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06.05.2009

Vereint für gemeinsame Bildung

Rede von Olaf Scholz anlässlich der Eröffnung der Nationalen Bildungskonferenz zu Artikel 24 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

 

Sehr geehrte Frau Ministerin Erdsiek-Rave,sehr geehrte Frau Loskill,
sehr geehrte Frau Evers-Meyer,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzlich willkommen in Berlin, herzlich willkommen zur Eröffnung dieser Konferenz

der ersten Veranstaltung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu der das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingeladen hat.

Gestern erst haben viele Verbände und Vereine, vor allem aber viele Bürgerinnen und Bürger den Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung genutzt, ihre Forderungen nach einer konsequenten und zügigen Umsetzung der VN-Konvention laut werden zu lassen. Im Fokus standen dabei beinahe ausnahmslos vier Megathemen: die Forderung nach einem selbstbestimmtem Leben, die Verpflichtung zur Barrierefreiheit, das Recht auf Arbeit und die Verbindlichkeit gemeinsamer Bildung. Diesem letztgenannten Thema ist unsere Konferenz heute und morgen gewidmet.

Vereint für gemeinsame Bildung heißt der Titel unser Veranstaltung. Dieser Titel ist unser Motto, er nennt das Ziel, er beschreibt zugleich aber auch den Ansatz, den wir gewählt haben, um dieses Ziel so schnell und so gut wie möglich erreichen zu können.

Vereint wollen und müssen wir handeln. Zusammen mit Vertretern der Länder, des Bildungsministeriums und der Behindertenbeauftragten, gemeinsam mit Eltern und Schülern und unterstützt von Wissenschaftlern und Experten aus der schulischen Praxis wollen wir auf dieser Konferenz erkunden, wie die nächsten Schritte zur Umsetzung des Artikels 24 aussehen können. Vereint wollen wir dabei auch vermitteln, dass wir hier über ein Bürgerrecht sprechen, das unsere Gesellschaft prägen muss. Selbstverständlich sind deshalb auch die Expertinnen und Experten in eigener Sache dabei und ich freue mich sehr, dass Sie so zahlreich aus dem ganzen Bundesgebiet nach Berlin gekommen sind.

Meine Damen und Herren,

Bildung, so hat es ein Großer der Pädagogik, so hat es Hartmut von Hentig einmal formuliert, ist ein nützliches Wort für einen schwer fassbaren Vorgang.

An Versuchen allerdings, das Wort auf den Begriff zu bringen, also präzise zu definieren, was Bildung sei und welchen Wert sie für uns darstelle, hat es gerade in den vergangenen zwei Jahrhunderten und bis in unsere Tage hinein nie gefehlt. Ich möchte all diesen Definitionsversuchen heute keinen weiteren hinzufügen, mir aber doch erlauben, mein Bildungsverständnis wenigstens in zwei Punkten zu skizzieren:

Zunächst also: Bildung führt uns unmittelbar ins Zentrum des Menschseins selbst.
Auch in bewusster Distanz zu einem Bildungspathos, das in Deutschland vor allem im 19. Jahrhundert zu einer beinahe chronischen Überhöhung des Bildungsbegriffs führte, bleibt festzuhalten: Bildung ist in keinem Fall etwas, das uns nur von außen berührt, sie ist kein Luxus, den wir uns dann leisten können, wenn wir all unsere anderen Angelegenheiten geregelt haben, sondern Fundament und Ausdruck des menschlichen Seins. Was Bildung dabei für jeden und jede von uns zu leisten imstande ist, lässt sich in einem Satz kaum fassen. Im Kern aber gilt mit den Worten von Hartmut von Hentig wenigstens dies eine: Bildung meint die Klärung der Sachen und die Stärkung des Menschen.

Bildung ist deshalb in einem ganzheitlichen Sinne zu verstehen:

Es geht um Persönlichkeitsbildung, Verantwortungsbewusstsein und die Verständigung auf gemeinsame Werte ebenso wie um den Erwerb fachlicher Kompetenzen, die für einen erfolgreichen Start ins Berufsleben notwendig sind.

Unterm Strich steht ganz ohne Zweifel:

Bildung schafft individuelle Lebenschancen, sie ist der Schlüssel zur Selbstbestimmung denn erst Bildung ermöglicht uns, selbstbestimmt und eigenverantwortlich am Erwerbsleben, an Kultur, Gesellschaft und Demokratie teilhaben zu können.

Deshalb vor allem ist die Umsetzung des Artikels 24 der VN-Konvention ein elementarer Baustein für die Umsetzung des politischen Geistes des Übereinkommens insgesamt. Dabei geht es zunächst um das Bürgerrecht auf Bildung an sich, um das Recht, Bildung zu erlangen, um das Recht, eine Schule besuchen zu dürfen. Global gesehen ist dieses Recht leider keine Selbstverständlichkeit. Nicht für Kinder und Jugendliche überhaupt und erst recht nicht für solche mit Behinderungen. Nach Angaben der UNESCO ist weltweit neun von zehn Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ein Schulbesuch generell verwehrt.

