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10.06.2009

Wirtschaftliche und soziale Herausforderungen des neuen Jahrzehnts

Rede von Olaf Scholz anlässlich der FES-Veranstaltung "Deutschland 2020 aus der Krise in eine soziale Zukunft"

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

einige Jahrzehnte lang haben wir uns vorwiegend mit skeptischen Fragen herumgeschlagen, wenn wir in die Zukunft unseres Landes gesehen haben. Fragen, die sich so oder ähnlich wohl in allen industrialisierten und wohlhabenden Ländern gestellt haben:

Sind die Grenzen des Wachstums wirklich erreicht?
Ist der Traum der immerwährenden Prosperität tatsächlich ausgeträumt?
Geht uns schon bald die Arbeit aus?

Viele haben sich defätistisch in die Prämissen dieser Fragen gefügt. Auch in der Sozialdemokratie. Der Höhepunkt dieses Denkens war sicherlich das Berliner Programm. Ein gutes Programm, aber auch eines, das der SPD immer ein wenig fremd geblieben ist. Einer Freiheitspartei kann die Frage der Verteilung des Wohlstands allein nicht reichen. Eine Arbeitspartei kann ihr Heil nicht allein in Arbeitszeitverkürzung suchen. Eine Fortschrittspartei muss mehr machen als Technikfolgenabschätzung. Nicht nur wegen der Deutschen Einheit, sondern auch wegen dieser fundamentalen Fragen, blieb das Berliner Programm ohne Prägekraft. Vor allem wirtschaftspolitisch wirkte es wenige Jahre nach der Verabschiedung wie aus der Zeit gefallen.  Den meisten dämmerte, dass es ohne Wachstum nicht gehen wird. Dass es darauf ankommt, das Wachstum entsprechend zu gestalten. Defensivspiel ist nicht sozialdemokratisch. Der Glaube, dass man mit Sparen und Umverteilen des Vorhandenen allein, Wohlstand und Gerechtigkeit erreichen kann, liegt uns nicht. Deshalb reichten die melancholischen Antworten aus dem Jahr 1990 schon bald nicht mehr aus.

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit 1998 regieren wir wieder in Deutschland und gestalten unser Land. Wir hatten harte Entscheidungen zu treffen. Weil das Programmatische so war, wie es war, passte es vordergründig nicht so recht zu den pragmatischen Problemlösungen der Regierungsarbeit. Das sorgte für Irritation.

In der Rückschau können wir sagen: Wir waren gerade in den Anfangsjahren manchmal stolpernd, manchmal suchend, aber prinzipiell in der richtigen Richtung unterwegs. Es war die Wucht der Ereignisse, die unser Handeln trieb: der 11. September, weltwirtschaftliche Umbrüche, der Verlust von Steuerung. Die aktuelle Krise ist nicht der erste tiefe Einschnitt dieses Jahrzehnts. Unsere Antwort die Agenda 2010 ist unter dem Zwang dieser Umstände geboren worden und nicht nach wohlgeordneter und abgewogener Debatte. Das macht sie vielleicht weniger lehrbuchhaft, aber nicht weniger richtig. Sie war offen und flexibel angelegt und sie zeigt Erfolge: Die sozialen Sicherungssysteme stehen stabil da. Der Arbeitsmarkt ist moderner geworden. Und wesentliche Wachstumskräfte unserer Wirtschaft sind gestärkt. Aber vieles bleibt noch zu tun.

Wenn jetzt die Friedrich-Ebert-Stiftung ein Projekt Zukunft 2020 angestoßen hat, dann gibt uns das die Chance, das kommende Jahrzehnt koordiniert anzugehen mit mehr Klarheit über unsere Ziele und über die Instrumente, mit denen wir sie erreichen wollen.

Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass wir noch lange nicht am Ziel sind. Manche sozialen Indikatoren haben sich in der zurückliegenden Dekade verschlechtert. Nicht wegen unserer Politik, sondern weil wir gar nicht so schnell Dämme aufschütten konnten, wie die Fluten uns das Erreichte wieder weggerissen haben.

Wir dürfen nicht darum herumreden: Es geht nicht gerecht zu in Deutschland. Dumpinglöhne bedrängen den Wert und die Würde der Arbeit. Frauen haben zu wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt und verdienen zu wenig. Migranten werden immer noch weit unter ihren Qualifikationen eingesetzt. In manchen Bereichen unserer Gesellschaft verfestigen sich Armutsrisiken in dramatischer Weise. Gute Jobs brechen immer noch weg, ohne dass immer klar ist, was an ihrer Stelle nachkommt. Neue Flexibilitäten werden wie alte Risiken erfahren und gefürchtet.

