re.vision: Herr Schmidt, erinnern Sie sich an den Studenten Olaf Scholz? Er studierte an der Universität Hamburg Jura, als Sie dort Professor für Gesellschaftsrecht waren.
Schmidt: Ich habe mich schon gefragt, warum ich mich so deutlich an den Studenten Ole von Beust erinnere, an Sie, Herr Scholz, aber nicht. Aber der Grund ist ganz einfach: Sie haben damals im Rahmen der einstufigen Juristen-Ausbildung studiert, einem Reformstudiengang, der wie eine eigenständige Fakultät funktionierte. Deshalb sind wir uns nicht begegnet.
Scholz: Ja. Schon damals gab es in Deutschland den Versuch, die Juristenausbildung so zu reformieren, dass man schneller studieren und sich in der Praxis profilieren kann. Ich habe von dieser Möglichkeit profitiert: Nach sechs Jahren hatte ich einen dem zweiten Staatsexamen entsprechenden Abschluss und konnte mit der Berufstätigkeit beginnen. Als ich dann 1998 mit 40 Jahren Abgeordneter im Bundestag wurde, hatte ich schon 13 Jahre als Anwalt gearbeitet während die meisten ja erst mit Anfang 30 in den Beruf gehen.
re.vision: Welche der damaligen Reformbemühungen sind denn aus heutiger Sicht noch aktuell?
Schmidt: Richtig war der Gedanke, die Studenten schneller an die Praxis heranzuführen und mehr Interdisziplinarität zu gewährleisten. Bei uns an der Law School kommt heute natürlich noch der starke Auslandsbezug dazu. Dafür war damals die Zeit noch nicht reif.
Scholz: Wir haben seinerzeit erfreulicherweise eine umfassende sozialwissenschaftliche Ausbildung erhalten. Und ich konnte die Befähigung für das Richteramt erwerben, ohne während des Studiums einen einzigen Repetitor aufsuchen zu müssen. Es ist kein gutes Zeichen, dass die Juristenausbildung in Deutschland ohne diese privatwirtschaftliche Ergänzung meist nicht funktioniert.
re.vision: Herr Scholz, stellen wir uns vor, Sie hätten an einer privaten Hochschule studiert. Hätten Sie den Mut gehabt, das Studium auch über einen Kredit oder ein Finanzierungsmodell wie den umgekehrten Generationenvertrag zu realisieren?
Scholz: Den Mut wahrscheinlich schon, aber ich hätte lange darüber nachgedacht. Es ist keine Kleinigkeit, sich schon zu Beginn eines noch jungen Lebens zu verschulden. Das fällt denen sicher leichter, die in Familien aufwachsen, in denen es schon mehrere Generationen von Akademikern gibt. Wer aber als erster in der Familie ein Studium antritt, für den ist das Wagnis oft unermesslich.
Schmidt: Bei uns muss niemand nach dem Zweiten Staatsexamen mit einem Schuldenberg dastehen. Der umgekehrte Generationenvertrag sieht vor, dass die Absolventen nur dann zurückzahlen, wenn sie später tatsächlich ein Gehalt verdienen, das dies möglich macht. Insofern kann man da von einer Wette sprechen, die wir eingehen. Wir wetten, dass unsere Absolventen in der Regel durch unsere Ausbildung in der Lage sein werden, in gut dotierte Positionen zu gelangen und dann zurückzahlen zu können. Natürlich denken wir, dass wir diese Wette meistens gewinnen.
re.vision: Glauben Sie, dass private Hochschulen mit Studiengebühren dazu beitragen, dass eine hervorragende Ausbildung nur für Besserverdienende zu haben ist?
Schmidt: Wenn Sie sich auf unserem Campus umschauen, werden Sie feststellen, dass das Klischee des Studierenden, der mit dem Porsche vorfährt, nicht zutrifft. Es ist aber sicherlich so, dass manche Geringerverdienende sich gar nicht erst fragen, ob unser Konzept auch zu ihnen passt. Diesen Effekt will ich nicht ausschließen.
Scholz: Ich habe nichts gegen die Existenz privater Hochschulen, die im Wettbewerb mit staatlichen Hochschulen stehen. Wenn aber auch die staatlichen Hochschulen Gebühren erheben, wird das zu viele von einem Studium abhalten. Das ist das Gegenteil einer durchlässigen Gesellschaft, die man sich wünschen sollte. Deshalb habe ich einen klaren Standpunkt: Staatliche Universitäten sollten ganz ohne Studiengebühren arbeiten. Damit sie im Wettbewerb der Hochschulen dennoch bestehen können, müssen sie finanziell vernünftig ausgestattet werden.
