Das sozialdemokratische Projekt in einer globalisierten Welt
Die Globalisierung verändert die Welt und die Geschwindigkeit der Veränderungen nimmt zu. Heftig wird darüber gestritten, ob die Globalisierung die sozialstaatlichen Traditionen gefährdet oder - trotz und alledem - eine solidarische Gesellschaft möglich bleibt.
In Deutschland trat der moderne Sozialstaat bereits im vorletzten Jahrhundert auf. Die Einbindung in Marktwirtschaft und den Welthandel hat stets den Rahmen für die Ausbildung der spezifischen Institutionen des deutschen Sozialstaates abgegeben. Das verkennen diejenigen, die unter Berufung auf die Globalisierung zum Sozialabbau aufrufen. Der deutsche Sozialstaat hat den Menschen ermöglicht, ihren Weg im Auf und Ab wirtschaftlichen Wachstums und wirtschaftlicher Krisen zu gehen. Das kann der moderne Sozialstaat auch in Zukunft. Daran ändert die Globalisierung nichts. Wenn sich die wirtschaftlichen Entwicklungen beschleunigen, wird die Sorge dafür, dass niemand am Wegesrand zurückbleibt, sogar dringender. You'll never walk alone, heißt ein Lied, das in den Fußballstadien gesungen wird. Es ist im Grunde das sozialdemokratische Projekt in der globalisierten Welt.
Es sind mächtige sozialstaatliche Institutionen entstanden, die sicherstellen sollen, dass niemand alleine durch die sich immer schneller drehende Welt gehen muss.
Die erste Institution des deutschen Sozialstaates ist ähnlich wie in vielen anderen Sozialstaaten die öffentlich gewährleistete und aus Steuermitteln finanzierte Basisabsicherung (Grundsicherung, Arbeitslosengeld II etc.).
Die zweite Institution des deutschen Sozialstaates wird geprägt von dem spezifisch deutschen Weg, soziale Sicherheit über Sozialversicherungen zu gewährleisten. Krankenversicherung, Rentenversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung bieten für die meisten Menschen eine Sicherheit oberhalb des steuerfinanzierten Basisniveaus.
Die Sozialversicherungstradition reicht bis zum Streit zwischen Kaiserreich und Sozialdemokratischer Partei zurück. Heute gehören die Sozialversicherungen genauso zur nationalen Identität der Deutschen wie Goethe und Schiller.
Entgegen der modernen Klage über die Path Dependency wäre ein Pfadwechsel hin zu einem vollständig steuerfinanzierten Sozialstaat nicht realistisch. Höhere Steueranteile an der Finanzierung des Sozialstaates sind nötig. Ein Ersetzen sämtlicher Sozialversicherungsbeiträge durch Steuermittel ist aber angesichts eines Beitragsaufkommens von mehreren hundert Milliarden Euro politisch undurchsetzbar.
Natürlich müssen die Sozialversicherungen stets an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Die deutsche Politik hat es in den letzten Jahren geschafft, dass Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherungen ausgeglichen bleiben, ohne dass die dafür aufzubringenden Beiträge eine Größenordnung erreichen, die von den Zahlenden nicht mehr akzeptiert wird.
Bei der Rentenversicherung war es notwendig, Rücksicht darauf zu nehmen, dass wir heute später in das Berufsleben eintreten als früher und länger leben.
Bei der Krankenversicherung ist es angesichts des Kostendrucks, der vom medizinischen Fortschritt und der zunehmenden Lebenserwartung ausgeht, eine ständige Aufgabe für gute medizinische Leistungen zu vernünftigen Preisen zu sorgen.
Die größte verbliebene Reformaufgabe in der Krankenversicherung entsteht aus der historisch begründeten Beschränkung der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Angehörigen. Daraus ist ein ordnungspolitisch problematisches Nebeneinander von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Versicherungen geworden. Es muss in absehbarer Zeit gelingen, die privat krankenversicherten Bürgerinnen und Bürger in die solidarischen Verpflichtungen der Wohlhabenderen mit ihren ärmeren Zeitgenossen einzubeziehen.
Der sozialpolitische Fortschritt ist oft langsam. Immerhin bis in die jüngste Zeit hat es gedauert, dass jeder Mensch in Deutschland einen bezahlbaren Zugang zu einer Krankenversicherung hat. Alle Menschen sind demnächst entweder in der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung versichert.
Bei der Rentenversicherung steht dieser sozialpolitische Fortschritt noch aus. Eine ähnliche Regelung für die Rentenversicherung fehlt nämlich, obwohl die Zahl der ehedem selbstständigen Alten, die nicht über eine zureichende Altersversorgung verfügen, dramatisch zunehmen wird.
Kündigungsschutz, betriebliche Mitbestimmung und Mitbestimmung auf der Ebene der Unternehmensführungen prägen die Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Sie sind die dritte sozialstaatliche Institution. Ihre heutige Gestalt erhielten die Betriebsverfassung und die Unternehmensmitbestimmung (Paritätische Mitbestimmung) als in den siebziger Jahren sozialdemokratische Kanzler die deutsche Regierung führten. Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen hat sich bewährt.
Die immer wieder aufgestellte Behauptung, dass der Kündigungsschutz Arbeitsplätze gefährde, hat sich nie seriös beweisen lassen. Spätestens in jedem Aufschwung und mit den damit verbundenen zahlreichen Neueinstellungen werden die ohnehin nicht stichhaltigen Argumente der Gegner des Kündigungsschutzes schnell widerlegt.