So stolz die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger auf ihren Sozialstaat sind, so sehr zeigen Umfragen doch auch, dass die Unsicherheiten gewachsen sind. Die politische Gegenseite kalkuliert mit diesen Unsicherheiten und setzt darauf, dass die Angst disziplinierend wirkt. Der Weg der sozialen Demokratie ist das nie gewesen. Wir wissen aus der Sozialforschung sehr genau, dass Unsicherheiten Gift sind für die Stabilität und für die Leistungskraft von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen. Deswegen ist es für uns Sozialdemokraten zentral, dass wir die Stärken Deutschlands, seine soziale Demokratie, seine soziale Marktwirtschaft, seinen sozialen Staat und seine soziale Partnerschaft stabilisieren. Auf ihnen gründet berechtigtes Vertrauen in zukünftigen Wohlstand. In der Vergangenheit haben viele an ihnen gesägt. Damit ist jetzt Schluss.

Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt, dass unsere sozialdemokratischen Ideen gebraucht werden und dass es einen breiten Raum gibt, sie umzusetzen. Wir sind á jour! Wir haben den Rettungsschirm für die Banken aufgespannt. Wir haben zwei Konjunkturpakete durchgesetzt. Wir schützen mit Kurzarbeit und Qualifizierung Hunderttausende Arbeitsplätze. Und wir sind es auch gewesen, die dafür gesorgt haben, dass Opel in Europa eine Zukunft hat und nicht ob geordnet oder ungeordnet in die Insolvenz geschlingert ist.

Wir wissen, was zu tun ist. Ohne Sozialdemokraten in der Regierung wäre Deutschland durch diese Krise getaumelt.

Das liegt übrigens nicht nur daran, dass wir umsichtiger in der Regierung agieren und eine klare Führung haben. Nein! Ein wesentlicher Grund ist auch, dass wir auch programmatisch größere Klarheit haben als die anderen.

Heute, nach 11 Jahren an der Regierung, zeigt sich jedenfalls: Der innerparteiliche Konsens der SPD ist 2009 größer als 1998. Aus unserem Handeln der letzten Jahre hat sich eine Strategie herausgeschält, wie wir eine soziale Zukunft für Deutschland gestalten können.

Wir haben staatliches Handeln niemals diskreditiert. Wir haben nie geglaubt, dass der Markt alles richten könnte. Wir haben die Effektivität unserer sozialen Marktwirtschaft nie in Frage gestellt. Deswegen zwingt uns die Krise auch zu keinen spontanen Volten. Wir bleiben uns treu.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Aufgaben sind groß: Wenn wir tatsächlich so reich wie die USA, so sozial wie Schweden werden wollen, dann haben wir einiges vor uns.

Wer seinen wirtschaftlichen Erfolg als Exportweltmeister aufbaut, der steht natürlich unter besonderem Druck, sich auf die Veränderungen der Globalisierung einzulassen. Das bringt Wohlstand aber noch nicht für alle in gleicher Weise. Das zu ändern ist wohl die Grundvoraussetzung für die nächsten Jahre. Und ich bin der Friedrich-Ebert-Stiftung außerordentlich dankbar, dass sie eine ganze Reihe von Wissenschaftlern an die Frage gesetzt hat, wie das gehen kann.

Die Antworten, die der Zwischenbericht skizziert, machen Mut denn sie markieren die Felder, auf denen wir seit einigen Jahren unterwegs sind:

1.    Steigerung der Produktivität
2.    Erhöhung der Beschäftigung
3.    Sicherung der Nachfrage und
4.    Verbesserung der Verteilung

Das sind dauerhafte politische Aufgaben. Ich kann ruhigen Gewissens sagen, dass wir da etliches machen und dass wir für jede weitere Anregung dankbar sind. Wir haben begonnen, Linien zu ziehen, die wir gut in die Zukunft verlängern können. Denn noch stehen wir als Deutschland nicht da, wo wir hingehören. Wir wollen im wirtschaftlichen Wettbewerb und im sozialen Ausgleich an die Weltspitze. So reich wie die USA und so sozial wie Schweden, das stimmt schon. Wir haben das schon einmal geschafft. Das war kein Traum, sondern Realität. Und wenn wir hart dafür arbeiten, dann werden wir das auch wieder erreichen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich will aus meiner Sicht sagen, was in den vier Bereichen vordringlich zu tun ist:

Erstens: Steigerung der Produktivität.

