Sehr geehrter Herr Schmidt,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Mut zur sozialen Verantwortung, unter diesem Motto stand im Mai 2006 eine der großen, bundesweit beachteten Veranstaltungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.
Der 77. Deutsche Fürsorgetag, von dem ich hier spreche, formulierte damit ein Credo, das der Vorstand des Deutschen Vereins ausdrücklich mit den drei Verantwortungsprinzipien der christlichen Soziallehre verknüpft wissen wollte:
Verantwortung für sich,
Verantwortung für den anderen,
gemeinsame Verantwortung für die Zukunft
so lautet dieser Dreiklang, der sich mit Bedacht davor hütet, Eigenverantwortung und Solidarität in einen konstruierten und immer auch künstlichen Gegensatz zu stellen.
Mut zur sozialen Verantwortung, das meint vor diesem Hintergrund aus meiner Sicht die Herausforderung, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potenziale und Möglichkeiten nutzen können und dass die nicht vergessen werden, die auf Hilfe angewiesen sind. Niemand darf am Wegesrand zurückbleiben.
Eine solche Gesellschaft lebt von Eigeninitiative und individuellem Aufbruch, von wissenschaftlicher Neugier und unternehmerischem Wagnis. Das ist wichtig, keine Frage.
Sie lebt aber auch von Solidarität und Sicherheit, von der Unterstützung der Schwachen durch die Starken, von der Erwartung, dass Politik und ein leistungsfähiger Sozialstaat dafür sorgen, dass es gerecht und solidarisch zugeht.
Gemeint ist ein moderner Sozialstaat, der Armut aktiv bekämpft und die großen Lebensrisiken verlässlich absichert, der gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnet und gerechte Teilhabe gewährleistet, dabei aber den Bezug zur Freiheit immer im Blick behält.
Ein solcher Staat macht Angebote, er fördert, und er fordert auch. Er bietet Hilfen, auf die Bedürftige einen Rechtsanspruch haben, Hilfen, für die sich niemand zu schämen braucht, wenn er sie in Anspruch nehmen muss.
Ein solcher Staat sorgt und beugt auch vor, damit Situationen existenzieller Not gar nicht erst eintreten. Denn er will seine Bürgerinnen und Bürger befähigen, auf eigenen Füßen zu stehen, damit sie ihr Leben selbstbestimmt und aus eigener Kraft meistern können.
Es geht um gute Start- und Aufstiegsmöglichkeiten durch Bildung und Qualifizierung, um eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und damit verbunden um eine bessere und intensivere Vermittlung von Arbeitsuchenden. Es geht aber auch um Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung.
Es geht da um gleichberechtigte Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zu ermöglichen.
Hinter uns liegt eine Phase der intensiven Erneuerung unseres Sozialstaates und seiner sozialen Sicherungssysteme. Wir haben unbequeme, auch schmerzhafte, aber notwendige Reformen auf den Weg gebracht, ohne auf Umfragen zu schielen Reformen, die sich inzwischen auszahlen.
Ich bin überzeugt: Der deutsche Sozialstaat hat auch unter den Bedingungen der Globalisierung und des demografischen Wandels eine Zukunft.
Dabei ist es keineswegs notwendig, ja sogar ausgesprochen schädlich, den Umbruch und die Erneuerung zum Dauerzustand zu erheben.
Permanente Reformen sind Unfug. Wer ständig neue Realitäten ausruft und den Bürgerinnen und Bürgern ununterbrochen neue Anstrengungen abverlangt, verspielt nicht nur Vertrauen, sondern zerstört so legt es der Soziologe Rainer Paris überzeugend dar eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens und Alltagshandelns: das Gefühl oder zumindest die Aussicht von Normalität.
Wer Reformen für notwendig hält, muss den Bürgerinnen und Bürgern in absehbarer Zeit mitteilen können:
Wir haben es geschafft, wir haben unser Ziel, auch wenn es nur ein Etappenziel sein kann, erreicht.
