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22.11.2010

Bildungsreformen. Einige Einsichten aus Hamburg

Beitrag für den Band "Gerecht denken - lokal handeln. Kommunalpolitik als Gegenmacht"

 

Alle wissen: Der Erfolg unserer Volkswirtschaft beruht auf der Leistungskraft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es wird prognostiziert, dass uns am Ende dieses Jahrzehnts bereits bis zu 2 Millionen Fachkräfte fehlen könnten. Das ist eine Folge des demografischen Wandels. Etwas überspitzt formuliert: Uns gehen die jungen Leute aus. Der drohende Fachkräftemangel erstreckt sich aber über die ganze Breite der beruflichen Qualifikationen.

Allerdings ist die Situation nicht hoffnungslos. Wir müssen uns nur in die Lage versetzen, die Fähigkeiten der gesamten nachwachsenden Generation zu nutzen. Das ist heute keineswegs der Fall. Und darum ist es kein Zufall, dass die Diskussion über Bildungsreformen nach Jahren des Stillstandes neu begonnen hat. Oft mit großer Heftigkeit, wie in Hamburg.

Und wie schon einmal in den 1960er Jahren entspricht für ein bis zwei Jahrzehnte das humanistische Streben der sozialdemokratischen Partei nach mehr Bildungsgerechtigkeit zugleich den drängendsten Bedürfnissen der Wirtschaft. Die Gelegenheit darf nicht ungenutzt verstreichen.

In Hamburg wird sich die Schullandschaft dramatisch verändern. In der vierjährigen Grundschule wird es keine Klasse mit mehr als 23 Schülerinnen und Schülern geben. In Stadtteilen, in denen viele Schüler Schwierigkeiten in der Schule haben, sollen es nicht mehr als 19 sein. Eltern und Schüler haben nun wohl erstmalig in Deutschland einen Rechtsanspruch auf diese kleinen Klassen. Den hat die Hamburger SPD gegen die Senatskoalition aus CDU und Grünen durchgesetzt. Die Eltern entscheiden frei, auf welche weiterführende Schule ihr Kind wechselt. Dieses Elternwahlrecht hatten sozialdemokratische Senate vor Jahrzehnten in Hamburg eingeführt. Jetzt ist es der SPD gelungen, dieses Wahlrecht gegen den schwarz-grünen Senat verteidigen. Und es wird nur noch zwei weiterführende Schulen geben, das Gymnasium und die Stadtteilschule, die beide zum Abitur führen. Auf die Oberstufe für jede Stadtteilschule hatte die SPD bestanden der schwarz-grüne Senat hatte das nicht geplant. Das Sitzenbleiben soll in Hamburg der Vergangenheit angehören. Und schließlich kann nach den Klassen fünf und sechs bis zum Ende der zehnten Klasse niemand mehr vom Gymnasium auf eine Stadtteilschule abgeschult werden.

Das ist bildungspolitischer Fortschritt wie er vor wenigen Jahren noch nicht absehbar war. Und über diese Regelungen besteht ein großer Konsens in der Stadt. Die Verteidiger des dreigliedrigen Schulsystems sind völlig verstummt.

Der unbezweifelbare Fortschritt, der fast ohne Abstriche die Reformvorstellungen der Hamburger SPD realisiert, ist aber nicht überall vermerkt worden. Denn die bildungspolitische Debatte der Stadt wurde völlig von dem Volksentscheid über die Einführung einer sechsjährigen Primarschule, die die Grundschule ablösen sollte, bestimmt. Nach heftiger Debatte und bei hoher Beteiligung hat sich eine Mehrheit der Hamburgerinnen und Hamburger gegen diese weitere Reform entschieden. Und das, obwohl alle in der Bürgerschaft vertretenen Parteien SPD, CDU, GAL und die Partei Die Linke für die Reform geworben hatten.