Das ist zentral. Man kann sich nicht reich sparen. Es ist so banal wie richtig: Wachsenden Wohlstand werden wir nur erreichen können, wenn wir Wachstum haben. Dazu setzen wir auf Innovation und Qualität. Entscheidend wird sein, dass wir ausreichend qualifizierte Arbeit in Deutschland halten und entwickeln können.

Wir haben für das kommende Jahrzehnt zwei Möglichkeiten: Entweder werden wir ausreichend Fachkräfte und wenig Arbeitslose haben. Oder die Schlangen vor den Job-Centern werden lang sein, während die Personalverantwortlichen in den Betrieben gleichzeitig händeringend nach Fachleuten suchen werden. Wie es aussehen wird, entscheiden wir heute.

Deshalb investieren wir in der aktuellen Krise so viel Kraft und Energie, damit die Unternehmen zu ihren Beschäftigten stehen. Wir wollen, dass das Wissen und das Können in den Betrieben bleibt und dort mit Weiterbildungsangeboten in der aktuellen Leerlaufphase gefördert wird. Wenn jetzt Fachkräfte verloren gingen, dann würde es zum Teil schwer werden, sie rechtzeitig wiederzufinden. Außerdem würden sie ein Stück raus sein aus dem betrieblichen Geschehen. Kurzarbeit ist deshalb auch der Versuch, den Fachkräftekern zu erhalten.

Wir haben unseren wirtschaftlichen Wohlstand auf einer hohen Produktivität aufgebaut, die zum Wesen des Facharbeiterstolzes gehörte. Das müssen wir wiederbeleben, wo es verloren gegangen ist. Und neu schaffen, wo es nie vorhanden war.

Klar ist doch: Einen reinen Preiswettbewerb werden wir als soziale Marktwirtschaft nie gewinnen. Wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind. Und das können wir. Andere Länder haben es vorgemacht, Produktivitätssteigerungsraten zu erreichen, die über denen der USA liegen. Sie machen neuen gesellschaftlichen Reichtum möglich.

Mir ist wichtig, dass wir dabei besonders die Potenziale der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick haben. Das fängt bereits in der Schule an. 80.000 Schulabgänger ohne Abschluss pro Jahr sind eine Zahl, die niemanden, der hier Verantwortung trägt, ruhig schlafen lassen sollte. Auch die hohen Abbrecherzahlen an der Universität zeigen, dass wir hier ernste Probleme haben, alle bei der Stange zu halten.

Gleiches gilt für die Ausbildung: Wir hatten im letzten Jahr 600.000 neue Ausbildungsverträge. Das müssen wir auch in diesem Jahr wieder schaffen, denn nur dann können wir wenigstens einigen der Hunderttausenden Jugendlichen, die sich seit Jahren vergeblich um eine Lehrstelle bemühen, auch eine Perspektive geben.

Es geht um Einzelschicksale und darum, dass die Jungen und Mädchen einen Einstieg ins Berufsleben brauchen. Aber es geht auch darum, dass wir Produktivitätsreserven weit unter ihren Möglichkeiten versauern lassen.

Das gilt auch mit Hinblick auf die Versäumnisse bei der Weiterbildung in Deutschland. Wir brauchen sie, um mit älter werdenden Belegschaften wettbewerbsfähig zu bleiben. Längst ist erwiesen, dass sich Investitionen hier bereits nach wenigen Jahren vollständig auszahlen. Wenn wir über den Umbau von der Arbeitslosen- zur Arbeitsversicherung sprechen und das im Regierungsprogramm ankündigen, dann geht es uns genau darum: Rechtzeitig Qualifizierung fördern, damit Arbeitskraft erhalten bleibt, damit individuelle Perspektive möglich ist. Beides gehört zusammen.

Hier müssen wir noch eine völlig neue Kultur entwickeln und die Beteiligungsquote an solchen Angeboten von gerade einmal 43% auf deutlich über 50% erhöhen. Das ist für eine neue Kultur der Arbeit, wie wir sie im Arbeitsministerium derzeit mit den Vertretern aller relevanten Gruppen diskutieren, zentral.

Generell sind es die mitarbeiterorientierten Unternehmenskulturen, die den Erfolg versprechen. Alle Wettbewerbe und Benchmarks zeigen, dass Betriebe, die gut mit ihren Leuten umgehen, die ordentliche Arbeitsbedingungen bieten und Potenziale nutzen, dauerhaft erfolgreicher sind als diejenigen, die auf kurzfristigen Druck und Kostenoptimierung allein setzen.