Heute stehen die großen Sozialversicherungen auf solide finanzierten Fundamenten, ohne dass die dafür aufzubringenden Beiträge eine Größenordnung erreichen, die von den Zahlenden nicht mehr akzeptiert wird.
In diesem Herbst besteht die Chance, die Zahl der Arbeitslosen unter die Drei-Millionen-Marke zu drücken, und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steigt seit 2006 wieder deutlich an. Von dieser Entwicklung profitieren alle: die Jüngeren, die Älteren genauso wie die Langzeitarbeitslosen.
Aber diese Erfolgsmeldungen werden derzeit in der Wahrnehmung konterkariert von den Erschütterungen auf den internationalen Finanzmärkten. Banken gehen in die Knie. In den USA wurde ein Hilfsprogramm mit dem unvorstellbaren Volumen von 700 Milliarden Dollar diskutiert das ist der Bundeshaushalt für mehr als anderthalb Jahre. Und auch in Europa und sogar in Deutschland spüren wir die ersten Auswirkungen im Finanzsektor.
Was da genau passiert, das verstehen die meisten Bürgerinnen und Bürger nicht mehr. Zu sehr hat sich das internationale Finanzsystem von dem realwirtschaftlichen Fundament entfernt, das mit Alltagsverstand verstehbar und beherrschbar ist.
Aber natürlich sind die Ängste wieder da um die Zukunft im Allgemeinen und den eigenen Job im Konkreten. Wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen und wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Wir dürfen uns nicht verkriechen und abwarten, was da noch passiert und wann es uns trifft.
International tritt Deutschland seit Jahren dafür ein, dass die Finanzmärkte einen besseren politischen Ordnungsrahmen bekommen. Und ich bin mir sicher, dass seine Kolleginnen und Kollegen Peer Steinbrück derzeit endlich so zuhören, wie es seine Vorschläge verdienen.
Heute in der Süddeutschen Zeitung fordert Alexander Hagelüken im Leitartikel ein Umdenken:
Hedgefonds durften von Karibikinseln aus Firmen schlucken ohne jede Kontrolle. Die Ackermänner in den Chefetagen durften 25 Prozent Rendite als Ziel vorgeben, dem sich alle Arbeitnehmer unterzuordnen hatten. Jetzt muss die Politik wieder Mitbestimmung durchsetzen.
Das stimmt. Nur so kann neues Vertrauen wachsen, das wir dringend brauchen, um wirtschaftlich weiter erfolgreich zu sein. Wer die Mitbestimmung klein redet, der irrt. Sie ist ein Königsweg, um in einer globalisierten Weltwirtschaft soziale Standards durchzusetzen. Auch national können wir etwas tun. Dem Arbeitsminister geht es nicht um Hypothekenzertifikate oder um Aktienoptionen ich habe die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick. Ihnen müssen wir jetzt erst recht die besten Angebote auf Qualifizierung, auf Weiterbildung und im Falle des Falles auf bestmögliche Vermittlung in Arbeit machen. Es geht darum, dass wir den Erfolg zwei Millionen Arbeitslose weniger als Anfang 2005 , dass wir diesen Erfolg festhalten und verteidigen.
Ich bleibe dabei, wenn wir es klug anstellen, dann können wir es schaffen, dass niemand, der arbeitslos wird, länger als ein Jahr ohne neue Arbeit sein muss. Das wäre in einem modernen Verständnis Vollbeschäftigung. Dieses Ziel darf eine demokratische Gesellschaft mit einer sozialen Marktwirtschaft in keiner Krise dieser Welt aufgeben.
Dies alles, meine Damen und Herren, bedeutet, dass wir viel Arbeit vor uns haben. Das gilt erst recht dort, wo es um die Bekämpfung von Armut geht. Wer in Armut lebt, hat es in wirtschaftlich schwierigen Zeiten oft besonders schwer. Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Denn Armut ist mehr als nur Einkommensarmut. Sie bedeutet beinahe immer auch einen Mangel an Verwirklichungschancen, das heißt einen Mangel an Möglichkeiten, in zentralen gesellschaftlichen Bereichen wenigstens ein Mindestmaß an Teilhabe erlangen zu können. So hat der indische Ökonom Amartya Sen Armut beschrieben und damit verdeutlicht, dass es auch hier um die Realisierung substanzieller Freiheiten und die Beseitigung von Benachteiligungen geht, die chancengleichen Zugang vor allem in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnen, Gesundheit und Sozialkontakte verhindern.
