arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

30.05.2013

150-Jahr-Feier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

150-Jahr-Feier der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

 

Sehr geehrter Herr Kruschinski,

sehr geehrter Herr Prof. Haas,

sehr geehrte Frau Bischöfin,

sehr geehrte Damen und Herren, 

 

es ist bezeichnend, dass die Ursprünge der Alsterdorfer Arbeit mit Behinderten nicht in erster Linie auf theoretische Überlegungen zurückgehen, sondern auf eine prägende Begegnung. 

 

Der Hamburger Pastor und promovierte Philosoph Heinrich Sengelmann, der als kluger, warmherziger und tätiger Mann beschrieben wird, hatte bereits 1850 eine sogenannte Arbeitsschule für vernachlässigte Kinder gegründet. Als er später im Gängeviertel den geistig behinderten Carl Koops kennenlernt, entsteht in Sengelmann wie er sich ausdrückt ein Brand in Herz und Gewissen, weil es für den Jungen keine angemessene Unterbringung und Betreuung gibt. 

 

In Folge dieser Begegnung entwickelt Sengelmann die Idee eines geeigneten Asyls und veröffentlicht einen Aufruf in seinem Sonntagsblatt: Hamburg, heißt es darin, hat für die Ärmsten unter den Armen noch nichts getan. 

 

Sengelmanns Aufruf, etwas gegen die Missstände zu tun, bleibt nicht ungehört. Im Oktober 1863 eröffnet er das mit Spenden und eigenen Mitteln gekaufte kleine Fachwerkhaus für vier geistig behinderte Jungen und einen Hausvater der Anfang der späteren Alsterdorfer Anstalten. Heinrich Sengelmann und seinen Unterstützern ist schon damals bewusst, dass jemand ohne Bildung und Ausbildung kaum Chancen auf ein gutes Leben hat. 

 

Der Anspruch auf eine qualifizierte Bildung und Berufsbildung für alle besteht also seit mindestens 150 Jahren, und er ist aktueller denn je. Ausbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für jede und jeden, ob mit oder ohne Behinderung, ist das entscheidende Kriterium für ein selbstverantwortetes Leben, für rechtliche und soziale Gleichstellung und finanzielle Unabhängigkeit. Erst damit eröffnet sich der Weg aus der sozialen Abhängigkeit hin zu Teilhabe und Selbstverantwortung. 

 

Das alles klingt ziemlich abstrakt. Aber das, was wir mit den modernen Begriffen Inklusion und Integration bezeichnen, benennt ganz praktische Lebensaspekte für den Einzelnen: Wo lerne ich? Was lerne ich? Wie wohne und lebe ich, wie werde ich wertgeschätzt? Und welche Perspektiven habe ich, mein Leben zu gestalten, wie es mir entspricht? 

 

Viele werden sich noch an den alten Namen der deutschen Behindertenhilfe Aktion Sorgenkind erinnern. Inzwischen heißt sie Aktion Mensch, und das sagt eine Menge darüber aus, wie sehr sich der Blick der Gesellschaft auf diese Fragen verändert hat. Bei kaum einem anderen sozialen Thema sind in den vergangenen Jahren ein so großer gesellschaftlicher Wandel und so viel Bewegung spürbar, wie bei der Rolle und dem Platz von Männern und Frauen, Jugendlichen und Kindern mit Handycap in unserer Gesellschaft. Gut so! 

 

Auch die Politik hat sich bewegt: 2001 wurde das Sozialgesetzbuch IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen verabschiedet; 2008 folgte das Bekenntnis der deutschen Sozialminister zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe. 

 

Darin heißt es: Im Mittelpunkt steht der Mensch mit Behinderung als Subjekt und nicht als Objekt fürsorglichen Handelns. Eine am Leitmotiv ‚Bürgerrechte statt Fürsorge‘ anknüpfende Politik ist eng damit verbunden, Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in den grundlegenden Lebensbereichen Arbeit, Wohnen, Mobilität und Freizeit mitten in unserer Gesellschaft zu verwirklichen. 

 

Ein großer Fortschritt war die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, der die Bundesrepublik Deutschland, in meiner Zeit als Arbeits- und Sozialminister, per Gesetz zum 1. Januar 2009 beigetreten ist. 

 

Die Richtlinien der Vereinten Nationen dürfen allerdings nicht nur ein Stück Papier bleiben eine Konvention beschreibt schließlich noch lange nicht, wie die darin postulierten Rechte im Alltag umgesetzt werden. 

 

Der Hamburger Senat hat einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention verabschiedet. Er zählt eine Vielzahl von Maßnahmen in allen gesellschaftlichen Bereichen von der Bildung über Arbeit und Beschäftigung bis hin zum Bauen und Wohnen auf, um nur einige zu nennen. Großen Wert haben wir darauf gelegt, den Aktionsplan gemeinsam mit den Interessensvertretungen, der Senatskoordinatorin für die Gleichstellung Behinderter und dem Landesbeirat vorzubereiten und zu erstellen und ihn so auf eine breite Basis zu stellen. Nun gilt es, ihn mit Leben zu füllen. 

 

Die Länder haben mit der Bundesregierung besprochen, ein Bundes¬leistungs¬gesetz für Menschen mit Behinderung zu entwickeln. Das moderne Leitbild der Teilhabe spricht dagegen, Behinderte auf das System der Sozialhilfe zu verweisen. 

 

Die Werkstätten leisten dabei seit Langem wertvolle Arbeit und werden auch künftig benötigt. Aber auch alternative Formen der Teilhabe müssen entwickelt und angeboten werden, um die Pluralität des Arbeitslebens auch für Behinderte nutzbar zu machen. 

