert. Wie wir es auch machen, es ist aus der Sicht der Presse immer falsch.
Welt: Aber Sie wollen beide die Große Koalition beenden und jeweils den Kanzler stellen.
Fischer: Das stimmt, wir wollen eine Koalition mit der FDP bilden.
Scholz: Für mich hat das TV-Duell gezeigt, dass der Respekt vor den Wählern mehr als angezeigt ist. An der wachsenden Zustimmung für meine Partei und für Frank-Walter Steinmeier sieht man, dass man mit Argumenten auch weiterkommen kann.
Welt: Wenn Sie ihren Wahlkampf rekapitulieren, welches Thema war für die Bürger an den Ständen das beherrschende gewesen?
Scholz: Viele Bürger machen sich Sorgen über die Entwicklung der Wirtschaft. Das ist leider auch begründet, denn trotz unseres massiven Kurzarbeitprogramms wird die Arbeitslosigkeit weiter steigen, wenn auch nicht so stark, wie einige vorhergesagt haben.
Fischer: Erstens, wie wollt ihr die Finanzmärkte national und international so regulieren, dass dieses nicht noch einmal passiert. Und zweitens, was tut ihr, um aus der Krise herauszukommen. Denn das ist die Bedingung für alles, was wir uns im Wahlprogramm vorgenommen haben.
Scholz: Ich glaube, eines ist klar: Wir brauchen strikt regulierte Finanzmärkte, denn eine solche Krise darf sich nicht wiederholen. Es darf jetzt nicht bei Sprüchen bleiben, wir müssen die Regelungen, die jetzt verabredet werden, auch umsetzen.
Fischer: Einiges haben wir in der Großen Koalition schon geregelt, wenn ich an die Frage der Aktienoptionen oder der Regeln für Managervergütungen denke. Aber um den Standort Deutschland nicht zu schwächen, brauchen wir vor allem internationale Abkommen.
Scholz: Ja, es hat Fortschritte gegeben. Ich könnte mir aber noch mehr vorstellen - zum Beispiel, dass die Boni nicht höher sind als das Festgehalt. Oder dass eine Abfindung, die eine Million übersteigt nicht als Betriebsausgabe verbucht werden kann, sondern als Gewinn versteuert wird.
Fischer: Je einseitiger wir national zugreifen, desto stärker provozieren wir die Institute, ihre Hauptsitze an andere Standorte zu verlagern. Wir brauchen beides: Nationale und internationale Regelungen.
Welt: Herr Fischer, Sie setzen sich ja leidenschaftlich für die nationale und internationale Kontrolle der Finanzmärkte ein. Warum sperren Sie sich eigentlich so sehrgegen einen Mindestlohn, der vielen schlecht verdienenden Menschen konkret helfen würde?
Fischer: Wir sind entschieden dafür, dass wir die Tariffindung bei den Tarifparteien lassen und nicht verstaatlichen. Wir brauchen eine branchenmäßige und regionale Differenzierung. In Görlitz zu leben ist deutlich günstiger als in Hamburg. Deshalb ist die Angemessenheit von Lohn nicht schematisch über alle Bereiche der Bundesrepublik zu beurteilen. Wir wollen, dass man von einem vollen Einkommen anständig leben kann, daher sind wir für ein Mindesteinkommen für alle. Es kann aber mal sein, dass ein Kombi-Lohn Sinn macht, bei dem der Staat aufstockt. Das ist für Staat und Sozialversicherung wesentlich billiger, als die Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Welt: Herr Scholz, das klingt doch plausibel, regionale Unterschiede zu berücksichtigen?
Scholz: Ich höre Herrn Fischer gerne zu, wenn er über Mindestlöhne spricht, denn für mich ist das der eigentliche Erfolg: Der Vertreter der Partei, die sich in den vergangenen Jahren gegen jeden einzelnen Mindestlohn, der jetzt gesetzlich möglich ist, gesperrt hat, findet ihn auf einmal gut. Da können Sie meine Heiterkeit sicher verstehen.
Fischer: Da unterstellen Sie mir etwas, das nicht zutrifft, ich war immer zum Beispiel für den Mindestlohn im Baugewerbe...
