arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

02.04.2016

"Wir haben eine Aufgabe in Hamburg zu bewältigen" Interview mit der Hamburger Morgenpost

"Wir haben eine Aufgabe in Hamburg zu bewältigen" Interview mit der Hamburger Morgenpost

 

Hamburger Morgenpost: Die Balkan-Route ist dicht. Es kommen deutlich weniger Flüchtlinge nach Hamburg. Sind die umstrittenen Großunterkünfte nun überflüssig?

 

Olaf Scholz: In Hamburg werden keine Großunterkünfte errichtet. Viele denken dabei an die Großsiedlungen der 60er, 70er Jahre, als in Hamburg Stadtteile mit dreieinhalb bis neuneinhalb tausend Wohnungen entstanden sind. Die größte Einrichtung  mit festen Gebäuden für Flüchtlinge, die wir jetzt errichten, hat knapp 800 Wohneinheiten. Die meisten sind viel kleiner.

 

Hamburger Morgenpost: Und es müssen noch mehr werden ...

 

Olaf Scholz: Natürlich. Es sind fast 8000 Flüchtlinge in prekären Einrichtungen untergebracht, zum Beispiel in ehemaligen Baumärkten. Wir haben etwa 5000 Flüchtlinge, die über sechs Monate in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben und eigentlich in eine Folgeunterkunft gehören. Und es gibt über 3000 Bewohner von Folgeunterkünften, die wohnberechtigt sind, aber keine Wohnung auf dem normalen Wohnungsmarkt finden. Und es kommen auch in diesem Jahr viele Flüchtlinge.

 

Hamburger Morgenpost: Mit wie vielen Flüchtlingen rechnen Sie denn in diesem Jahr?

 

Olaf Scholz: Die Bemühungen für eine Verständigung in Europa haben sich ausgezahlt. Ich habe immer darauf bestanden, dass wir mit der Türkei, dem Libanon und Jordanien darüber sprechen, wie wir die Verantwortung für die Flüchtlinge gemeinsam wahrnehmen können. Die Sicherung der EU-Außengrenzen ist ebenso wichtig. Die Übereinkunft zwischen der Europäischen Union und der Türkei scheint fürs Erste gelungen zu sein. Trotzdem können wir frühestens Anfang des Sommers sagen, ob es weniger werden, als es der Trend des letzten Jahres vermuten lässt. Im Sommer werden sicher viele den Weg über das Mittelmeer versuchen. Klar ist: Je mehr es in kurzer Zeit werden, desto schwieriger wird es.

 

Hamburger Morgenpost: Die Volksinitiative gegen Großunterkünfte für Flüchtlinge macht ja ganz schön Dampf. Wie bewerten Sie deren Schlagkraft?

 

Olaf Scholz: Wir haben eine Aufgabe in Hamburg zu bewältigen. Es gibt eine gesetzliche Pflicht, die Flüchtlinge aufzunehmen und es ist jetzt notwendig, dass wir in einem öffentlichen Gespräch diskutieren, wie ihre Unterbringung gelingen kann. Die Frage lautet: Wo können neben den derzeit 140 Unterkünften weitere entstehen?

 

Hamburger Morgenpost: Sind Sie für einen Verteilungsschlüssel in Hamburg?

 

Olaf Scholz: Natürlich wünschen wir uns eine möglichst gleichmäßige Verteilung über die ganze Stadt. Letztendlich sind die Möglichkeiten aber begrenzt. Man muss zum Beispiel Grundstücke, die der Stadt nicht gehören, kaufen können. Viele Standorte scheiden aus, weil sich dort zum Beispiel eine Autobahn, ein Flughafen oder Hafen befindet, oder dort Wälder und Naturschutzgebiete sind, oder Fabriken oder Wohnungen. Zudem sind wir mit einem Bauplanungsrecht konfrontiert, das nicht unbedingt zu schnellen Lösungen führt. Ein Bebauungsplanverfahren dauert  in Hamburg etwa zwei Jahre und das ist vergleichsweise schnell. Wenn wir nur auf dieser Basis neue Unterkunftsmöglichkeiten schaffen könnten, müssten wir damit rechnen, dass Zehntausende über einen längeren Zeitraum obdachlos wären. Wir müssen also viele unterschiedliche Wege gehen.

