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20.08.2003

Was nun, Herr Gysi? - Anmerkungen zum neuen Buch von Gregor Gysi

Meine Damen und Herren,

Gregor Gysi hat ein neues Buch geschrieben das ist der Anlass, der uns heute hier zusammengeführt hat. Es ist nicht Gysis erstes Buch, und es wird - das lässt sich ziemlich sicher voraussagen - auch nicht Gysis letztes gewesen sein. Denn Gregor Gysi erlebt viel. Er hat viel erlebt, und er wird auch diese Prognose ist ziemlich ungefährlich auch in Zukunft einiges erleben. Und über das, was er erlebt, versteht er immer in außerordentlich ausgiebiger Weise zu berichten und zu reflektieren. Das war schon bei Gysis vergangenen Büchern so. So hat er auch diesmal wieder eine eigentümliche Collage aus Memoirenliteratur und politischer Zeitanalyse vorgelegt.

Nun wird die einen Leser dieses mehr interessieren, andere eher jenes. Ich gestehe hier gleich offen, dass jedenfalls mein Interesse in besonderem Maße denjenigen Kapiteln im hinteren Teil des Buches gegolten hat, in denen sich Gregor Gysi mit den Perspektiven der PDS und der Zukunft des demokratischen Sozialismus beschäftigt. Was nun? lautet immerhin der Titel des Buches: Das ist bestimmt kein Zufall.

Wir wissen: Da gab es jenen russischen Autor, der vor fast genau einem Jahrhundert die Schrift mit dem Titel Was tun? vorlegte. Sie werden also sicherlich Verständnis dafür haben, dass es einen Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands alles andere als kalt lassen kann, wenn heute ein anderer Autor und Politiker ein Buch vorlegt, das einen ganz ähnlichem Titel trägt. Hier scheint also ein weit reichender Anspruch vorzuliegen. Es wird also niemanden besonders verwundern, dass mich beim Lesen am meisten interessiert hat, wie Gregor Gysi die Aussichten seiner eigenen Partei beurteilt, und deshalb sollten wir heute vielleicht vor allem über diese Frage ins Gespräch kommen.

Aber natürlich: Das ist Geschmackssache, meinetwegen eine wenn auch erklärliche politische "deformation professionelle". Andere Leserinnen und Leser werden es anders sehen. Deshalb will ich hier schon um nicht verkaufsschädigend zu wirken gleich zu Beginn ausdrücklich festhalten: Wer in erster Linie wissen will, wie es dem Menschen Gregor Gysi in den vergangenen zwei Jahren ergangen ist, persönlich und politisch, was Gysi tat und unterließ, was er sich dabei dachte und wem er so alles begegnete, der kommt bei diesem Buch voll und ganz auf seine Kosten.

Die Rahmenhandlung ist schnell berichtet: Gregor Gysis Buch beginnt und endet mit Gregor Gysis Absicht, nach der Politik einen neuen beruflichen Anfang als Anwalt zu suchen. Noch als Abgeordneter des Deutschen Bundestages beschäftigt er sich nach seinem Rücktritt als Fraktionsvorsitzender der PDS mit diesen Erwägungen. Die Überlegungen werden durch den Wahlkampf in Berlin und seine Kandidatur für den Berliner Senat unterbrochen und natürlich durch die Zeit als Senator. Am Ende geht es dann doch so aus wie am Anfang geplant, Gregor Gysi ist Anwalt und Publizist.

Zwischendurch aber passiert ihm so einiges. In großer wenn ich das ganz vorsichtig sagen darf: für meinen Geschmack manchmal vielleicht etwas zu großer Detailliertheit erfahren wir also auf 250 Seiten unter vielem anderem,
- wie Gregor Gysi vor zwei Jahren in die Berliner Landespolitik geriet und wie er seinen Wahlkampf führte,
- wie er Wirtschaftssenator in der von Klaus Wowereit geführten Landesregierung wurde,
- weshalb er sich aufgrund der Bonusmeilenaffäre im Sommer vor einem Jahr zum Rücktritt entschloss.
Wir können nachlesen, dass Gregor Gysi UN-Generalsekretär Kofi Annan begegnete und dass dieser ähnlich pessimistisch über die Lage im Nahen Osten war wie Gysi selbst.