Schmidt: Aber diese finanzielle Ausstattung muss immer mit einem Anspruch auf Exzellenz einhergehen! Es bringt nichts, viel Geld in die Hochschulen zu schütten und auf möglichst viele Studierende und möglichst viele Abschlüsse zu zielen. Wenn Sie an staatlichen Hochschulen Mittelmaß zulassen, fördern Sie letztlich eine Entwicklung, die dazu führt, dass auf private Initiative Institutionen entstehen, die Exzellenz nur für Wenige vorhalten.
re.vision: Wie könnte man denn dafür sorgen, dass sich mehr Begabte aus allen Teilen der Gesellschaft ein Studium zutrauen?
Scholz: Die wichtigste Innovation wäre, andere Zugänge zur Universität zu ermöglichen als das heute der Fall ist, beispielsweise im Anschluss an eine Berufsausbildung. Selbst in Ländern wie Österreich oder der Schweiz studieren mehr Menschen, die etwa auf der Basis ihres beruflichen Hintergrunds an die Universität gelangen, als in Deutschland.
re.vision: Herr Schmidt, ein Tischlermeister an der Law School können Sie sich das denn vorstellen?
Schmidt: Das kann ich mir bestens vorstellen und kenne es aus eigener Erfahrung! Als ich in den 1970er-Jahren in Nordrhein-Westfalen unterrichtete, saßen vor mir im Hörsaal auch Polizisten oder der von Ihnen angesprochene Tischlermeister. Ich halte das auch heute noch für eine sehr gute Idee. Ich bin zwar ein Anhänger davon, dass man in der akademischen Szene nicht nur ein helles Köpfchen, sondern auch einen Bildungshintergrund mitbringen sollte. Aber dieses Monopol, dass der Weg zum Studium nur über das Abitur führt das muss man durchaus in Frage stellen.
re.vision: Andererseits arbeiten in Deutschland schon heute 150.000 zugelassene Rechtsanwälte, jedes Jahr verlassen mehr als 10.000 neue Absolventen die Hochschulen. Haben wir nicht schon zu viele Juristen?
Scholz: Solange sie alle Arbeit finden, können es ja nicht zu viele sein. Genau das ist doch eine Botschaft, die wir in der Gesellschaft verbreiten können: Dass die spezifische Arbeitslosigkeit akademisch Qualifizierter viel geringer ist als die in allen anderen Bevölkerungsgruppen. Das bedeutet nicht, dass jeder exakt auf jenem Gebiet tätig ist, für das er ausgebildet wurde: Mancher wird Journalist und hat vorher Jura studiert. Aber ein Studienabschluss bedeutet in aller Regel, dass jeder eine Chance hat, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, und das ist gar nicht so wenig.
re.vision: Viele Juristen gehen ja nicht in den Journalismus, sondern in die Politik. Mit 22 Prozent stellen sie die stärkste Berufsgruppe im Bundestag. Haben Juristen zu viel Einfluss auf die Gesetzgebung?
Scholz: Nein, die vielen Juristen ergeben sich fast von selbst. Der Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Rechtswissen ist einfach so dicht, dass es nahe liegt, dass jemand mit diesem Hintergrund sich politisch engagiert. Meine Sorge, was die Struktur der Parlamente betrifft, ist eine ganz andere: Deutschland wird regiert von einer völlig homogenen Gruppe: akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen. Das zieht sich von der Partei Die Linke bis hin zur FDP, ohne Ausnahme. Und es gilt für Journalisten genauso wie für die Vertreter in den Verbänden. Diese sehr homogene Gruppe ist aber doch immer nur ein kleiner Prozentsatz unserer erwachsenen Bevölkerung. Die Gefahr ist nun, dass diese Gruppe glaubt, sie sei der Rest der Welt. Das ist immer ein Fehler, und es wäre auch ein Fehler, wenn Juristen das von sich dächten.
Schmidt: Zu der von Ihnen erwähnten Kaste möchte ich etwas anmerken: Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, die nur dann funktioniert, wenn es gute Repräsentanten gibt. Diese Repräsentanten müssen auf der einen Seite die Verbindung zur Basis haben darum, Herr Scholz, sorgen Sie sich anscheinend. Aber auf der anderen Seite müssen sie eben auch hervorragende Repräsentanten sein, dürfen also durchaus einer Elite angehören. Wobei ich das Wort in einem positiven Sinne meine: Dass sie sich nämlich auf ihre Aufgaben und Pflichten besinnen und nicht vorrangig an den eigenen Vorteil, sondern an das Gemeinwohl denken. So verstanden, sind die akademischen Grundlagen bei vielen Politikern etwas durchaus Positives.
re.vision: Wird man denn durch eine juristische Ausbildung ein besserer Politiker?