Wie ist dieses Abstimmungsergebnis zu erklären? Ausschlaggebend war nicht, dass hinter der opponierenden Bürgerinitiative Wir wollen lernen einflussreiche Bürgerinnen und Bürger standen, wie manche mutmaßen. Vielmehr dürften die Gründe für das Ergebnis des Volksentscheides darin liegen, dass der schwarz-grüne Senat die Reform von oben herab einführen wollte. Die sechsjährige Grundschule hatte noch im letzten Bürgerschaftswahlkampf keine Partei gefordert. Die Hamburger Grünen wollten eine neunjährige Gemeinschaftsschule. Die CDU warnte deshalb vor der Wahl der Grünen. Und es gab den Reformvorschlag einer Enquete-Kommission der Bürgerschaft, der weitgehend der jetzt endlich realisierten Veränderung des Hamburger Schulsystems entsprach. Die SPD warb im Wahlkampf offensiv dafür und ein überparteilicher Konsens zeichnete sich ab. Den haben CDU und GAL nach und wegen ihrer Koalitionsbildung nicht gesucht. Anders übrigens als in Bremen, wo es dem rot-grünen Senat fast zur selben Zeit gelang, einen Zehn-Jahres-Vertrag über die Entwicklung der Schulstrukturen in Bremen zumindest mit der größten Oppositionspartei CDU zu vereinbaren. Das entsprechende Angebot der SPD in Hamburg wurde brüsk abgewiesen und erst wieder aufgegriffen, als sich bereits ein breiter Widerstand gegen die ganze Reform gebildet hatte, ein Volksbegehren gegen die Senatspläne immense Unterstützung in der Bevölkerung hatte und sich die mögliche Niederlage des Senats bei einem Volksentscheid als ernste Gefahr abzeichnete. Falsch war sicher auch die rhetorische Diskreditierung des Gymnasiums, das in Hamburg seit langem die beliebteste und am häufigsten gewählte Schulform ist und schon deswegen keine Schule des Establishments darstellt. Einzelne Begleitumstände der Senatspolitik brachten viele nicht nur gegen den Senat, sondern auch gegen die Reform auf. Die schon erwähnte Abschaffung des Elternwahlrechtes gehörte dazu. Und die parallel zur Debatte über die Reform der Schulen realisierte Erhöhung der Gebühren in den Kitas, die der Intention der Reform widersprach, eine gerechtere Bildungsbeteiligung durchzusetzen, verstärkte den Unmut.

Außerdem haben Eltern und Schülerinnen und Schüler aufgrund der schlechten Erfahrungen mit den heutigen Schulen eine Grundskepsis gegenüber politischen Versprechungen. Sie wollen tatsächliche Verbesserungen an den Schulen sehen. Nachdem das Hamburger Volk nun entschieden hat, wird es jetzt darum gehen, die Qualität des Unterrichts jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag zu verbessern.

Was lässt sich aus der aufgeregten Diskussion über Strukturreformen in Hamburg und dem Volksentscheid für die Reformdebatte lernen? Erstens: Die Tage des dreigliedrigen Schulwesens sind gezählt. Zweitens: Ein konsensualer Weg ist wichtig. Er kann, wie das Bremer Beispiel zeigt, frühzeitig zwischen den Parteien gesucht werden oder ergibt sich vor allem in den Flächenländern , wenn es Gemeinden und Städten ermöglicht wird, Gemeinschaftsschulen oder Stadtteilschulen einzurichten. Angesichts drohender Schulschließungen wegen sinkender Schülerzahlen sind auf kommunaler Ebene überparteiliche Konsenslösungen möglich. Drittens: Niemand darf die Augen vor der Realität an Deutschlands Schulen verschließen: Heute verlassen zu Viele die Schulen entweder ohne Schulabschluss oder mit zu wenig Bildung, um einer Berufsausbildung gewachsen zu sein. Das war nie akzeptabel; aber heute können wir es uns schlicht nicht mehr leisten.

Wir müssen daher dringend unsere Schulen verbessern und die Kinderbetreuung schon vor dem Schulbeginn ausbauen.