Wir erfahren von der Rettung der Reiterstaffel der Berliner Polizei ebenso wie darüber, dass sich neben dem Büro des Berliner Wirtschaftssenators eine kleine Nische mit einer Liege und einem allerdings defekten Waschbecken für den Senator befindet.

Überhaupt, die Senatorenzeit. Gysi beschreibt seine Tätigkeit als Wirtschaftssenator ziemlich umfänglich. Er berichtet über die zahlreichen Sitzungen an denen er teilnehmen musste, über die zahlreichen Gremien denen er angehörte, über die Mühsal der politischen Entscheidungsprozesse aber auch über die Probleme der Wirtschaftsansiedlungen und Wirtschaftsentwicklung in Berlin. Wer aus diesem Teil des Buches nur wenige Sätze daraus wegstreichen würde, der könnte den Text auch gut einem Wirtschaftminister der CSU oder der SPD in Bayern oder Nordrhein-Westfalen unterschieben.

Die Erkenntnisse jedenfalls, die Gregor Gysi aus der Berührung mit der Wirtschaftspolitik gezogen hat, sind Erkenntnisse, die auch andere vor ihm schon gewonnen haben. Ein bekannter Politiker hat einmal davon gesprochen, dass es nur noch moderne oder unmoderne Wirtschaftspolitik gehe. Diese Ansicht muss man so nicht teilen, aber immerhin: Bei der Lektüre des Buches von Gregor Gysi an fällt einem dieses Zitat doch immer wieder ein. Was nun also?

Bemerkenswert sind im Übrigen auch die Ausführungen zur Koalition in Berlin und vor allem zu den Notwendigkeiten von Sparpolitik. Die wird zu Recht übrigens nicht in Frage gestellt. Aber etwas Spezielles, das sich unterscheiden würde von den Problemen, die die Sparzwänge für alle Regierungen in Deutschland mit sich bringen, wird nicht erkennbar. Das ist vielleicht auch gut so aber auch etwas, das die Frage Was nun? erneut berechtigt erscheinen lässt.

Vielleicht ein paar instruktive Bonmots aus dem Fundus der wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Bürgermeisters und Senators Gregor Gysi:
Ich wollte, dass Berlin eine der genehmigungsfreundlichsten Städte in Deutschland wird, schreibt er zum Beispiel.
Oder: Obwohl manche ... es nicht wahrhaben wollen, ist der Staat auf Grund seiner eigenen politischen Konstruktion als Eigentümer von Unternehmen nicht immer besonders geeignet.
Oder: In Deutschland ... gelten Reichtum und Profit irgendwie als unmoralisch. Zumindest beim Profit scheint mir das albern zu sein ...
Oder:  Der Spitzensteuersatz sollte erst bei einem höheren Einkommen angesetzt werden.
Oder  Wenn die PDS sich als Koalitionspartner an der Landesregierung beteiligt, kann sie unter den gegebenen Umständen ... versuchen, eine vernünftige, kaum aber eine sozialistische Politik zu machen.
Oder: Gesellschaftlich besteht gegenwärtig die Gefahr, dass die Mittelschicht aufgerieben wird, was für die Gesellschaft zerstörerische Folgen haben kann.
Oder: Das einzige Problem, das ich im gegenwärtigen Kündigungsschutzrecht sehe, besteht in der Sozialauswahl .... Diese Auswahl zwingt Unternehmen häufig dazu, sich von den fähigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu trennen.

So weit, so gut. Gregor Gysis neues Buch verrät also viel über das persönliche und politische Koordinatensystem seines Autors. Nicht zuletzt deshalb ist es auch aufschlussreich zu erfahren, wen Gregor Gysi so alles schätzt, von wem er viel hält, wen er zumindest respektiert und wer ihm umgekehrt nicht in den Kram passt.