Deshalb ist es auch sinnvoll, einen so genannten human potential index zu schaffen, mit dem man die Qualität der Arbeit in einem Unternehmen messen und bei Kreditratings berücksichtigen kann. Damit bekommt sie auch systematisch den Stellenwert, den sie faktisch eh schon hat.

Gute, gut bezahlte und gut qualifizierte Arbeit ist produktiver. Wenn es uns dann noch gelingt, die stillen Reserven zu heben und unfreiwillig an den Rand Gedrängte zu aktivieren, dann sind wir hier große Stücke vorangekommen auf dem Weg in eine soziale Zukunft.

Sehr geehrte Damen und Herren,

deswegen hängt der zweite Komplex eng mit dem ersten zusammen. Die Erhöhung der Beschäftigung ist die entscheidende Voraussetzung zu mehr und gerechter verteiltem Wohlstand in Deutschland.

Arbeit ist Anstrengung, keine Frage. Aber sie ist eben auch die Quelle alles Reichtums und der Schlüssel zu mehr Teilhabe an unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir alle Potenziale in unserer Gesellschaft auch ausreichend nutzen. Wir tun das nicht.

Uns fehlt nach wie vor die Infrastruktur, damit beide Partner gleichberechtigt am Erwerbsleben teilnehmen können. Noch immer verlieren wir an dieser Stelle zu viele Talente und Potenziale. Leisten können wir uns das buchstäblich nicht mehr.

Deswegen ist es richtig, dass wir den massiven Ausbau der Kindertagesbetreuung und den Rechtsanspruch darauf ab 2013 durchgesetzt haben, aber es reicht nicht aus. Wir müssen es viel schneller schaffen, dass fehlende Betreuungsmöglichkeiten kein Grund mehr sind, der eine Beschäftigung nachhaltig verhindert.

Eigentlich bräuchten wir in jeder Agentur für Arbeit und in jedem Job-Center einen Familienservice, der binnen 24 Stunden eine Betreuung organisiert, wenn es nötig ist.

Ein weiteres Feld, das wir angehen müssen, ist die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen. Sie ist nirgendwo in Europa so groß wie in Deutschland. Instrumente, mit denen sie geschlossen werden könnte, gibt es beispielsweise im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Wir können sie schärfen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in Deutschland werden viele Migrantinnen und Migranten weit unter ihren Qualifikationen beschäftigt. Ich kenne manche, die sich freuen, in bestimmten Städten Taxi zu fahren, weil dort die Wahrscheinlichkeit einen im Ausland studierten Philosophen zum Gesprächspartner zu bekommen größer ist, als an der Uni. Und es gibt zahlreiche Firmen, in denen ausgebildete Facharbeiter wie Ungelernte arbeiten, weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird. Es gibt also informelle wie formelle Hürden, die wir abbauen müssen.

Dazu brauchen wir ein Anerkennungsgesetz, nach dessen Bestimmungen jeder binnen weniger Wochen Klarheit hat, wo er steht und wie der eigene Abschluss hier anerkannt werden kann. Es ist doch irrwitzig, dass wir nach Ingenieuren suchen und manchen guten Ingenieur nicht in seinem Gebiet arbeiten lassen, nur weil er nicht in Deutschland gelernt hat. Wir haben unseren Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus dem Ausland zum 1. Januar dieses Jahres geöffnet. Festigen können wir diese Entscheidung nur, wenn wir auch die nötige Offenheit im Inneren entwickeln.

Sehr geehrte Damen und Herren,

entscheidend für die Steigerung der Beschäftigung wird sein, dass wir die Modernisierung der Arbeitsvermittlung weiter voranbringen. So lakonisch es klingt:
Die wesentliche Erkenntnis, die wir 2001/2002 gewonnen haben, als wir uns näher mit diesem ganzen Komplex befasst haben, war, dass Vermittlung nicht im Zentrum der alten Bundesanstalt für Arbeit stand. Das hat ein kurzer Blick auf die damalige Verteilung der Personalressourcen gezeigt.

Das haben wir beendet. Die Arbeitsvermittlung muss die modernste und leistungsfähigste Institution unseres Landes sein. Wer arbeitslos wird und dort hingeht, muss das Gefühl haben, dass sich die besten Leute um ihn kümmern.

