"Wir dürfen Politik nicht auf Ränkespiele reduzieren" Interview mit der "FAZ"
"FAZ": Herr Bürgermeister, Sie sagten vor der Bundestagswahl: Wir dürfen nicht abwarten, bis uns die Umstände das Handeln aufzwingen, sondern müssen handeln, um die Umstände zu prägen. Das hat aber zuletzt nicht so gut geklappt in der SPD, oder?
Olaf Scholz: Naja. Immerhin haben wir nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen in der Sache was Ordentliches hingekriegt: Der Koalitionsvertrag enthält viele wichtige Punkte, die gut sind für unser Land und den sozialen Zusammenhalt in Deutschland stärken.
"FAZ": Sie haben in Ihrer Aschermittwochsrede gesagt, Horst Seehofer und Angela Merkel hätten ihren politischen Zenit überschritten. Werben Sie vor dem Mitgliedervotum damit, die SPD gehe in ein Bündnis mit politischen Auslaufmodellen?
Olaf Scholz: Als aufmerksamer Leser Ihrer Zeitung weiß ich, dass Sie meine Einschätzung hinsichtlich der Vorsitzenden von CDU und CSU teilen. Insofern handelt es sich nicht um eine besonders neue Erkenntnis. Mir ist aber noch wichtiger, dass wir uns auf unsere eigene Stärke besinnen. Die Frage, wie es der SPD in vier Jahren gelingen kann, einen Regierungsauftrag zu erhalten und den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen, entscheidet sich ausschließlich daran, wie sich die SPD künftig präsentiert. Ich werbe deshalb dafür, den Koalitionsvertrag nach den Inhalten zu bewerten und nach den Gestaltungsmöglichkeiten, die sich für uns daraus ergeben.
"FAZ": Sie heben die Inhalte des Koalitionsvertrages vor. Würden Sie damit nicht stärker durchdringen, wenn Sie die Personalie des Außenministers klärten und Spekulationen beendeten?
Olaf Scholz: Unsere Mitglieder wollen über die Inhalte des Koalitionsvertrags diskutieren. Deshalb veranstalten wir jetzt überall im Land Konferenzen. Und ich finde es erfreulich, dass ich von kaum jemandem höre, der Koalitionsvertrag sei schlecht.
"FAZ": Können Sie auf den Regionalkonferenzen der Frage ausweichen, wie es mit Sigmar Gabriel weitergeht? Inhalte werden doch nur dadurch stark, dass sie von starken Persönlichkeiten vertreten werden.
Olaf Scholz: Wir sollten Politik nicht auf die Frage reduzieren: Wer wird was? Ich glaube, unsere Reihenfolge ist die richtige: erst zur Sache, dann die Personen. Über das Regierungsteam entscheiden wir, wenn wir dazu das Mandat haben.
"FAZ": Ein Blick zurück auf die Causa Martin Schulz: Werfen Sie sich im Rückblick vor, den Unmut der Basis über den Wortbruch Ihres Vorgängers unterschätzt zu haben?
Olaf Scholz: Martin Schulz hat für sich klare Entscheidungen getroffen. Er wollte den Parteivorsitz abgeben. Und er hat schließlich auf ein Regierungsamt verzichtet, was ein sehr respektabler Schritt ist, damit über die Sache diskutiert werden kann. Das sollten wir nun auch tun.
"FAZ": Und Gabriel Reue über seine Äußerungen über Schulz reicht das?
Olaf Scholz: Was soll die Frage? Es geht um Politik und nicht um Klatsch. Es geht nicht um Personen, es geht um unser Land. Das meine ich so pathetisch, wie es klingt. Wir dürfen Politik nicht auf Ränkespiele reduzieren.
"FAZ": Sie wollen, so unser Eindruck, da weitermachen, wo Schulz aufgehört hat: mit Europa als Großthema deutscher Interessen. Andere Parteien setzen den Schwerpunkt anders und reden über das Großthema Einwanderung. Hat die SPD Angst vor diesem Thema?
Olaf Scholz: Nein. In der Politik ist es immer falsch, Fragen zu ignorieren, die sich aktuell stellen. Im Übrigen hängen die künftige Entwicklung Europas und der vernünftige Umgang mit der Migration eng miteinander zusammen, weil nationale Lösungen allein nicht funktionieren.
"FAZ": Die Prioritätensetzung lässt sich im Koalitionsvertrag aber nicht erkennen. Die Verhandlungen drehten sich eher um Nebenkriegsschauplätze: Familiennachzug und semantische Übungen zur Obergrenze. Was ist mit den Themen Integration, Lehrermangel, Deutschkurse, Schulabbrecher, et cetera?
Olaf Scholz: Als Teilnehmer an den Verhandlungen möchte ich Ihren Eindruck korrigieren: Wir haben über all diese Themen gesprochen. Und Integration hat eine hohe Priorität und zwar für alle drei Koalitionsparteien.