Wenn wir in Deutschland über Armut sprechen, dann meinen wir in der Regel nicht das, was wir aus anderen Bereichen der Welt aus Entwicklungsländern, aber nicht nur von dort kennen: absolute, das physische Überleben gefährdende Armut. In Deutschland haben wir bewährte und leistungsfähige Systeme sozialer Sicherung, die an vielen Stellen helfen, diese Form der Armut zu vermeiden.
Richtig ist aber, dass in unserem Land viele Bürgerinnen und Bürger verglichen mit Anderen, Glücklicheren, in Armut leben. Es geht um Familien insbesondere mit drei und mehr Kindern, viele Familien mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende und damit natürlich in besonderer Weise auch um zahlreiche Kinder.
Diese Armut zu bekämpfen ist Aufgabe der Politik (nicht nur, aber auch der Politik), und sie gelingt am besten dann, wenn politisches Handeln gezielt dort ansetzen kann, wo die Ursachen liegen. Bertolt Brecht hat einst formuliert: Nur belehrt von der Wirklichkeit können wir die Wirklichkeit ändern. Erkennen und aussprechen, was ist das ist und bleibt eine Maxime für verantwortungsbewusste Politik und das ist der Auftrag, den die Bundesregierung mit dem 3. Armuts- und Reichtumsbericht erfüllen will.
Was die Einkommensdaten betrifft, reicht der Bericht nur bis zum Jahr 2005. Damit ist auch klar: Die Auswirkungen der guten Arbeitsmarktentwicklung auf die Einkommen seit 2006 sind noch nicht erfasst. Das ist schade. Denn neuere Daten zur Einkommensverteilung zeigen ganz eindeutig, dass die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt dazu beitragen, Armut zu verringern und zu vermeiden.
Nun zu den Daten des Berichts:
2005 betrug das Risiko, in Deutschland einkommensarm zu sein, nach der europäischen Statistik EU-SILC 13 Prozent. Das Risiko lag damit unter dem europäischen Durchschnitt von 16 Prozent.
Das Armutsrisiko in der Altersgruppe der Kinder bis 15 Jahre lag 2005 nach EU-SILC bei 12 Prozent. Der Wert unterschreitet damit deutlich den europäischen Durchschnitt für diese Altersgruppe, der mit 19 Prozent angegeben ist.
Das sind die reinen Fakten. Wichtiger noch aber muss für uns alle die Erkenntnis sein, dass die Armutsrisikoquote der Gesamtbevölkerung in 2005 durch Transferleistungen halbiert wurde. Sie sank von 26 Prozent vor dem Einsetzen des Sozialstaats auf die genannten 13 Prozent. Bei Kindern wird das Armutsrisiko durch Transferleistungen sogar auf fast ein Drittel gesenkt. Das heißt ganz klar: Der deutsche Sozialstaat wirkt. Er erfüllt seine sichernde und aktivierende Funktion. Er schafft die Basis dafür, dass Teilhabe- und Verwirklichungschancen auch tatsächlich realisiert werden. Dabei ist die Wirksamkeit der Sozialtransfers in Deutschland vergleichbar mit der von Ländern wie Schweden, Finnland oder den Niederlanden.
Das sind Ergebnisse, die uns nicht beruhigen dürfen, die uns aber ebenso anspornen können wie der berechtigte Hinweis darauf, dass uns die Erfolge der Arbeitsmarktreformen inzwischen in die Lage versetzen, wirtschaftliches Wachstum schneller und stärker als zuvor auch in Arbeitsplätze umzusetzen.
Natürlich können und müssen wir noch mehr tun. Aus meiner Sicht haben dabei vier Handlungsfelder Priorität, die übrigens nur in der Theorie nebeneinander stehen, in Wirklichkeit aber vielfältig miteinander verschränkt sind:
Bildung,
Kinderbetreuung,
gute Arbeit
und soziale Absicherung Sozialtransfers.