Lassen Sie mich Ihnen ohne Anspruch auf Vollständigkeit einen kurzen Überblick geben: Im weitesten Sinne auf Gregor Gysis Positivliste stehen etwa Daniela Dahn und Oskar Lafontaine, seine ehemaligen sozialdemokratischen Senatskollegen Klaus Wowereit, Peter Strieder und Thilo Sarrazin, aber auch Gerhard Schröder, Lothar Späth und erstaunlich genug Frank Steffel und sogar Helmut Kohl. In der eigenen Partei sind es, kaum verwunderlich, vor allem André Brie, Dietmar Bartsch und Lothar Bisky, die Gysis Wohlwollen finden. Wenig hingegen hält Gregor Gysi, aus den unterschiedlichsten Gründen in der Reihenfolge ihres Auftretens von Marianne Birthler, Michel Friedman, Georg Gafron, Josef Stalin, Sahra Wagenknecht, Dieter Dehm, Uwe Hiksch, Pol Pot, Kim Il-Sung, Kim Jong-Il und, last but not least, Vera Lengsfeld.

Gewiss: Wenn Politik heute in manchmal übermäßiger Weise personalisiert betrachtet wird, ist das keineswegs nur positiv zu beurteilen. Demokratietheoretisch und -praktisch bringt die Personalisierung beträchtliche Probleme mit sich Gregor Gysi selbst übrigens stellt in seinem Kapitel über Politik und Medien einige durchaus überlegenswerte Beobachtungen zu diesem Komplex an. Interessant für Sie ist sicherlich auch, dass Herr Gysi ein Regelwerk für den Umgang mit Verwertungsinteressen und Medien schaffen will. Da knüpft er an ein Vorbild von Oskar Lafontaine an, das Sie alle, glaube ich, noch in Erinnerung haben.

Aber oft genug verbinden sich mit Namen eben doch auch Inhalte und Positionen, nicht selten geben persönliche Sympathien oder Abneigungen Auskunft über politische Zusammenhänge. Und damit wären wir beim, wie ich behaupten möchte, eigentlichen Thema des Buches. Denn eigentlich geht es in Was nun? eben weniger darum, was Gregor Gysi in den vergangenen zwei  Jahren so alles widerfuhr, als darum, welche politische Bedeutung und Rolle er für sich und seine Partei in den kommenden, sagen wir: zwanzig Jahren erhofft. Und eben das vor allem sollte daher, glaube ich, heute hier auch unser Thema sein.

Ob es einem nun passte oder nicht: Bis 1993 unter dem Parteivorsitz von Gregor Gysi sowie in den Jahren danach unter Gregor Gysis maßgeblicher Beteiligung als Fraktionsvorsitzender im Bundestag, entwickelte sich die PDS in der Nachwendeära zu einem ein bedeutsamen Faktor der Politik im wiedervereinigten Deutschland. Dass sich an der PDS als Nachfolgepartei der diktatorischen Staatspartei SED die Geister schieden und auch heute noch scheiden, liegt auf Hand.

Natürlich müssen es vor allem ehemalige Opfer des DDR-Regimes bis heute als Skandal empfinden, dass die in der PDS neu formierten Machthaber von einst in der neuen Bundesrepublik unter den Bedingungen der freiheitlichen Demokratie erneut politischen Einfluss gewannen. Ich verstehe und respektiere alle, die sich hierüber empört haben. Nur: Worin hätte denn in der freiheitlichen Demokratie die Alternative bestanden?

Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang aber bleiben, dass das Buch auch Aussagen zum Mauerbau, zur Zwangsvereinigung von SPD und KPD enthält, denen nach wie vor etwas Verkrampftes und nicht wirklich Durchgearbeitetes anhaftet. Da hätte nach so vielen Jahren doch noch etwas mehr erfolgen können. Die notwendigen Worte fallen zwar, aber ganz zu Ende ist das Thema in den Köpfen vieler offenbar noch nicht jedenfalls noch nicht so, wie es zu Ende gebracht gehört.

So sehr man es bedauern mag: Die PDS seit 1990 war eine erfolgreiche Partei. Aber es gibt allen Grund zu der Erwartung, dass diese  Erfolgsgeschichte an ihr Ende gekommen ist. Und es gibt kein Happy End. Denn inzwischen aber haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die PDS verschlechtert. Sie hat bei der Bundestagswahl vor einem Jahr eine schwere Niederlage eingesteckt und sich von diesem Rückschlag seither nicht mehr erholt, im Gegenteil. Gregor Gysi selbst hat dazu auf dem Parteitag der PDS Ende Juni hier in Berlin ein paar Sätze formuliert, die so aufschlussreich waren, dass ich Sie Ihnen nicht vorenthalten möchte.