In Deutschland ist die Situation grundlegend anders: Die Schulpflicht und damit auch das Recht auf schulische Bildung gelten für alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen. Niemand wird aufgrund einer Behinderung ausgeschlossen. Völlig zu Recht betont Artikel 24 aber noch einen weiteren wichtigen Punkt: das Recht auf gemeinsame Bildung, das Recht behinderter Kinder, gemeinsam mit ihren nichtbehinderten Altersgenossinnen und -genossen in die Schule gehen zu können. Hier müssen wir auch in Deutschland deutlich besser werden. Nur 15,7 Prozent der behinderten Schülerinnen und Schüler gehen derzeit gemeinsam mit nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern zur Schule. Das muss sich ändern, weil es für behinderte Kinder und Jugendliche wichtig ist, Normalität zu erleben und nicht mit dem Gefühl aufzuwachsen, von Anfang an ausgegrenzt und aussortiert zu werden. Das muss sich ändern, weil ein gemeinsamer Unterricht hilft, Berührungsängste und Vorurteile abzubauen:

Wer schon von klein auf den Alltag mit behinderten Freunden verbracht und ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse kennengelernt hat, der ist geprägt von diesen Erfahrungen und wird sein Handeln auch später danach ausrichten: sei es als Stadtplaner oder Ärztin, als Unternehmerin oder politischer Entscheidungsträger.

Es gilt die Devise: Mauern in den Köpfen einreißen ist gut, aber verhindern, dass sie sich überhaupt erst aufbauen, ist allemal besser.

Ändern müssen wir unsere bisherige Praxis aber auch deshalb, weil derzeit 80 Prozent der Förderschülerinnen und -schüler keinen Hauptschulabschluss erreichen. Eine echte Chance, anschließend in Ausbildung und Beruf auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist den Betroffenen damit von vorne herein genommen. Es geht also nicht um einen Punkt unter vielen, es geht um den Mut, reale Chancen für alle zu schaffen. Die Umsetzung integrativer Bildung liegt vor allem in den Händen der Länder Ideen und Konzepte zu ihrer Verwirklichung lassen sich jedoch am besten gemeinsam entwickeln.

Wir brauchen Schulen, die kein Kind einfach abschreiben, weil es einem auf den Durchschnitt ausgerichteten Einheitstempo des Lernens nicht folgen kann. Wir brauchen Schulen, die verschiedene Lernwege zulassen und unterschiedliche Lernvoraussetzungen berücksichtigen. Erforderlich dafür ist eine Pädagogik der Vielfalt, die individuelle Begabungen genauso früh und engagiert fördert wie sie Kindern mit Lernschwierigkeiten oder schwierigem Lernumfeld Unterstützung anbietet und Gelegenheit zum Aufholen verschafft.

Wichtig sind die Ideen aller Beteiligten vor Ort und die Umsetzung dieser Ideen in Kooperation mit verschiedenen Partnern: mit Einrichtungen der Behindertenhilfe, mit Verbänden und Vereinen, mit qualifizierten Sonderpädagogen, deren Erfahrungen im integrativen Prozess unverzichtbar sind.

Es geht um das, was in den Schulen geschieht. Es geht darum, das Gewohnte in Frage zu stellen, es geht um eine neue Lern- und Lehrkultur, um Schulen, die nicht nur Lern-, sondern zugleich auch Lebensorte sind.

Wir beginnen hier nicht bei Null, denn es gibt diese Schulen in Deutschland überall im Land finden wir gute Beispiele, die uns zeigen, wie gemeinsame Bildung funktionieren kann. Lohnend kann aber auch der eine oder andere Blick über die Grenzen hinweg zu unseren europäischen Nachbarn sein. Wir können und sollten auch in dieser Frage voneinander lernen Dialog und Austausch daher auch hier sind der richtige Weg!

Meine Damen und Herren,

Bildung ermöglicht Teilhabe und Politik, demokratisch definiert, muss nach meinem Verständnis immer auf Teilhabe, auf Partizipation und Integration, ausgerichtet werden. Die Chance auf Integration durch Arbeit und Beschäftigung gehört in jedem Fall dazu so wie es in Artikel 27 der VN-Konvention gefordert wird.

Arbeit ist mehr als nur Broterwerb, mehr als nur materielle Bedingung unserer Existenz, das wissen wir alle. Arbeit kann ausfüllen und bereichern, sie stiftet Sinn und schafft gemeinsame Werte.

Unser gemeinsames Ziel muss es deshalb sein, allen, die das können und möchten, einen Arbeitsplatz in der Mitte unserer Gesellschaft anbieten zu können.

Der Bund hilft dabei mit gezielten Initiativen und passenden Programmen. Die Initiative job und das Arbeitsmarktprogramm Job4000 sind bereits erfolgreich etabliert.

Darüber hinaus werden wir
•    die Einrichtung von Kompetenzzentren für Barrierefreiheit weiter vorantreiben,
•    die Eingliederungshilfe fortentwickeln
•    und mit der Unterstützten Beschäftigung neue Brücken in den allgemeinen Arbeitsmarkt bauen.

Wir müssen dahin kommen, dass bei der Besetzung einer Stelle die Frage nicht lautet: Behindert oder nicht behindert?, sondern wie bei allen anderen auch: Geeignet oder nicht geeignet?

Meine Damen und Herren,

das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist ein bahnbrechendes Dokument. Ein gesellschaftlicher Wandel ist vorgezeichnet. Dieser Wandel kann allerdings nicht nur vom Staat vorangebracht werden, sondern er muss von vielen Akteuren getragen sein. Wir alle müssen uns an der Frage messen lassen, wie sehr und wie erfolgreich wir um den Ausgleich von individuellen Nachteilen bemüht sind. Wir alle sind aufgefordert, das Schlagwort einer inklusiven Gesellschaft in erfahrbare Wirklichkeit umzumünzen.

Ich halte deshalb eine Gesamtstrategie zur Umsetzung des Übereinkommens zum Beispiel in Form eines Aktionsplans für einen aussichtsreichen Weg. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird diesen Weg einschlagen und ich möchte Sie bitten, uns auf diesem Weg zu begleiten und heute und in Zukunft mit Rat und Tat zu unterstützen.

Ich danke Ihnen.
 

 

Hier finden Sie weitere Informationen zur Konferenz "Vereint für gemeinsame Bildung".