Es geht um materielle Sicherheit und Unterstützung, auch durch vorgelagerte staatliche Hilfesysteme wie den Kinderzuschlag oder das Wohngeld, die Hilfebedürftigkeit von Menschen und ihre Abhängigkeit von Regelungen des Arbeitslosengeldes II vermeiden sollen. Und es geht um gute Kinderbetreuung, die die frühe Förderung von Kindern genauso gewährleistet wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und es geht um Chancen auf Bildung, Ausbildung und fair bezahlte Arbeit, um Armut zu vermeiden und Teilhabe zu ermöglichen.
Lassen Sie mich hier mit einigen Anmerkungen zu den Themen Bildung, Ausbildung und Kinderbetreuung beginnen:
Der internationale Vergleich zeigt: Unser Bildungssystem ist tendenziell ungerecht. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen der Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer oder ethnischer Herkunft stark ausgeprägt ist. Diesen Zusammenhang müssen wir aufbrechen.
Armut darf nicht erblich sein. Das heißt zunächst: Wir brauchen gleiche Chancen auf Bildung unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Denn Bildungsarmut führt sehr häufig auch zu materieller Armut. Kinder aus bildungsfernen Familien haben schon in der Grundschule vielfach deutlich geringere Chancen. Zudem schaffen sie viel seltener den Übergang auf das Gymnasium. 83 Prozent der Kinder mit Vätern mit Hochschulabschluss studieren, während dies nur für 23 Prozent der Kinder von Nichtakademikern zutrifft. Bildungswege werden früh eröffnet und leider auch früh schon verbaut. Wichtig ist deshalb die Qualität der Betreuungsangebote für Kinder unter drei und im Vorschulalter sowie der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen da haben wir unter Gerhard Schröder den Anfang gemacht. Das wird jetzt forciert mit dem gesetzlich geregelten Ausbau der Kinderbetreuung, mit Angeboten zur frühkindlichen Bildung, mit Sprachförderung für Vorschulkinder, mit mehr individueller Förderung in Ganztagsschulen mit pädagogischem Konzept. Sie wissen, damit ist auch ein zweites wichtiges Ziel verbunden: ein besserer, benachteiligungsfreier Zugang zu existenzsichernder Arbeit und zu beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen.
Wir wollen deshalb Männern und Frauen in gleicher Weise die Möglichkeit eröffnen, ihrem Beruf nachzugehen und familiäre Aufgaben zu übernehmen. Fehlende oder nicht bezahlbare Betreuungsangebote dürfen dabei nicht länger ein Hindernis sein. Denn dann sind vor allem die Kinder selbst oft doppelt betroffen: Frühförderung findet kaum statt, das Armutsrisiko steigt. Das gilt insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Elternhäusern, aber auch für die Kinder von Alleinerziehenden, die wegen fehlender Betreuung nicht arbeiten können.
Die Bundesregierung leistet deshalb zusätzliche Unterstützung:
Seit diesem Jahr werden Plätze in Betriebskitas für Kinder unter drei Jahren von Mitarbeitern in kleinen und mittelständischen Betrieben mit einer Anschubfinanzierung bis zu 10.000 Euro gefördert.
Darüber hinaus haben wir die Möglichkeiten zur steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten ausgebaut.
Und auch das Elterngeld ist ein Erfolgskonzept. Bereits im vergangenen Jahr wurden 570.000 Anträge auf Elterngeld bewilligt Tendenz steigend.
Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht zeigt: Bei Jugendlichen, die schon die Schule ohne Abschluss verlassen, ist künftige Armut vorprogrammiert. Das darf nicht sein.
Im Jahr 2007 waren über 550.000 Arbeitslose ohne Hauptschulabschluss. Und das Problem bleibt virulent: Auch im vergangenen Jahr gingen wieder fast 80.000 Jugendliche beinahe acht Prozent ohne Abschluss von der Schule. Diese Zahl lässt sich mit guter Bildungspolitik reduzieren.