Gregor Gysi erklärte ich zitiere ihn gerne wörtlich: Ich habe schon vor ein paar Jahren auf einem Parteitag gesagt, dass ich mich vor dem Tag fürchte, an dem wir das erste Mal eine Wahlniederlage erleben. Das ist zwar in der Demokratie üblich, aber wir kennen das nicht und es wird furchtbar. - Und es wurde furchtbar.

Als Beobachter der PDS von außen kann ich nur sagen: Wo Gregor Gysi Recht hat, hat er Recht. Aber warum eigentlich ist es um die PDS Gysis Wort, nicht meins heute so furchtbar bestellt? Was hat sich verändert? Warum ist der Erfolgsfaden der PDS gerissen?
Natürlich hat die Misere der Partei auch mit den personellen Defiziten zu tun. Nach Gregor Gysis Rücktritt vom Amt des Berliner Wirtschaftssenators stand der erfolgreichste Öffentlichkeitsarbeiter der PDS seiner Partei im Wahlkampf nur noch sehr eingeschränkt zur Verfügung, und Gabriele Zimmer erwies sich nach der Niederlage vom vergangenen September und dem dramatischen Linksruck der PDS auf dem Geraer Parteitag danach jedenfalls nicht als die geeignete Vorsitzende, um die angeschlagene PDS wieder flott zu machen.

Personelle Faktoren sind also nicht unwichtig unter den Bedingungen der Mediendemokratie ist es eben nicht egal ist, wie sich Parteien öffentlich präsentieren. Dennoch: Bedeutender für den anhaltenden Niedergang der PDS scheinen mir andere, sozusagen strukturelle Gründe zu sein. Sie liegen einerseits im inneren Zustand der Partei selbst begründet, andererseits aber auch in den Veränderungen in der ostdeutschen Gesellschaft.

Innerparteilich ist die PDS zutiefst gespalten. Ich gestehe, dass mich bei Gregor Gysis eigener Beschreibung des trostlosen Innenlebens seiner Partei schon beträchtliches Gruseln überkommen hat. Von zwei Parteien unter einem Dach schreibt Gysi da, von der ständige[n] Wiederholung alter Konflikte in der PDS, von einer selbst gewählten Isolierung, von Gedankenwelt und Methoden einer Sekte und davon, dass die PDS diesen Zustand auf Dauer nicht verkraften werde.

Entsprechend viel argumentativen Aufwand treibt Gregor Gysi, um die Ideen der wie er sie nennt undogmatischen Linken in seiner Partei, der er sich zugehörig fühlt gegen jene der dogmatischen Linken in der PDS in Schutz zu nehmen. Deshalb liest man in seinem Buch beispielsweise Passagen wie die folgende. Ich zitiere: Die demokratische Linke wird Gewalt nur anwenden, wenn sie sich gegen Gewalt wehren muss. Sie wird aber ihre demokratische Auswechslung akzeptieren. Wenn sie eine Mehrheit der Gesellschaft von ihren Ideen nicht mehr überzeugen kann, so ist ihr klar, dass sie nicht berechtigt ist, dieser Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen, auch wenn sie noch so sehr davon überzeugt ist, im Recht zu sein. So weit das Zitat.

Lieber Gregor Gysi, seien Sie ganz und gar sicher: Als guter Sozialdemokrat unterschreibe ich natürlich jeden einzelnen dieser Sätze, ja selbst jedes einzelne Wort davon. Und ich habe auch nicht den geringsten Zweifel daran, dass Sie das alles ganz aufrichtig so meinen aufrichtig und ernst. Aber das ist hier gar nicht der Punkt. Der Punkt ist ein ganz anderer. Ich frage mich nämlich: Was muss das eigentlich für eine Partei sein, ja, was ist das für eine Partei Ihre Partei , in der solche schieren Selbstverständlichkeiten eines demokratischen Gemeinwesens heute, im Jahr 2003 noch immer keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern ausdrücklich gegen mächtige innerparteiliche Widersacher betont und gerechtfertigt werden müssen? Das alles kommt mir recht gespenstisch vor.