Gerade jetzt in Zeiten der Krise ist es wichtig, dass wir die Arbeitsuchenden buchstäblich nicht alleine lassen. Deswegen haben wir direkt im ersten Konjunkturpaket die Zahl der Job-to-Job-Vermittler um 1000 erhöht und später noch einmal 5000 zusätzliche Vermittlerstellen geschaffen.

Diese Entscheidungen sind die Grundlage dafür, dass wir die gesetzlichen Betreuungsschlüssel von 1:150 bei den Erwachsenen und 1:75 bei den unter 25-Jährigen endlich erreichen können. Ich will aber ausdrücklich dazu sagen, dass wir da noch besser werden können. Wir brauchen das Signal, dass niemand alleine gelassen wird, wenn er in die existenzielle Krise der Arbeitslosigkeit gerät.

Wer 20 Jahre gearbeitet hat, weiß nicht, wie man eine Bewerbung angeht. Wer frisch aus der Schule kommt, ist vielleicht zunächst erschlagen von der Fülle neuer Eindrücke. Und auch manches kleine Unternehmen weiß nicht, wo es Fachleute finden soll.

Arbeitsvermittler sind Lotsen durch einen unübersichtlichen Arbeitsmarkt. Wenn wir ihnen die Bedingungen schaffen, diese Rolle auszufüllen, dann werden wir es auch wieder schaffen, unseren Beschäftigungsstand zu erhöhen. Dass wir im letzten Herbst über 40 Millionen Erwerbstätige und unter drei Millionen Arbeitslose hatten, hat gezeigt, dass es geht. Es wird wieder gelingen. Wenn wir es klug angehen und wenn wir parallel neue Märkte bei den Green Jobs, bei den haushaltsnahen Dienstleistungen entwickeln, dann wird Vollbeschäftigung im kommenden Jahrzehnt möglich sein. Von diesem Ziel darf eine soziale und demokratische Gesellschaft nicht ablassen. Alles andere wäre zynisch.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich komme damit zum dritten Punkt, zur Stärkung der Nachfrage.

Wenn wir Vollbeschäftigung erreichen wollen, dann müssen wir beim Neustart unserer sozialen Marktwirtschaft nach der Krise darauf achten, dass wir nicht mehr im bisherigen Maße nur vom Export abhängig sind. Die Tatsache, dass wir mehr produzieren als konsumieren, ist eine Quelle unseres Wohlstandes, aber sie macht uns auch anfällig für weltweite Schwankungen, die sich unserem Einfluss entziehen. Deswegen ist es wichtig, dass wir den Binnenmarkt ankurbeln. Seit 1998 haben wir mit gezielten und massiven Steuersenkungen dafür gesorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Geld zur Verfügung haben.

Aber wir werden Nachfrage dauerhaft nur sichern können, wenn die Verunsicherung, von der ich eingangs gesprochen habe, abnimmt. Vertrauen ist eine zentrale Ressource in komplexen Gesellschaften. Es ist ein positiver Wechsel auf die Zukunft.

Nach wie vor sind wir Deutschen Weltmeister nicht bloß beim Exportieren, sondern auch beim Sparen. In diesem Zusammenhang sind auch die sozialen Sicherungssysteme von zentraler Bedeutung. Wer ihnen Vertrauen kann, der wird bereit sein, Geld in den Konsum zu geben. Wer sich halbwegs sicher ist, dass die Not nicht kommt, der kann sich auch bei der Zeit einen Wunsch mehr erfüllen. Gerade deshalb ist auch die Garantie, dass die Renten nicht sinken werden, so wichtig. Sie schafft dieses Vertrauen übrigens nicht nur für die jetzige Rentnergeneration, sondern auch für alle nachfolgenden.

Wenn wir von Nachfrage reden, dann sind damit aber natürlich nicht bloß die individuellen Konsumenten gemeint. Es geht auch um die inländische Nachfrage nach Maschinen oder Ausrüstungsgütern. Es geht um die Dienstleistungen, die eingekauft werden. Und es geht um staatliche Investitionsimpulse.