Mir ist wichtig, dass wir niemanden abschreiben. Deswegen setze ich mich für ein lebenslanges Recht darauf ein, beim Nachholen des Hauptschulabschlusses unterstützt zu werden. Egal ob mit 24 oder mit 42 wer sich anstrengt, darf nicht auf unüberwindliche Hindernisse stoßen. Dazu will ich hier zwei weitere Punkte nennen:
Erstens: Auch Jugendliche mit Hauptschulabschluss bekommen oft nur schwer eine ungeförderte Ausbildung.
Der Bildungsbericht 2008 sagt, dass jeder zweite Hauptschüler auch 13 Monate nach Schulende noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hat. In Hamburg hat bis vor einigen Jahren nicht einmal jeder zehnte Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss direkt nach der Schule einen ungeförderten Ausbildungsplatz gefunden aus einer Hauptschulklasse mit 25 Schülern also gerade mal zwei. Der Rest verschwand in Warteschleifen oder Qualifizierungsmaßnahmen. Jetzt gibt es in Hamburg das vom Hamburger Unternehmer Otto initiierte Hauptschul-Projekt. Die Schülerinnen und Schüler werden schon in der Schule und dann auch nach der Schule intensiv betreut, mit Praktika an die Unternehmen herangeführt. Vergleichbares sollte es in jeder Stadt, jeder Gemeinde und jedem Landkreis geben. Im Rahmen einer modellhaften Erprobung werden deshalb Berufseinstiegsbegleiter Schülerinnen und Schüler an 1.000 Schulen in ganz Deutschland beim Übergang von der Schule in Ausbildung unterstützen.
Zweiter Punkt: Wir haben heute mehr Altbewerber als Neubewerber. Gemeint sind junge Menschen, die am Beginn ihres beruflichen Weges stehen und denen wir als Gesellschaft oft über Jahre hinweg signalisieren: Kein Bedarf, wir brauchen Dich nicht.
Wir wissen, dass mancher darunter ist, der keinen guten Schulabschluss geschafft hat. Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass sich Betriebe, die die Wahl haben, für einen anderen Bewerber entscheiden. Aber als Gesellschaft haben wir diese Wahl nicht. Wir haben die gesellschaftliche und auch die volkswirtschaftliche Verantwortung, allen, die bereit sind, sich anzustrengen, eine und wenn notwendig auch eine zweite oder dritte Chance zu geben. Deswegen haben wir den Ausbildungsbonus auf den Weg gebracht. Wir wollen mit klar kalkulierten Zuschüssen von 4.000, 5.000 oder 6.000 Euro Betriebe ermutigen, zusätzliche Ausbildungsplätze für diejenigen zu schaffen, die bereits länger als ein Jahr eine Lehrstelle suchen.
Meine Damen und Herren,
Arbeit haben ist und bleibt die beste Hilfe zur Selbsthilfe. Die Chance, ein existenzsicherndes Einkommen aus eigener Arbeit zu erzielen, ist ein zentrales Element gesellschaftlicher Integration und der Königsweg zur Bekämpfung von Armut.
Bei einer Familie mit zwei erwerbsfähigen Erwachsenen sinkt das Risiko der Armutsgefährdung von 48 Prozent auf unterdurchschnittliche acht Prozent ab, wenn nur einer der beiden Vollzeit arbeitet.
Deshalb helfen wir besonders den Gruppen, die es schwer haben, Beschäftigung zu finden:
den Älteren mit der Initiative 50plus,
den Langzeitarbeitslosen mit JobPerspektive und Kommunalkombi,
den Arbeitsuchenden mit Behinderung mit der Initiative job und Job4000
und den Arbeitslosen mit Migrationshintergrund mit Programmen wie XENOS und EQUAL.
Und wir arbeiten daran, dass die Arbeitsvermittlung zur leistungsfähigsten Institution unseres Landes wird.