Scholz: Ja, großartig...
Fischer: Bitte lasten Sie mir nicht an, was Sie anderen anlasten mögen.
Scholz: Ein paar Fakten zum Thema: Wir haben Ende dieses Jahres rund vier Millionen Arbeitnehmer, die durch Mindestlöhne geschützt sind. Zum einen auf Basis des Entsendegesetzes, und zum anderen auf Basis des Mindestarbeitsbedingungengesetzes, das wir modernisiert haben. Den Weg müssen wir weitergehen. Für mich ist das ein Erfolg: Innerhalb weniger Jahre haben wir das Tabu in Deutschland aufgebrochen, dass es keine Mindestlöhne geben soll. In dem Jobcenter, das in meinem Wahlkreis für Lurup und Osdorf zuständig ist, stockt fast ein Viertel der Leistungsbezieher den Lohn auf. Das zeigt, dass einige Tätigkeiten viel zu niedrig bezahlt werden. Wer arbeitet, muss seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten können, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein.
Fischer: Es ist für Menschen besser, einen Kombilohn zu erhalten, als arbeitslos zu sein. Wir haben der SPD angeboten, Einkommen, das unter dem Hartz-IV-Satz liegt, als sittenwidrig zu verbieten. Aber das wollte die SPD nicht.
Scholz: Sie schwindeln ein bisschen, was die Frage der Sittenwidrigkeit betrifft. Solche Löhne sind bereits heute verboten. Wir wollten festlegen, dass Sittenwidrigkeit da anfängt, wo weniger bezahlt wird als die Grundsicherung für Arbeitssuchende. Das war der Union dann aber wieder zu hoch.
Welt: Vielleicht können wir das mal ganz kurz an einem Beispiel festmachen: Reinigungskräfte in Hotels gehen teilweise mit drei Euro in der Stunde nach Hause. Was würden Sie nach der Wahl in ihrer jeweiligen Wunschkonstellation für diese Menschen tun?
Fischer: Das würde von einer CDU-geführten Bundesregierung als sittenwidrig verboten werden. Wir wollen nicht zulassen, dass Arbeitgeber dem Staat bewusst aufbürden ergänzende Leistungen zu zahlen.
Scholz: Statt, wie bisher wirkungslos Gerichte das Wort "sittenwidrig" interpretieren zu lassen, hilft uns für solche Tätigkeiten ein klarer verbindlicher Mindestlohn. Wir sind eines der ganz wenigen Länder in der Welt, das seine Arbeitnehmer vor so einer Ausbeutung nicht beschützt.
Fischer: Da müssen Sie auch sehen, wie hoch oder niedrig dieser Lohn ist, zum Beispiel in den USA...
Scholz:... ist der Mindestlohn bei 7,40 Dollar und steigt gerade an.
Fischer: Das ist mit umgerechnet rund 5 Euro aber weniger, als Sie fordern.
Scholz: Und doch eine Summe, die ihnen trotzdem zu hoch ist.
Welt: Sie konnten damit der CDU einen Teil ihrer Forderungen im Mindestlohnbereich umsetzen. Mit der FDP, mit der Ihr Partei ja auch liebäugelt, wäre das wohl ausgeschlossen gewesen. Ist es nicht klüger, dass Sie sich für eine Fortsetzung der Großen Koalition entscheiden würden?
Scholz: In einer schwarz-gelben Koalition gäbe es keinen einzigen neuen Mindestlohn. Die FDP hat angekündigt, Stück für Stück jeden Mindestlohn im Häuserkampf wieder abzuschaffen, der eingeführt worden ist. Ob ich meine wirtschaftspolitischen Vorstellungen mit der CDU/CSU oder mit der FDP verhandele, macht keinen wirklichen Unterschied, es kommt auf etwas ganz anderes an. Gestatten Sie mir, den Slogan einer anderen Partei zu klauen: Wir haben die Kraft.
Fischer: Es ist abenteuerlich, solche Unterstellungen zu produzieren, und daraus unbegründete Dinge abzuleiten. Das gehört in den Bereich der üblen politischen Nachrede.
