Ein Beitrag von Olaf Scholz für die Financial Times Deutschland zur Fachkräftedebatte in Deutschland.
Das Spiel ist bekannt: Wer mit seinen Aufgaben überfordert ist, lenkt gerne ab, indem er andere Themen anspricht. So auch der bayrische Ministerpräsident. Er ist in Schwierigkeiten, und was tut er? Er fängt eine Debatte über Fachkräfte und Zuwanderung an. Dabei macht er zwar viel Lärm, aber fordert nichts. Trotzdem geht der Plan auf. Viele reagieren auf ihn, nehmen dafür und dagegen Stellung, obwohl er doch gar nichts gefordert hat. Auch die Regierungskoalition ist darauf eingestiegen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle ist für ein Punktesystem, Innenminister de Maiziére dagegen. Und so lenkt die Vielfalt an Stimmen davon ab, dass auch die Regierungskoalition in Berlin integrationspolitisch nicht vorankommt: Ein Gesetz für die Anerkennung ausländischer Studienabschlüsse ist längst überfällig. Tausende Interessenten warten auf eine Teilnahmeberechtigung zum Integrationskurs, doch die Bundesregierung lässt sie warten, weil sie die Kurse unterfinanziert. Da kommt die Debatte über Fachkräftemangel gerade recht. Selbst seriöse Medien kommentieren Seehofers dröhnendes Nichts. Fakten stören in dieser Debatte. Trotzdem sollen einige wenige hier erwähnt werden:
Deutschland hat seit Anfang des Jahres 2009 den offensten Arbeitsmarkt für akademisch qualifizierte Arbeitskräfte auf der ganzen Welt. Das haben wir gemeinsam in der Großen Koalition geschafft. Sowohl Union als auch SPD haben seinerzeit erkannt, dass eine weitergehende Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes sinnvoll ist. Hochqualifizierte Arbeitskräfte aus der Europäischen Union können seither uneingeschränkt in Deutschland Arbeit suchen und ihr nachgehen. Sie müssen nicht auf die Freizügigkeit für Arbeitskräfte in der EU im Mai 2011 warten.
Akademisch Qualifizierte aus allen anderen Ländern können kommen. Sie müssen nur akzeptieren, dass zuvor geprüft wird, ob das für sie vorgesehene Gehalt dem entspricht, was sonst in Deutschland gezahlt wird und ob es einen inländischen Bewerber oder EU-Bürger gibt, der diese Tätigkeit auch verrichten kann. Wenn das nicht der Fall ist, steht ihrer Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt nichts entgegen. Zur Klarstellung: Es reicht bereits ein Einkommen von beispielsweise 31.000 Euro, wenn es eben das übliche Gehalt ist.
Daneben gibt es noch das "Super-Premium-Gold-Paket", nämlich die Möglichkeit ohne Vorrangprüfung und mit unbefristeter Aufenthaltsperspektive als akademisch qualifizierte Kraft zuzuwandern. Die ist an die Überschreitung eines bestimmten Jahreseinkommens geknüpft. Dieser Betrag wurde zum 1. Januar 2009 von einer Summe von etwas über 80.000 auf damals 64.800 Euro im Jahr abgesenkt. Er orientiert sich an der Beitragsbemessungsgrenze zur gesetzlichen Rentenversicherung und liegt aktuell bei 66.000 Euro. Natürlich kann man sich eine geringere Summe für diese sehr einfache Zuwanderungsmöglichkeit vorstellen. Man muss allerdings wissen, dass sich dies auf den Arbeitsmarkt für akademisch qualifizierte Arbeitskräfte, insbesondere den Einstiegsarbeitsmarkt für junge Ingenieure und andere Spitzenkräfte, auswirkt. Es besteht die Gefahr, dass deren Gehälter sinken, wenn eine preiswertere Konkurrenz aus anderen Ländern möglich ist. Aus diesem Grund darf die Schwelle nicht zu weit nach unten gesenkt werden Lohndumping darf nicht unser Ziel sein.
Die Wechsel in ein anderes Land ist häufig eine Entscheidung der ganzen Familie. Hochqualifizierte müssen sich für ein interessantes Arbeitsplatzangebot nicht von ihrer Familie trennen. Die Ehegatten können mitkommen und unmittelbar, ohne Vorabprüfung, eine Arbeit in Deutschland aufnehmen.
Der Austausch von Managern innerhalb eines Konzerns ist ohne Einschränkung möglich.
Das heißt: Auch leitende Angestellte und Personen, die unternehmensspezifische Kenntnisse haben, können bei einer konzerninternen Versetzung nach Deutschland ohne Vorrangprüfung hier arbeiten. Das gleiche gilt für ihre Familienangehörigen.
Wer in Deutschland einen Universitätsabschluss erworben hat, kann auch in Deutschland einen Arbeitsplatz suchen und ohne Vorabprüfung eine Arbeit aufnehmen. Es wird lediglich überprüft, ob das Gehalt vorgesehen ist, das üblicherweise gezahlt wird und ob das etwas mit der Ausbildung zu tun hat, die man an einer deutschen Universität absolviert hat. Übrigens besteht diese Möglichkeit auch noch Jahre später.
Und wer das Abitur an einer deutschen Auslandschule gemacht hat, kann ebenfalls ohne Vorabprüfung leicht in Deutschland arbeiten.
Gemessen an diesen Fakten kommt einem die aktuelle Debatte ziemlich bizarr vor.
Eines ist aber auch klar: Ein Fachkräftemangel bei Berufen, die eine klassische Lehre voraussetzen, existiert nur, weil die Unternehmen ihrer Verantwortung im Bereich der Ausbildung nicht nachkommen. So werden in den Pflegeberufen nicht nur zu geringe Löhne gezahlt, es wird auch zu wenig ausgebildet. Wenn dieses Problem aber über Zuwanderung gelöst würde, dann wird es in Deutschland nicht gelingen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Die Lösung muss lauten: mehr Berufsausbildung für junge Menschen und die Nachqualifizierung derjenigen, die arbeitslos sind und nicht können, was der Arbeitsmarkt benötigt. Es ist verheerend, dass in den nächsten Jahren Milliarden bei der Qualifizierung von Arbeitslosen eingespart werden sollen, während in Deutschland lauter öffentliche Reden über die Notwendigkeit besserer Qualifizierung von Arbeitssuchenden gehalten werden. Das ist unmoralisch.