 

Dieser Inklusionsgedanke muss sich ebenso im Alltag bewähren, im täglichen Miteinander, beim Lernen, bei der Arbeit, bei der Freizeitgestaltung und in der Nachbarschaft in allen Bereichen unserer Gesellschaft! 

 

Denn in Deutschland ist der Sozialstaat zwar gut ausgebaut. Aber mancher Staat hat trotz geringerer öffentlicher Hilfsleistungen eine offenere Alltagskultur im Umgang mit Behinderten. 

 

Die Vielfalt in unserer Stadt ist eine große Bereicherung und macht das Leben in einer Metropole aus. Männer, Frauen und Kinder mit Handycap gehören als Bürgerinnen und Bürger, als Nachbarn oder Kollegen selbstverständlich dazu. 

 

Wenn wir uns hier auf dem Alsterdorfer Marktplatz umsehen, erkennen wir die Entwicklung der vergangenen Jahre deutlich. Es ist nicht lange her, da sah es hier ganz anders aus: Wer sich auf das Gelände der damaligen Alsterdorfer Anstalten begab, verließ gewissermaßen den Stadtteil Alsterdorf, und jedem war bewusst, wo die Grenze verlief. 

 

Inzwischen 

  • ist die Großeinrichtung aufgelöst und sind die Angebote dezentralisiert worden, 
  • es gibt Wohnangebote in den Stadtteilen 
  • und ambulante Leistungen im eigenen Wohnraum der Betreuten sind an die Stelle stationärer Unterbringung getreten. 

 

Und nicht zuletzt ist auch das Stiftungsgelände geöffnet worden als Teil eines städtebaulichen Konzeptes für den Alsterdorfer Markt. 

 

Meine Damen und Herren, 

der Umgang mit Minderheiten war in der deutschen Geschichte der vergangenen 150 Jahre geprägt von bewundernswertem christlichen und humanistischen Engagement einerseits und menschenverachtender Grausamkeit andererseits. Die Zeiten von Euthanasie und der Geist des Wegsperrens sind längst und hoffentlich für immer Vergangenheit. 

 

Trotzdem hat die Gesellschaft noch lange nach der Nazi-Herrschaft diejenigen als behindert abgestempelt, die als anders empfunden wurden. Mit ihnen konnte unsere Gesellschaft lange nicht umgehen; sie wurden weiter ausgegrenzt. 

 

Die Lehre aus der Geschichte lautet: Es ist genau diese Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die verhindert, dass behinderte und nichtbehinderte Bürgerinnen und Bürger aufs Selbstverständlichste miteinander leben. Um nichts anderes als um diese Selbstverständlichkeit geht es bei der selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung gute Bildung und Zugang zum Arbeitsleben nehmen dabei eine Schlüsselstellung ein. 

 

Dazu gehört auch das Ziel einer barrierefreien Stadt. Dieses Ziel hat Hamburg noch nicht erreicht. Deshalb habe ich entschieden, dass wir nicht erst 

bis Ende des Jahrhunderts, sondern bereits bis zum Beginn des kommenden Jahrzehnts mit einem millionenschweren Investitionsprogramm nahezu alle U-Bahn-Stationen barrierefrei umbauen übrigens auch im Interesse älterer Fahrgäste und von Eltern mit Kinderwagen. 

 

Gleichzeitig müssen wir beim Bau und der Sanierung von Wohnhäusern auf einem angemessenen Anteil barrierefreier Wohnungen bestehen, wir müssen pflegerische Nahversorgung und neue Wohnformen wie zum Beispiel das Servicewohnen mit bedenken. 

 

Wir wissen aber auch: Für eine gerechte, solidarische Gesellschaft müssen wir noch viel tun. Der moderne Sozialstaat insgesamt muss ständig weiterentwickelt werden. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er, statt Almosen zu verteilen, Möglichkeiten schafft, für sich selbst zu sorgen, wo immer es geht. Damit alle gemäß ihren Talenten und Befähigungen ihren Platz in der Gesellschaft finden mit dem Recht, nach Glück zu streben, wie es so schön in der amerikanischen Verfassung heißt. 

 

Pastor Sengelmann, der Alsterdorfer Gründungsvater, war ein Mann mit Weitblick. Aber ich bin sicher, er würde seinen Augen nicht trauen, wenn er sehen könnte, wie die Stiftung heute dasteht unter anderem mit Kindertagesstätten, Schulen, Bildungs- und Jugendhilfeeinrichtungen, Kliniken, Pflegediensten, Systemverpflegung, Catering und Gebäudereinigung. 

 

Auch ins Hamburger Umland und bis nach Kiel haben die ehemaligen Alsterdorfer Anstalten inzwischen expandiert. Rund 5800 Männer und Frauen stehen heute bei der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und ihren Unternehmen in Lohn und Brot. Und mit einer Bilanzsumme von rund einer Viertelmilliarde Euro ist die Stiftung weit über das anfängliche Fachwerkhaus hinaus gewachsen. 

 

Die größte Bedeutung aber hat die Stiftung Alsterdorf für das Zusammenleben in unserer Stadt, für Begegnung, Toleranz und Respekt. 

 

Im Namen des Senats gratuliere ich Ihnen sehr herzlich zum Jubiläum, danke allen haupt- wie ehrenamtlich Aktiven für ihr großes Engagement und wünsche der Evangelischen Stiftung Alsterdorf eine weiterhin erfolgreiche Zukunft.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.