Die Mitbestimmung im Betrieb und im Bereich der Unternehmensführung ist kein deutscher Anachronismus. Jedenfalls ist es in der EU gelungen, Regelungen durchzusetzen, die auch bei grenzüberschreitenden Unternehmenszusammenschlüssen die deutsche Mitbestimmung sichern. Nicht ausgeschlossen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anderer Länder die nun für sie möglichen Erfahrungen mit der Unternehmensmitbestimmung in ihre Staaten tragen. Schließlich gibt es in international agierenden Konzernen, die oft in kurzer Zeit über Standortschließungen und Massenentlassungen entscheiden, nur im Rahmen des Mitbestimmungsmodells einen Weg darauf zu bestehen, dass die Belange der Beschäftigten ernst genommen werden.
Die großen Institutionen des deutschen Sozialstaates werden durch die Globalisierung nicht infrage gestellt. Es zeigt sich, dass sie behutsam und klug weiterentwickelt auch in Zukunft nicht nur benötig werden, sondern auch Bestand haben können. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sollten sich zu ihnen bekennen.
Übrigens gilt das auch für die Sozialpartnerschaft, die zu Unrecht in Verruf geraten ist. Gerade diejenigen, die das Wort Globalisierung als Schlachtruf gegen den Sozialstaat einsetzen, verachten den Konsens von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Sie haben nicht Recht. Seit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit haben die vergleichsweise partnerschaftlichen Beziehungen im Arbeitsleben der Leistungskraft der deutschen Volkswirtschaft genützt.
Es genügt natürlich nicht, lediglich diese sozialstaatlichen Institutionen zu modernisieren und zu bewahren. Die Menschen müssen auch in die Lage versetzt werden, mit den Herausforderungen in ihrem Leben, die unter den Bedingungen beschleunigten Wandels eher größer werden, zurechtzukommen. Wenn niemand bei dem schnelleren Marschtempo am Wegesrand zurückbleiben soll, müssen wir die Menschen dazu befähigen.
Das Ende der Arbeitsgesellschaft ist noch lange nicht in Sicht. In unserer auf Erwerbsarbeit aufgebauten Zivilisation erschüttert es deshalb den Zusammenhalt, wenn große Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung außen vor stehen. Die Arbeitsvermittlungsreformen, die den erfolgreichen skandinavischen, britischen und niederländischen Mustern folgten, zeigen jetzt die ersten Erfolge. Dieser Weg ist weiter zu beschreiten: Die Arbeitsvermittlung muss zu den erfolgreichsten öffentlichen Institutionen gehören. Die Bürgerinnen und Bürger die auf Arbeitssuche sind, dürfen in dieser schwierigen Lage nicht alleine gelassen werden. Sie müssen das berechtigte Gefühl haben, dass alles Mögliche unternommen wird, um ihnen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen. Wenn von den arbeitsuchenden Bürgerinnen und Bürgern größere Mobilität erwartet wird, können sie erwarten, vor grenzenloser Ausbeutung geschützt zu werden. Daher ist ein gesetzlicher Mindestlohn ein Baustein einer Gesamtstrategie auf dem Arbeitsmarkt.
In unseren modernen Gesellschaften steigen die Bildungsanforderungen beständig. Qualifikationen, die noch vor wenigen Jahrzehnten ausreichten, genügen heute oft nicht mehr. Natürlich müssen deswegen nicht alle jungen Menschen ein Studium anstreben. Aber die Bedeutung guter Bildung für ein sicheres Berufsleben wächst. Und weil Bildungsmentalitäten schon lange vor der Einschulung festgelegt werden, müssen Krippen und Kindergärten allen unabhängig von ihrer familiären Herkunft Chancen eröffnen. Chancen für alle eröffnen nur qualitativ hochwertige und kostenlose Krippen, Kindergärten, Schulen und Universitäten. Es reicht dabei nicht, dass die Bildungseinrichtungen allen offen stehen, es müssen mehr ihre Möglichkeiten nutzen. Eine gerechte Bildungspolitik beschränkt sich auch nicht auf eine einzige Chance im Leben. Immer wieder müssen die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, ihre Qualifikation zu verbessern. Ein lebenslanges Recht, einen allgemeinen Bildungsabschluss (Hauptschule, Realschule, Abitur) zu erreichen, sollte in einer modernen demokratischen Gesellschaft selbstverständlich und finanziell und institutionell abgesichert sein.
Angesichts der beständigen Migration ist die Integration der Zuwanderer für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes von zentraler Bedeutung. Auf unterschiedliche Weise stellt sich diese Aufgabe allen wirtschaftlich erfolgreichen Nationen.
Acht Millionen Menschen in Deutschland haben eine Behinderung, die meisten davon haben sie im Laufe ihres Lebens erst erworben. Jeder und jede könnte potentiell betroffen sein. Die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen am sozialen Leben ist ein Anliegen, dass alle verfolgen sollten. Die Qualität einer Gesellschaft drückt sich im Umgang mit ihren behinderten Bürgerinnen und Bürgern aus.
Aktuell wird in den Debatten zur Globalisierung vorhergesagt, dass Gesellschaften, die auf Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat beruhen, keine Chance gegen Staaten haben, für die außer dem Bekenntnis zu einer wilden Form des Kapitalismus keine dieser Errungenschaften eine Bedeutung hat. Warten wir es ab. Marktwirtschaftliche Gesellschaften benötigen autonome Bürgerinnen und Bürger. Auch die Menschen in diesen Staaten wünschen Demokratie, Rechtstaat und Sozialstaat. In der zusammenwachsenden Welt gehört der solidarischen Gesellschaft die Zukunft.