Vielleicht hat Gregor Gysi Recht, vielleicht war die PDS in den neunziger Jahren schon einmal weiter. Wir waren einmal sympathisch, haben Sie, lieber Gregor Gysi, jüngst am Ende Ihres Parteitages in Berlin festgestellt. Und weiter: Das hing mit unserer anderen Kultur zusammen. Selbst Leute, die uns nicht gewählt haben, mochten uns irgendwie. Ich möchte, dass man uns wieder irgendwie mag.

Natürlich, nachvollziehen kann man diesen innigen Wunsch durchaus. Nur deutet aus meiner Sicht viel, wenn nicht sogar fast alles darauf hin, dass diese für die PDS bequeme Situation wohl nicht noch einmal eintreten wird. Das liegt an der inneren Verfassung der PDS selbst, das liegt aber auch daran, dass die gesellschaftliche, kulturelle und mentale Entwicklung in den neuen Bundesländern ganz einfach über die PDS hinweggegangen ist. Während die PDS im ideologischen Kleinkrieg weiterhin voll und ganz mit sich selbst beschäftigt ist, haben sich Ostdeutschland und die Ostdeutschen verändert und die PDS hat es nicht so richtig mitbekommen.

Ich glaube der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck hat Recht mit seiner These, dass die Nachwendezeit ein für allemal zu Ende ist. In Ostdeutschland hat ein neuer Zeitabschnitt begonnen. Viele der Verunsicherungen des Systemumbruchs sind inzwischen Geschichte, die Ostdeutschen sind im gesamtdeutschen Alltag angekommen mehr übrigens als manche Westdeutsche, die manchmal immer noch so tun, als hätte das Jahr 1989 gar nicht stattgefunden.

Zwar wäre es ganz unsinnig so zu tun, als wären in Ostdeutschland alle Probleme bereits gelöst. Das sind sie nicht. Aber zugleich ist heute den meisten Menschen längst klar, dass Lösungen für ihre Probleme und berechtigten Sorgen nicht in Form irgendwelcher hochideologischer Systemalternativen vom Himmel fallen werden. Immer weniger Menschen sehen sich nur als passive Opfer der Einheit.
Das heißt überhaupt nicht, dass Ostdeutsche heute kein Bewusstsein ihrer regionalen Herkunft mehr hätten ganz im Gegenteil: Das ostdeutsche Selbstbewusstsein ist heute stärker denn je. Aber es ist eben heute kein rückwärts gewandtes Selbstbewusstsein. Die Menschen im Osten kommen heute ganz gut ohne Ostalgie aus und sie bedürfen davon bin ich überzeugt auch nicht der PDS als Stütze, erst recht keine PDS, die fortwährend im Kampf mit und gegen sich selbst liegt.

Was die Menschen in Ostdeutschland brauchen und erwarten, sind nicht ideologische Abwehrschlachten gegen rückwärts gewandte dogmatische Linke. Was die Menschen in Ostdeutschland und übrigens auch anderswo stattdessen wollen, sind handfeste Lebenschancen, reale Chancen auf die Teilhabe an Bildung und Arbeit. Wie schwierig diese Aufgabe ist, wissen übrigens gerade ostdeutsche Sozialdemokraten wie Matthias Platzeck, Manfred Stolpe, Harald Ringsdorff, Wolfgang Tiefensee oder Christoph Matschie um nur einige zu nennen , sehr genau. Ihr großer Vorteil ist, dass sie sich voll und ganz auf die Probleme dieses Jahrhunderts konzentrieren können und nicht wie andere die ideologischen Feldschlachten des vergangenen immer wieder neu austragen müssen. Ich bin mir sehr sicher: Die Menschen merken den Unterschied ziemlich genau.

Was nun also? Die entscheidende Frage, hat Gregor Gysi in seiner Parteitagsrede im Juni den Delegierten der PDS zugerufen, die entscheidende Frage ist, ob wir in der Gesellschaft verankert sind oder nicht. Können die Leute etwas anfangen mit uns oder nicht? Gefragt ist nicht, ob wir uns brauchen, sondern ob sie uns brauchen. Das ist die Frage, die wir beantworten müssen ... So weit Gregor Gysi. Ich glaube, er hat Recht. Ich habe aber auch den Verdacht, dass er die ehrliche Antwort auf seine Frage in Wahrheit längst kennt. Er täte gut daran, sie uns anderen nicht länger zu verschweigen.