Was die Kinderbetreuung betrifft, hat Hamburg infolge des Einsatzes der SPD immerhin eine gute Ausgangssituation. Die sozialdemokratischen Senate hatten in Hamburg im Ländervergleich überdurchschnittlich viele Kinderbetreuungsplätze geschaffen, als in weiten Teilen Westdeutschlands die Einsicht in die Notwendigkeit eines umfassenden Angebots noch nicht weit verbreitet war. Die Hamburger SPD hatte mit dem im Jahre 2003 gestarteten Volksbegehren Mehr Zeit für Kinder einen Rechtsanspruch auf Kitabetreuung für Berufstätige durchgesetzt. Bundesweit hat die SPD für die Jahre ab 2013 einen Rechtsanspruch auf eine Halbtagsbetreuung für alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr bis zur Einschulung geschaffen. Was die Schulen anbelangt haben wir Sozialdemokraten mit dem Rechtsanspruch auf kleine Klassen in der Grundschule den nächsten wichtigen Schritt nach vorn verwirklicht. Und dass das von der CDU durchgedrückte unsoziale Büchergeld ab nun der Vergangenheit angehört, ist richtig und der SPD zu verdanken.

Der Hamburger Senat scheint das alles nicht zu verstehen. Er erhöht die Kitagebühren, die in Hamburg nach der Einkommenshöhe der Eltern bemessen werden. Da werden auf einmal Eltern zu Besserverdienern, die zur ganz normalen Mittelschicht gehören. Ein voll berufstätiges Ehepaar, bei dem beide als Verkäuferin und Verkäufer im Warenhaus arbeiten, wird da zu den Besserverdienenden gerechnet. Bisher wussten die gar nicht, dass sie so gut verdienen. Aber CDU und GAL haben das jetzt einmal klargestellt.

Deutschland führt gerade eine aufgeregte Debatte über Integrationsprobleme. Über das, was auf alle Fälle zu tun ist, besteht rhetorisch große Einigkeit. Hebammenbesuche nach der Geburt, kostenlose und ausreichend viele Krippen- und Kitaplätze, Ganztagsschulen, kostenloses Mittagessen in diesen Einrichtungen, Durchsetzung der Schulpflicht und des Besuches von Krippe und Kindergarten bei Familien mit Förderbedarf alle sollen möglichst schon vor der Schule die deutsche Sprache beherrschen. Das ist alles richtig. Und nicht nur wegen der Integration von Migranten, sondern weil alle Kinder davon profitieren.

Aber es darf nicht nur geredet werden. Die Probleme werden nicht kleiner, wenn wir sie liegen lassen. Deshalb müssen wir uns auf diesen Weg machen und sicherstellen, dass wir ein flächendeckendes Angebot an Krippen- und Kitaplätzen in Hamburg schaffen. Es muss auf diese Plätze für alle Eltern Rechtsansprüche geben. Die Gebühren für Halbtagsbetreuung müssen allmählich gesenkt werden. Und für das Mittagessen an Krippen, Kitas und Schulen sollten keine Gebühren mehr genommen werden. Die Grundschulen und die Stadtteilschulen sollten Schritt für Schritt Ganztagsschulen werden. In Krippe, Kita und Grundschule muss die Sprachförderung obenan stehen. Auch deshalb müssen die Gruppengrößen so abgesenkt werden, dass die Erzieherinnen und Erzieher mit den Kindern viel sprechen und sie fördern können. Die Schulpflicht muss flächendeckend durchgesetzt werden, das Fernbleiben vom Unterricht sollte sanktioniert werden. Und Kinder mit Förderbedarf müssen Krippe und Kita besuchen, das Recht bietet dazu alle Handhabe.