"FAZ": Sie haben mehrfach hervorgehoben, dass ein Großteil des Koalitionsvertrages dem SPD-Wahlprogramm entspricht. Nun war das Programm in der Bundestagswahl nicht gerade ein Renner. Setzen Sie nun im Falle einer großen Koalition auf die richtigen Themen?
Olaf Scholz: Die meisten Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, dass die SPD in ihrem Streben, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, erfolgreich ist. Also konkret: Eine Menge Leute profitieren davon, dass wir die hohe Zahl der ohne Sachgründe befristeten Arbeitsverträge jetzt deutlich verringern. Wir haben in der Pflege für ältere Menschen viel erreicht, so dass die Lage in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen besser wird. Wir haben Fortschritte beim sozialen Wohnungsbau und beim Erwerb von Eigenheimen vereinbart. Auch bei der Ganztagsbetreuung in den Schulen sowie der Gebührenfreiheit von Kitas kommen wir voran. All dies wird helfen, dass unsere Gesellschaft optimistischer wird. Denn das ist eine Frage, die mich umtreibt: Wie kann es sein, dass sich in unseren wirtschaftlich erfolgreichen Ländern allmählich Pessimismus breit macht? Diese Entwicklung müssen wir drehen.
"FAZ": Nehmen wir das Thema gebührenfreie Kitas und Ganztagsbetreuung. Da sagen die Kommunen: Wir würden gerne wissen, was das kostet. Im Koalitionsvertrag wird insgesamt ein Rahmen von 46 Milliarden Euro gesetzt. Die tatsächlichen Kosten werden aber wohl viel höher sein. Machen sie sich mit der schwarzen Null nicht etwas vor?
Olaf Scholz: Nein, ich bin Anhänger einer soliden Haushaltspolitik und habe dafür gestimmt, dass das Grundgesetz und die Landesverfassungen so geändert werden, dass von 2020 an ein Neuverschuldungsverbot für die Länder gilt und eine strikte Neuverschuldungsregel für den Bund. Die schwarze Null ist im Koalitionsvertrag vereinbart, weil alle drei Koalitionspartner dies richtig finden. Wir haben für diese Legislaturperiode fast 1,4 Billionen Euro zur Verfügung. Damit lässt sich doch ganz ordentlich Politik gestalten.
"FAZ": Im Koalitionsvertrag versprechen Sie mehr Pflegekräfte, mehr Polizisten für Bund und Länder aber bei den Lehrern sind Sie sehr zurückhaltend. Warum?
Olaf Scholz: Wir haben ein föderales Gefüge und brauchen nun eine nationale Anstrengung. Ich finde es richtig, den Ländern bei der Bildung zu helfen, indem wir die Verfassung so ändern, dass das zulässig wird. Das ändert aber doch nichts daran, dass die Hauptverantwortung weiter die Länder tragen. Darauf muss ich als Hamburger Bürgermeister im Übrigen auch bestehen.
"FAZ": Auf den Regionalkonferenzen Ihrer Partei werden Sie für den Koalitionsvertrag werben und sicher auch damit, was Sie alles erreicht haben. Nun hatten Sie aber auch 2013 schon viel erreicht und mit dem Mindestlohn sogar das lang ersehnte große Projekt für Ihre Partei erkämpft. Trotzdem weiß man, wie wenig Ihnen das 2017 geholfen hat. Warum soll es nun besser laufen?
Olaf Scholz: Drei Antworten: Erstens regieren, um die Probleme der Bürgerinnen und Bürger zu lösen. Die SPD muss es zweitens schaffen, dass man ihr die Führung der Regierung anvertrauen möchte. Wenn wir um Stimmen für unsere Partei werben, wollen die Leute wissen: Sind die die richtigen für das Kanzleramt, für die Außen- und Sicherheitspolitik, für Europa, sind das die Richtigen für den Umgang mit Trump, Putin und Erdogan? Wenn wir diese Fragen gut beantworten können, werden auch mehr Wählerinnen und Wähler auf uns setzen. Wenn wir in einer Regierung beweisen können, dass wir es können, ist das schon mal nicht schlecht. Deswegen ist es drittens auch richtig, wenn die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles auch Parteivorsitzende wird. Die Partei wird dann ein Kraftzentrum. Auch das ist Teil der Antwort auf Ihre Frage, was wir tun müssen, damit es beim nächsten Mal besser läuft. Es liegt also an uns selbst, wie wir aus einer Koalition herauskommen und welche Chancen wir dann bei der folgenden Wahl haben.
"FAZ": Braucht es dafür nicht ein wenig mehr?