Scholz: Herr Fischer, wenn Sie noch länger über Mindestlöhne reden, dann wählen manche CDU-Wähler nicht mehr Sie, sondern die FDP.
Fischer: Herr Scholz, ich verstehe Ihre Unruhe, die hat Gründe. Wir werden die geschaffenen Instrumente, auch mit einem Koalitionspartner FDP, dort nutzen, wo Anlass dazu besteht. Die Arbeitgeberverbände wirken auch daran mit, denn es gibt in jeder Branche Arbeitgeber, die darunter leiden, dass es schwarze Schafe gibt. Schwarz-Gelb wird immer als Schreckgespenst dargestellt. Drei Viertel der Bevölkerung haben in ihren Ländern schwarz-gelbe Landesregierungen. Eine schwarz-gelbe Regierung im Bund kann ich nur als Segen für den Wiederaufschwung betrachten.
Scholz: Alles, worüber wir bisher diskutiert haben, wird nicht in den Ländern entscheiden, sondern im Deutschen Bundestag. Wir haben Milliarden ausgegeben, um die Konjunkturkrise zu bekämpfen. Wir werden zusätzliche Schulden in der Größenordnung von einhundert Milliarden Euro machen. In den nächsten beiden Legislaturperioden wird die Hauptaufgabe sein, diese Schulden wieder zurückzuführen. Für Steuersenkungen für Leute mit hohem und sehr hohem Einkommen ist da kein Spielraum.
Fischer: Aber jetzt sind Sie wieder beim berühmten Scholzomat. Sie tragen immer wieder Versatztücke vor, obwohl die falsch sind. 2009 und 2010 machen wir 134 Milliarden Euro neue Schulden. Sie stellen das so dar, als sei dies die Verschuldung nur eines Jahres, um das noch dramatischer aussehen zu lassen. Die Große Koalition hat in die Krise eine Steuerentlastung der Bürger von über 20 Milliarden Euro beschlossen. Wenn Ihre These richtig wäre, hätten wir das gar nicht machen dürfen. Wir wollen versuchen, beim Wachstum eine Kehrtwende zu schaffen, um dann neue Spielräume zu haben. Dann können wir eine Steuerstrukturreform und eine maßvolle Netto-Entlastung machen.
Scholz: Sie loben die Krisenbekämpfung der Großen Koalition zu Recht, das haben wir gut gemacht. Wir haben dafür aber massiv neue Staatsschulden gemacht. Das musste leider sein. Aber wenn die Krise vorbei ist, müssen wir daran denken, diese Schulden zurückzuzahlen. Steuersenkungsversprechen glaubt da niemand. Die Bürgerinnen und Bürger sind doch nicht dumm.
Welt: Besteht nicht die Gefahr, dass die Krise erst im kommenden Jahr erst richtig los geht?
Scholz: Bisher gehen alle, die sich damit beschäftigen, davon aus, dass wir im nächsten Jahr wieder nach vorne schauen können. Die weltweite Konjunkturkrise wird mit einem massiven Eingreifen von vielen Staaten bekämpft. Wir haben, darauf bin ich als sozialdemokratischer Arbeitsminister stolz, die Kurzarbeit eingesetzt. Die OECD empfiehlt das jetzt weltweit.
Fischer: Wir sind nicht aus der Krise heraus. Es gibt keinen Grund für eine Entwarnung. Wir hatten im ersten Quartal 2009 im Vergleich zum Vorjahr ein Minus von 6,9 Prozent beim Wachstum. Der höchste Wert war zuvor minus 0,9 Prozent in der ersten Ölkrise. Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass das niedrige Niveau vielleicht noch drei oder vier Jahre bleibt. Dann gäbe es viele Firmen, die das nicht mehr durchstehen.
Scholz: Was wir wirklich hinbekommen müssen, ist, dass die Praxis der Kreditvergabe der Banken besser wird. Viele Unternehmer sagen uns, dass sie nur noch sehr schwer Kredite von den Banken erhalten. Wir haben mit dem Wirtschaftsfonds Deutschland Mittel bereitgestellt, damit die Unternehmen durch die Krise kommen. Aber wir müssen Druck machen, damit die Banken die Kreditversorgung unserer Volkswirtschaft gewährleisten.