 

Hamburger Morgenpost: Tatsachen, die gerne ausgeblendet werden. Die Volksinitiative fordert maximal 300 Flüchtlinge pro Standort und einen Abstand von mindestens 1000 Meter zwischen den  Unterkünften. Haben Sie Angst vor einem  Volksentscheid?

 

Olaf Scholz: Wir diskutieren über alle Vorschläge. Über die Unterbringung auf Schiffen, in Bürogebäuden, in Baumärkten. Es gibt vermutlich niemanden in der Stadt, der wüsste, wie es geht, dass man in tausend Meter Abstand voneinander jeweils Platz für 300 Flüchtlinge schaffen kann. Ich bin aber optimistisch, dass im weiteren Diskussionsprozess gute Argumente Beachtung finden werden und dass man zu gemeinsamen Erkenntnissen kommen kann.

 

Hamburger Morgenpost: Dennoch gibt es viele Ängste und Befürchtungen in der Hamburger Bevölkerung.

 

Olaf Scholz: Ich akzeptiere jede Sorge. Wenn jemand sagt, er sei nur deshalb gegen eine Flüchtlingsunterkunft in seiner Nachbarschaft, weil die Integration an anderer Stelle besser funktionieren kann, dann bemühe ich mich, das zu glauben.

 

Hamburger Morgenpost: Es laufen mehrere Verfahren gegen Unterkünfte, aktuell zur Unterkunft in Klein Borstel ...

 

Olaf Scholz: Wir haben eine ganze Reihe von Gerichtsverfahren, die alle nicht stattfinden dürften, wenn es um eine gerechte Verteilung in Hamburg ginge. Denn sie beziehen sich überwiegend auf Unterkünfte in Stadtteilen, wo nach einem gleichmäßigen Verteilungsschlüssel mehr Unterkünfte gebaut werden müssten und nicht weniger.

 

Hamburger Morgenpost: Unterbringung ist das eine, Integration das andere.

 

Olaf Scholz: Ganz sicher ist die Integration das Entscheidende für die, die bleiben können. Deshalb beginnen wir schon früh mit Bildungsangeboten und sorgen dafür, dass die Kinder zur Schule gehen können. Für die 15- bis 17-Jährigen sind unsere Berufsschulen zuständig. Bei allen, die erwerbsfähig sind, erfassen wir systematisch die Qualifikation und sorgen für die Integration in den Arbeitsmarkt. Das wichtigste ist, dass alle möglichst schnell Deutsch lernen. Und: Wir haben sehr viel Geld investiert, um sicher zu stellen, dass es trotz der zusätzlichen Kinder und Schüler keine Verschlechterung des Betreuungsangebots in Krippen und Kitas und bei der Qualität des Schulunterrichts gibt. Insgesamt haben wir im vergangenen Jahr übrigens etwa 600 Millionen Euro für die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge ausgegeben. Weil wir gut gewirtschaftet haben und sich die Konjunktur so gut entwickelt hat, ist uns das ohne neue Schulden gelungen.

 

Hamburger Morgenpost: Rechtspopulisten instrumentalisieren das Thema Flüchtlinge. Was ist zu tun?

 

Olaf Scholz: Schwierige Zeiten lösen immer große Diskussionen und auch Irritationen aus. Aber man muss immer bei der Sache bleiben, gerade dann. Das ist auch mein Vorschlag im Umgang mit dem rechten Populismus. Wenn wir über Straßenbau reden, reden wir über Straßenbau, wenn wir über Flüchtlinge reden, dann über Flüchtlinge. Man sollte niemandem den Gefallen tun, über ihn an sich zu reden. Auch keiner rechtspopulistischen Partei.

 

Hamburger Morgenpost: Warum gerade denen nicht?

 

Olaf Scholz: Das sind letztlich Schlechte-Laune-Parteien. Und schlechte Laune ist kein Programm. Wenn wir tough bleiben und über die realen Probleme unseres Landes diskutieren, wird weiterhin die Mehrheit der Bürger den Parteien vertrauen, die sich mit realistischen, vernünftigen Vorschlägen für die Zukunft unseres Landes einsetzen.