Dazu werden wir die Förderinstrumente, die wir für die Vermittlung einsetzen, so ordnen und reduzieren, dass die Vermittler sie auswendig können und nicht erst lange in einem Handbuch nachschlagen müssen. Denn wenn jemand arbeitslos wird und eine Beschäftigung sucht, muss er sicher sein können, dass alles Menschenmögliche dafür getan wird, dass er bald wieder in Arbeit ist. Gute Arbeitsvermittlung kostet Geld. Aber es ist gut investiertes Geld. Hier darf nicht gespart werden, obwohl das aus manchen Ecken gerade jetzt immer wieder gefordert wird.
Aber, meine Damen und Herren, und damit bin ich bei einem entscheidenden Punkt: Es geht nicht nur um mehr Arbeit, sondern immer auch um faire Bezahlung. Vor allem Familien und Alleinstehende mit Kindern sind von Armut bedroht, weil es sittenwidrig niedrige Löhne unter dem Existenzminimum gibt. Damit finden wir uns nicht ab. Über zwei Millionen Beschäftigte in unserem Land erhalten weniger als 7,50 Euro pro Stunde. Rund 1,3 Millionen Beschäftigte erhalten aufstockend Arbeitslosengeld II, weil ihr Lohn oder ihr Einkommen nicht zum Leben reicht. Anfang der 1990er Jahre war etwa jeder Vierte der abhängig Voll- und Teilzeitbeschäftigten dem Niedriglohnbereich zuzuordnen, 2005 waren es bereits 36,4 Prozent und heute haben wir in Deutschland den größten Niedriglohnanteil in ganz Kontinentaleuropa. Wir können auf viele Rekorde stolz sein auf diesen nicht!
Denn es ist nicht in Ordnung, dass die Friseurin, die in Sachsen Vollzeit arbeiten geht, nach der Gesellenprüfung am Ende des Monats mit 755 Euro brutto dasteht und dann zur Arbeitsagentur muss, um ihre Familie zu ernähren. Und es ist auch nicht in Ordnung, dass ein Wachmann im Revierwachdienst in Brandenburg Vollzeit in der untersten Tarifgruppe mit weniger als 1.000 Euro brutto dasteht und seine Miete nicht ohne staatliche Hilfe bezahlen kann.
Solche Löhne ich könnte viele weitere Beispiele nennen verletzen die Ehre hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger. Solche Löhne rütteln an den Grundfesten der sozialen Marktwirtschaft, weil sie dem, der sich anstrengt, vermitteln, dass sich diese Anstrengung nicht auszahlt. Solche Löhne grenzen aus und erzeugen Armut trotz Beschäftigung.
Das kann und darf niemand in diesem Land wollen. Daraus ergeben sich für mich unmittelbar drei Schlussfolgerungen:
Erstens ist es richtig, dass nach Jahren der Lohnzurückhaltung die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nun einen stärkeren Anteil an dem von ihnen erarbeiteten Aufschwung erhalten wollen. Das möglich zu machen, ist Sache der Tarifparteien.
Zweitens ist es richtig, dass wir das Thema Mitarbeiterbeteiligung vorangebracht haben. Wenn mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich zu ihrem Lohn und Gehalt auch am wirtschaftlichen Erfolg ihrer Unternehmen beteiligt werden, ist das eine gute Sache.
Drittens schließlich brauchen wir Mindestlöhne!
Deshalb ist es ein Fortschritt, dass wir jetzt auf dem Weg sind, das Arbeitnehmerentsendegesetz auf weitere Branchen auszuweiten und mit dem modernisierten Mindestarbeitsbedingungengesetz branchenspezifische Mindestlöhne auch dort festzusetzen, wo Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sozial verträgliche Arbeitsentgelte nicht gewährleisten können. Auf mittlere Sicht aber brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn! Ohne ihn wird es eine wirksame Bekämpfung von Armut durch sozial schlüssige Regelung im Niedriglohnbereich nicht geben können.
Meine Damen und Herren,
bei der Bekämpfung von Armut sind und bleiben die direkten materiellen Leistungen unverzichtbar das ist keine Frage.