Das wird teuer. Und das geht nicht über Nacht. Aber in einer Legislaturperiode lässt sich das schaffen. Natürlich heißt das, auf anderes zu verzichten. Denn die Steuereinnahmen wachsen nicht wie diese Aufgaben. Es bedroht das Vertrauen in die Demokratie und es fördert die viel besprochene Politikverdrossenheit, wenn alle sagen: Das muss man tun. Und keiner tut es.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Nicht nur in Hamburg. Ein großer Erfolg der von Sozialdemokraten vorangetriebenen Bildungsreformen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre war die Erhöhung der Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Viele haben die Chance genutzt und bessere Bildungsabschlüsse als ihre Eltern erreicht. Heute müssen wir feststellen: Offene Türen reichen nicht. Wir müssen aktiv etwas dafür tun, dass mehr junge Leute durch die manchmal sperrangelweit offenen Türen gehen als bisher. Das gilt insbesondere für die Grundqualifikation, für Schulabschluss und Lehre. In diesem Sinne brauchen wir mehr Staat.

Und manchmal helfen auch Gesten, die zeigen, dass sich Anstrengung lohnt. Warum sagen wir nicht, dass geduldete junge Leute in Deutschland ein sicheres Aufenthaltsrecht erhalten, wenn sie in Deutschland einen Schulabschluss erwerben?

Eines steht jedenfalls fest: Die Zahl der Arbeitsplätze für Arbeitnehmer ohne berufliche Qualifikation nimmt ständig ab. Und die Unternehmen müssen ihre Anstrengungen verstärken, junge Leute beruflich zu qualifizieren. Wie die für Bildung zuständigen staatlichen Institutionen, müssen sie dabei zunehmend auch die am Anfang der Ausbildung noch nicht so Leistungsfähigen in den Blick nehmen. Das ehrgeizige Ziel lautet: Mit Anfang 20 hat jeder junge Mensch eine Berufsausbildung oder das Abitur im Tornister für den Marsch durch das berufliche Leben. Dazu muss der Übergang von der Schule in den Beruf verbessert werden. Zu viele hängen in den Warteschleifen. Zu viele bleiben ohne Berufsausbildung. Unter den 20- bis 30-Jährigen haben fast ein Fünftel keinen Berufsabschluss und sind auch nicht gerade in einer Ausbildung. Man möchte laut seufzen. Was soll aus all diesen jungen Leuten werden? Neben frühkindlicher Bildung und Verbesserung der Unterrichtsqualität ist die Berufsausbildung das nächste große Handlungsfeld.

Gleichzeitig müssen wir die Zahl derjenigen erhöhen, die höchste Bildungsabschlüsse erreichen. In dieser Hinsicht ist durchaus Optimismus angebracht. Immer mehr erreichen immer bessere Bildungsabschlüsse. In großen Städten wie in Hamburg ist das Abitur längst der häufigste Bildungsabschluss. Das ehrgeizige Ziel darf aber nicht aus dem Blick verloren werden. Wir müssen erreichen, dass in Deutschland 40 Prozent eines Altersjahrganges studieren. Und darunter sollten möglichst viele Naturwissenschaftlerin und Techniker, Ingenieurin und Mathematiker werden wollen.

Gerade was den Nachwuchs zum Beispiel an Ingenieuren angeht, müssen wir allerdings mit einer deutschen Besonderheit Schluss machen. In unserem Land studieren nur sehr wenige, die nicht über eine schulisch erworbene Hochschulzugangsberechtigung verfügen. Ich halte es für notwendig, dass die Zahl derjenigen, die nach einer beruflichen Ausbildung und einigen Jahren beruflicher Praxis studieren, eher zehn Prozent beträgt und nicht nur ein Prozent wie derzeit. Das ist anderswo so, zum Beispiel in der Schweiz oder in Österreich, und es ist richtig, wenn wir alle Talente fördern wollen.

Diese Realität des heutigen Bildungsalltages zu ändern, ist nicht leicht. Aber möglich. Schließlich ist das mit Entscheidungen der nach der deutschen Verfassung für die Bildung zuständigen Länder beeinflussbar. Die so oft beschworene Globalisierung spielt da keine Rolle und kann keine Ausrede für politisches Versagen abgeben.

 

Beitrag erschienen in Thorsten Schäfer-Gümbel (Hg.): Gerecht denken - lokal handeln. Kommunalpolitik als Gegenmacht, Berlin: vorwärts buch 2010, S. 129-135.