 

Hamburger Morgenpost: Die SPD ist so eine Partei. Die Umfragewerte sind aber erschreckend. Ist die Zeit vorbei, wo die SPD eine große Volkspartei war?

 

Olaf Scholz: Nein! Die meisten Regierungschefs in Deutschland werden von der SPD gestellt. Das kann sie nur, weil die SPD wie hier in Hamburg eine erfolgreiche Volkspartei ist. Und gleichzeitig erzielt die Partei in einigen Ländern schlechte Wahlergebnisse, etwa in Baden-Württemberg oder in Sachsen-Anhalt. Und die Umfragewerte deutschlandweit können nicht befriedigen.

 

Hamburger Morgenpost: Was muss man tun?

 

Olaf Scholz: Mein Rat an die SPD ist, dass sie das politische Verständnis der Volkspartei also eine pragmatische Partei zu sein, der jeder Bürger ohne Probleme die Regierung des ganzen Landes anvertrauen kann nicht aufgibt.

 

Hamburger Morgenpost: Die SPD hat soziale Projekte wie den Mindestlohn durchgesetzt. Dennoch setzen die Wähler ihr Kreuz weiterhin bei Angela Merkel. Ist es letztlich eine Frage der Persönlichkeit, also des richtigen Kanzlerkandidaten

 

Olaf Scholz: Für die Bürgerinnen und Bürger muss wahrnehmbar sein, dass wir wissen, was wir wollen damit sie uns letztlich das Vertrauen aussprechen, das Land zu führen.

 

Hamburger Morgenpost: Würde der Hamburger Bürgermeister sich zutrauen das Land zu führen?

 

Olaf Scholz: Ich habe schon vor und nach der letzten Bürgerschaftswahl gesagt, dass ich mich 2020 erneut um das Amt des Ersten Bürgermeisters bewerben werde.

 

Hamburger Morgenpost: Richten wir unseren Blick an die EU-Außengrenzen: Ist die Türkei mit Erdogan der richtige Partner für die Bundesregierung beim Thema Flüchtlinge?

 

Olaf Scholz: Wenn wir Flüchtlinge auf der ganzen Welt schützen, dann geschieht das oft auch in Ländern, die nicht gerade für ihre Vorreiterrolle in Sachen Demokratie bekannt sind, aber trotzdem den nächsten sicheren Zufluchtsort darstellen. Und da hat der Schutz der Flüchtlinge vor anderen politischen Themen erst einmal Vorrang.

 

Hamburger Morgenpost: Zum Beispiel?

 

Olaf Scholz: In Jordanien gibt es Fragen zur Demokratie, das gilt auch für den Libanon. Trotzdem leisten diese Länder Großartiges bei der Aufnahme der Flüchtlinge und werden deshalb auch unterstützt.

 

Hamburger Morgenpost: Zurück zur Türkei: Erdogan sorgt aktuell für seinen Satire-Protest für Schlagzeilen. Per Deutschem Botschafter versucht er seinen Einfluss nun auf deutsche Medien geltend zu machen. Da hätten wir uns als Medien schon eine Haltung der Deutschen Regierung gewünscht. Stattdessen wurde geschwiegen

 

Olaf Scholz: Ich glaube, dass man die Bundesregierung in dieser Frage nicht kritisieren sollte. Mit so einer Satire hätten deutsche Politiker sicher weniger Probleme. Und die deutschen Diplomaten werden bestimmt klarstellen, dass wir diesbezüglich andere Vorstellungen haben. In Deutschland sind solche Sendungen erlaubt.

 

Hamburger Morgenpost: Aber hätte man das nach außen hin wahrnehmbar klarstellen müssen?

 

Olaf Scholz: Da die Mehrheit der Staaten dieser Welt nicht so ist, wie wir uns das gerne wünschen, ist es wichtig, dass man Diplomatie nicht mit politischen Kundgebungen verwechselt.

 

Das Interview führten Frank Niggemeier, Renate Pinzke und Mike Schlink.