Klar ist: Für diejenigen, die auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen sind, müssen die Regelsätze so bemessen werden, dass das sozio-kulturelle Existenzminimum sichergestellt ist. Dabei ist es wichtig, dass die Anpassungsmechanismen funktionieren und die Lebenswirklichkeit abbilden.
Manche bezweifeln derzeit, ob das angesichts gestiegener Preise für wichtige Verbrauchsgüter noch der Fall ist. Aber ich warne vor voreiligen Schlüssen. Preissteigerungen treffen alle in einer Gesellschaft die Rentnerin genauso wie den Arbeitnehmer. Das Verhältnis der Grundsicherung zu Löhnen und Renten muss in einer vernünftigen Balance bleiben. Richtig ist allerdings, dass die Festlegung der richtigen Höhe des sozio-kulturellen Existenzminimums ein schwieriges Projekt ist gerade auch im Hinblick auf die statistischen Methoden.
Aktuell erhöhen wir den Regelsatz jedes Jahr entlang der Rentenerhöhung. Sobald die Auswertung der aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vorliegt, wird es eine bedarfsabhängige Korrektur geben. Wir sollten aber bereits jetzt darüber nachdenken, ob wir für die danach liegende Zeit nicht ein besseres statistisches System entwickeln können, das schnellere Reaktionen ermöglicht.
Nach Auffassung mancher Kritiker sind es vor allem die Bedarfe von Kindern, die das geltende System nur unzureichend berücksichtigt. Auch das werden wir uns genau anzusehen haben. Mir ist allerdings wichtig, dass finanzielle Unterstützung, die für Kinder und Jugendliche bestimmt ist, tatsächlich direkt bei den Kindern und Jugendlichen ankommt. Das ist die Idee, die sich mit konkreten Hilfsangeboten wie Schulbedarfspaketen verbindet.
Für kommunale Aktivitäten, zum Beispiel bei der Mittagsverpflegung oder bei Schulbüchern, will ich mich ausdrücklich bedanken. Gefordert sind aber auch die Länder. Die Bundesregierung wird nach Vorlage des Existenzminimumberichts diesem Thema besondere Aufmerksamkeit schenken müssen.
Helfen wollen wir schließlich auch Eltern, die zwar ihren eigenen Bedarf durch Erwerbseinkommen bestreiten können, aber nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um auch den Bedarf ihrer Kinder zu decken. Unser Instrument dafür ist der 2005 eingeführte Kinderzuschlag, den wir in diesem Jahr ausgebaut haben. Diese Änderung tritt heute in Kraft.
Im Ergebnis werden Familien im Niedrigeinkommensbereich spürbar entlastet und weniger Familien auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen sein. Zusammen mit dem verbesserten Wohngeld können wir so die Lage von über 100.000 Familien mit rund 250.000 Kindern verbessern. Beim Kinderzuschlag zeigt sich übrigens sehr deutlich, wie Arbeitsmarktpolitik, Kinderbetreuungsangebote und familienbezogene Transferleistungen ineinander greifen.
Denn so wie Kinderbetreuungsangebote Erwerbs- und Einkommenschancen unterstützen und damit die Inanspruchnahme des Kinderzuschlags ermöglichen, ermöglicht der Kinderzuschlag die Finanzierung und damit die Inanspruchnahme von Betreuungsangeboten.
Meine Damen und Herren,
wir wollen eine Gesellschaft, in der Freiheit des Einzelnen zählt, die auf sozialer Gerechtigkeit beruht und die in Solidarität mündet. Das ist der Dreiklang der Grundwerte, an denen unsere Politik auch ausgerichtet ist, wenn es darum geht, Armut zu bekämpfen und Risiken auf Armut vorzubeugen. Weniger Armut ist möglich. Gefordert ist die Politik, aber nicht nur die Politik. Denn Armut in der Wohlstandsgesellschaft zu sehen und sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen, das ist Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte. Handeln für soziale Integration findet auf Bundesebene, ganz konkret aber auch auf regionaler und lokaler Ebene statt. Die Kommunen, Verbände und Vereine spielen hier eine Schlüsselrolle. Ohne sie kann nicht gelingen, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben.
Vielen Dank!