Scholz: Da bin ich zu einer eher betrüblichen Erkenntnis gekommen: Juristisches Wissen spielt selbst bei denen, die darüber verfügen, im politischen Alltag oft eine geringe Rolle. Ich wünsche mir, dass die Abgeordneten sich mehr trauen, eigenständig über die Gesetze, die sie verabschieden, nachzudenken auch in rechtlicher Hinsicht. Gute Parlamentarier dürfen da keine Angst vor den Ministerien haben. Sie müssen sich zutrauen, einen Sachverhalt selbst zu beurteilen. Das gilt erst recht, wenn sie Juristen sind.
re.vision: Der Einfluss von Juristen auf die Gesetzgebung kommt nicht nur aus den Parlamenten: Im vergangenen Jahr gab es einige Aufregung um einen Gesetzesentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums, auf dem das Logo der Anwaltskanzlei Linklaters prangte. Wie bewerten Sie diesen Vorgang?
Scholz: Die Kanzlei kann man dafür nicht kritisieren, das ist ja schließlich so vom Ministerium bestellt worden. Es ist aber ein Fehler gewesen, dass so etwas bestellt wurde.
Ich glaube, dass es zu einer Demokratie gehört, dass eine Regierung und die sie tragende Ministerialbürokratie in der Lage sind, auch komplizierte Sachverhalte selbst zu beurteilen. Es gibt in den deutschen Ministerien Beamte, die mit jedem Spitzenjuristen und Spitzenanwalt in den Kanzleien mithalten können. Selbständig Gesetze zu schreiben ist schließlich die Kernkompetenz von Ministerien.
Schmidt: Wenn es Usus würde, dass Ministerien sich die Expertise für die Gesetzgebung zuliefern lassen, wäre das mindestens schlechter Stil. Man kann sich durchaus einmal einen Experten ausleihen, wenn dafür Bedarf besteht. Nur sollte der dann im Ministerium arbeiten.Das ist keine Kritik an der Anwaltskanzlei, die das gemacht hat. Wenn ich in der Kanzlei gesessen hätte, hätte auch ich gesagt, oder zumindest gedacht: Wunderliches Ansinnen, aber wir machen das.
re.vision:Welche Fähigkeiten brauchen denn Juristen, die in die Politik gehen wollen?
Scholz: Mein Rat als Berufspolitiker ist, die politische Karriere nicht in den Vordergrund der eigenen Bestrebungen zu stellen. Wer sich mit 25 vornimmt, Mitglied des Bundestages zu werden, wird weniger wahrscheinlich Bundestagsmitglied als verrückt. Es ist hilfreich, wenn man eine gewisse Erfahrung aus dem wirklichen Leben mitbringt. In die Politik zu gehen bedeutet auch, dass man sich in der Welt der Bürger, für die man Politik macht, gut auskennen muss da helfen Paragrafen und die Fähigkeit, sie rückwärts aufsagen zu können, nicht immer weiter. Und man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Politik keine Berufskarriere ist, bei der man von einer Stufe auf die nächste befördert wird
Schmidt bis man irgendwann Bundespräsident wird
re.vision: ... Sie spielen auf den Volljuristen Christian Wulff an...
Scholz sondern es geht dabei um Demokratie und Freiheit, das darf man nie vergessen, wenn man sich in diesem Bereich engagiert. Man muss immer eine Zuneigung haben zu denen, die einen wählen sollen. Wem das nicht möglich ist, der ist in der Politik auch nicht richtig aufgehoben.
re.vision:Zehn Jahre in die Zukunft geblickt was kann die Politik bis dahin tun, um ein Jura-Studium zu ermöglichen, dass die bestmöglichen Juristen hervorbringt?
Schmidt: Möglichst wenig regulieren. Und den Universitäten weiter erlauben, sich einem Wettbewerb um die besten Professoren und die besten Studierenden zu stellen. Auch wenn das vielleicht dazu führt, dass mal eine Hochschule zumachen muss. Das wird bei uns ja als große Katastrophe gesehen aber was ist so schlimm daran, wenn es das Resultat eines Wettbewerbs mit festen Regeln ist und für Qualität sorgt?
Scholz: Wir sollten den Studierenden ermöglichen, ihr künftiges Berufsfeld soweit zu überblicken, dass sie sich mit einer gewissen Distanz dort hineinbegeben können. Das ist notwendig, um nicht zu erschaudern vor der Allmächtigkeit dessen, was einem da begegnet. Dafür sollte man sich nicht nur auf juristisches Wissen beschränken: Damit man sich als Jurist in der Welt zurechtfindet, sind gute Kenntnisse mindestens in den Gesellschaftswissenschaften notwendig. Und schließlich sollte es ein Leben neben dem Studium geben. Wer im Leben steht, versteht die Welt besser als der, der nie aus Hörsälen, Repetitorien und Bibliotheken herauskommt.
(erschienen im Bucerius Law School Magazin 2010)