Es hat sich als ein Segen erwiesen, dass wir in Deutschland unsere industriellen Kerne erhalten haben wie jetzt zuletzt auch Opel. Um ihre Nachfrage herum bilden sich ganze Netzwerke von Angeboten, durch die Hunderttausende Arbeit und Wohlstand finden können. Deswegen brauchen wir auch künftig eine Industriepolitik, die diese Kerne schützt und entwickelt. Nicht protektionistisch, aber mit klarem Blick für unsere deutschen Interessen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

diese Kerne sind die ökonomische Grundlage dafür, dass wir genug erwirtschaften, das wir verteilen können. Das ist der vierte Aspekt. Zugleich der Kern der Gerechtigkeitsfragen. Gerade in dieser Frage haben wir in den vergangenen Jahren dramatische Entwicklungen erleben müssen. Immer mehr Kapital ist in immer weniger Händen konzentriert. Vieles davon auch in anonymen Kapitalsammelstellen, in denen Verantwortung ins großen Fonds versickert.

Dieses Spekulationsgeld hat uns in die Krise gebracht, in der wir uns befinden. Hier sind Renditeziele an der Tagesordnung gewesen, die nur auf Kosten der Substanz erreicht werden konnten. Deshalb brauchen wir neue Regeln für die Finanzmärkte.

Eine gerechtere Verteilung ist ein wirtschaftlich sinnvolles Anliegen ganz zu schweigen davon, dass es auch ein sozial notwendiges ist.

Die SPD wird in der kommenden Legislaturperiode den steuerlichen Beitrag derjenigen ausbauen, die im Jahr mehr als 125.000 bzw. 250.000 Euro verdienen. Es ist vernünftig, diese Gruppe angemessen an den Kosten der Allgemeinheit zu beteiligen.

Gleichzeitig werden wir uns weiterhin für Mindestlöhne einsetzen. Es darf nicht sein, dass am einen Ende der Skala die Millionen nur so sprudeln, während zeitgleich woanders für 3,18 Euro die Stunde gearbeitet werden muss. Solche Gehaltsunterschiede zeigen, dass manchem Maß und Mitte abhanden gekommen sind. Es ist auch eine politische Aufgabe, sie wieder zu markieren und Abweichler zurückzuzwingen. Arbeit hat einen Wert, der sich ausdrücken muss. Die individuelle Leistung muss sich im Wortsinne auszahlen.

Insbesondere die Kinder leiden, wenn die Eltern keine oder schlecht bezahlte Arbeit haben. Wenn auch nur ein Elternteil einen Job hat, sinkt die Armutsrisikoquote der Kinder von 48% auf 8%. Schon diese beiden Zahlen zeigen, was zu tun ist.

Wir dürfen auch die Kinder in den Familien, in denen keiner arbeitet, nicht alleine lassen. Deswegen haben wir eine dritte Stufe beim Kinderregelsatz eingeführt. Deswegen gibt es in diesem Jahr zum ersten Mal ein Schulbedarfspaket für wichtige Anschaffungen zu Beginn des Schuljahres. Und deswegen haben wir Kinder beim zweiten Konjunkturpaket mit einem Bonus besonders unterstützt. Kinder sind unser Reichtum, sie dürfen kein Armutsrisiko sein.

Eine gerechtere Verteilung wird uns vor allen Dingen gelingen, wenn wir die Zuwächse unserer volkswirtschaftlichen Entwicklung klüger verteilen als in der Vergangenheit. Wenn wir alle angemessen teilhaben lassen, an dem was künftig erwirtschaftet wird, können wir die Schere wieder etwas zusammenbringen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Zeiten stehen paradoxer Weise günstig, um solche Anliegen in die Tat umzusetzen. Die Ideologie des Marktradikalismus ist gescheitert. Dass Märkte soziale, kulturelle und auch politische Regeln brauchen, wird allerorten wieder anerkannt.

Aber es gibt nicht wenige gerade im konservativ-liberalen Lager , die tatsächlich immer noch glauben, dass es einen Weg zurück vor die Krise geben könnte, dass es sich um einen Betriebsunfall handelt, der wegrepariert werden kann. Sie täuschen sich.

Es hat auch keinen Sinn, jetzt mit Moralisierungen auf die Krise zu reagieren. Es waren nicht bloß Gier und Maßlosigkeit, die uns in die heutige Lage gebracht haben. Dahinter stehen systemische Fragen des globalen Finanzkapitalismus, die grundlegender Veränderungen bedürfen.

Wir brauchen einen Neustart der sozialen Marktwirtschaft, mit neuen Regeln zur Organisation unserer Finanzen und unserer Arbeit. Regeln, die den Geist der sozialen Marktwirtschaft auch unter den Bedingungen globalen Wirtschaftens zum Fliegen bringen werden.

Möglich ist das. Und nötig erst recht, wenn wir den Weg des Sozialen Fortschritts bis 2020 weitergehen wollen. Das ist die Debatte, die wir jetzt führen müssen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!