Olaf Scholz: Doch, wir müssen die zentrale Herausforderung dieses Jahrhunderts verstehen. In den Volkswirtschaften, die einst als Industrieländer beschrieben wurden, gibt es die merkwürdige Situation, dass trotz des unverändert großen wirtschaftlichen Erfolges und des hohen Lebensstandards, die Zuversicht abnimmt. Das hat natürlich mit Veränderungen zu tun, die mit den Schlagworten Globalisierung und digitaler Wandel nur unzureichend beschrieben sind. Unsere Aufgabe muss es sein, die aus den Veränderungen neu entstehenden Probleme zu lösen, damit die Bürger wieder auf eine bessere Zukunft vertrauen. Sonst reüssiert auch in Deutschland irgendwann ein Politiker wie Trump. Wir brauchen also tragfähige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Und wenn wir das schaffen, gewinnen wir auch wieder mehr Wahlen.
"FAZ": Ist das auch Ihre Antwort auf die Entwicklung, dass die Sozialdemokraten fast überall in Europa Schwierigkeiten haben?
Olaf Scholz: Ich glaube neben all den Fehlern, die jeweils in den einzelnen Staaten der eine oder andere gemacht hat, geht es schon um die beschriebene strukturelle Herausforderung. Wie also reagieren wir auf die ökonomischen Herausforderungen dieses Jahrhunderts, damit Leute, die fleißig sind und sich anstrengen, sicher sein können, dass es für sie und ihre Kinder eine gute Zukunft gibt? Das ist unsere Mission im Second Machine Age.
"FAZ": Kommt bei der großen Koalition dieses Mal für die SPD nicht erschwerend hinzu, dass Angela Merkel in zwei Jahren einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin die Gelegenheit gibt, sich noch im Kanzleramt zu profilieren, bevor dann die nächste Bundestagswahl kommt?
Olaf Scholz: Es ist nicht meine Aufgabe, mir den Kopf der Union zu zerbrechen. Frau Merkel hat erklärt, die vollen vier Jahre zu absolvieren. Wir sollten unsere Kraft aber sowieso aus uns selber schöpfen. Ich traue uns zu, die nächste Bundestagswahl zu gewinnen die steht aber erst in vier Jahren an.
"FAZ": Wie passt Ihr Bekenntnis zur schwarzen Null zur Forderung der SPD, dass es ein Ende des deutschen Spardiktates in Europa geben wird?
Olaf Scholz: Wir brauchen eine Europapolitik, die die Entwicklungsperspektiven der Staaten der Europäischen Union berücksichtigt. Gleichzeitig bleibt es aber unsere Aufgabe, für ordentliche Finanzen zu sorgen. Darin sehe ich keinen Widerspruch. Europa ist mehr als ein Binnenmarkt, deshalb müssen wir endlich auch echte Politik machen: da geht es um Außen- und Sicherheitspolitik, den Euro, um Migration, Wirtschaft. Deutschland trägt als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land der EU eine Verantwortung, dass dies gelingt. Aus der dürfen wir uns nicht herausstehlen. Es ist eine große Chance, dass wir mit dem französischen Präsidenten jemanden haben, der eine ähnliche Perspektive verfolgt. Klar ist, seine Vorschläge sind nicht das, was wir uns eins zu eins zu Eigen machen wollen. Es wäre aber ein Fehler, keine gemeinsame politische Perspektive mit Frankreich für Europa zu entwickeln. Die SPD hat die Verantwortung, dass das Zeitfenster, das gerade offen ist, zur weiteren Gestaltung Europas genutzt wird.
"FAZ": Wollen Sie also weg von der Linie, die Merkel und ihr bisheriger Finanzminister Wolfgang Schäuble in Europa verfolgt haben?
Olaf Scholz: Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass es sich bei der EU um eine Partnerschaft handelt. Und gerade die Kraft, die Deutschland hat, darf nicht dazu führen, dass andere das Gefühl bekommen, dass wir allein die Politik bestimmen wollen.
"FAZ": Emmanuel Macron ist in ihre Partei nicht unumstritten. Für die einen ist er ein Hoffnungsträger, für die anderen ein Neoliberaler. Wie gehen Sie damit um?
Olaf Scholz: In der SPD sind wir uns alle einig, dass der proeuropäische Kurs Macrons ein wichtiger Impuls ist.
"FAZ": Sehen sie ihr Haus in Hamburg gut bestellt, wenn sie es denn als Finanzminister und Vize-Kanzler in Richtung Berlin verlassen?
Olaf Scholz: Hamburg wird gut regiert. Im Übrigen haben wir aber entschieden, dass wir erst nach dem Votum der Mitglieder über die Zusammensetzung des künftigen Kabinetts entscheiden. Dem greife ich auch jetzt nicht vor.
Das Interview führten Jasper von Altenbockum, Majid Sattar und Matthias Wyssuwa.