Welt: In jüngeren Umfragen steigt die Beliebtheit des Modells der Großen Koalition. Vielleicht weil die Bürger ein Gespür dafür haben, dass die Krise nicht vorbei ist. Warum wollen Sie diese Koalition nicht mehr?
Fischer: Wir wollen eine Koalition mit der FDP, weil wir denken, dass wir die notwendigen Strukturentscheidungen mit dieser Partei besser hinbekommen. Eine Große Koalition wollen wir beide nur als Ausnahme haben. Als CDU hätten wir in einer Großen Koalition außerdem einen Partner, der in den Ländern schon mit rot-rot-grün liebäugelt. Seitens der SPD noch mit der "Ampel" als Option zu spielen, unterstellt der FDP den Wortbruch - das ist eine Zumutung.
Scholz: Vielleicht ein Wort zu Herrn Fischer: Ich bin gelangweilt. Ich liebäugele nicht mit der Partei Die Linke, wie sie da gerade unterstellen. Wir haben in den letzten vier Jahren kein einziges Mal daran gedacht, geschweige denn damit gedroht, eine solche Konstellation zu probieren, nur weil sie rechnerisch möglich gewesen war.
Fischer: Aber Herr Scholz, Sie machen es in Berlin, im Saarland, Sie werden es in Thüringen machen und anderswo. Das schafft in Ihrer Partei auch ein anderes Bewusstsein.
Scholz: Wenn Sie Parteienforscher werden wollen, statt CDU-Abgeordneter, dann müssen Sie mehr von der SPD verstehen. Wir liebäugeln nicht mit den Linken. Das ist ein Schreckgespenst, mit dem Wähler mobilisiert werden sollen, aber unsere Positionierung ist klar. Deshalb haben wir auch ins Wahlprogramm geschrieben, dass wir diese Konstellation ausschließen.
Fischer: Wir sind in höchstem Maße irritiert in dieser Frage, auch, weil Sie versucht haben, mit Hilfe der Linken einen sehr populären Bundespräsidenten zu stürzen. Wir haben da nicht das nötige Urvertrauen in die SPD.
Scholz: Urvertrauen in die Sozialdemokratie erwarte ich von einem Mitglied der CDU nicht. Was die Zukunft betrifft: Man kann keine Koalition wählen. Aber wenn es nicht ein starkes Mandat für die SPD gibt, dann gibt es Schwarz-Gelb. Dann muss man um den sozialen Zusammenhalt unseres Lan
des fürchten.
Fischer: Die Sozialdemokraten unterstellen einer schwarz-gelben Koalition permanent, dass diese den Sozialstaat demontieren würde. Die historische Wirklichkeit ist aber, dass der Sozialstaat in Deutschland ein Produkt von unionsgeführten Bundesregierungen und der FDP ist, vom Betriebsverfassungsgesetz bis zur Rentenreform.
Scholz: Ach Herr Fischer, wenn ich das Wahlprogramm der FDP lese, dann erinnere ich mich nur noch mit Wehmut daran, dass das es einst die Partei war, mit der wir die paritätische Mitbestimmung in Großunternehmen beschlossen haben. CDU und FDP, mit jeder dieser beiden Parteien kann man regieren, aber wenn sie zusammen das Geschick unseres Landes bestimmen, werden die Ergebnisse selbst deren Wählern nicht gefallen.
Welt: Herr Fischer, Sie haben Ihre Wunschkoalition. Bedauern Sie eigentlich, dass das Hamburger Modell, schwarz-grün, gar keine Rolle spielt?
Fischer: Die Grünen haben deutlich gesagt, dass sie rot-grün wollen. Wir laufen denen nicht hinterher. Das ist kein Thema.
Welt: Ab wie viel Prozent sind Sie zufrieden am Sonntag?
Fischer: Die Zielmarke ist 35 Prozent im Land und 38 bis 40 Prozent im Bund.
Scholz: Wir wollen in Hamburg alle sechs Direktmandate. Zweitens wollen wir ein Wahlergebnis, das auch im Bund über 30 Prozent kommt. Das wird schwer, aber die Bewegung geht in diese Richtung.