Rede beim Forum "Philosophie und Politik"
Moralische Klarheit für erwachsene Idealisten
am 19. November 2010 in Berlin
Die Reihe Politik trifft Philosophie ist keine gewöhnliche politische Diskussionsreihe. Sie bringt Menschen aus sehr unterschiedlichen Berufen ins Gespräch. Ich danke dem Kulturforum der SPD ganz herzlich dafür, dass es heute einmal mehr die Gelegenheit für die Behandlung von sehr grundsätzlichen Fragen der Politik gibt. Das ist jedes Mal eine besondere Herausforderung für die Politiker übrigens ebenso wie für die Philosophen, die in dieser Reihe bisher gesprochen haben.
Susan Neiman hat uns eben gute Argumente für einen linken Fortschrittsoptimismus geliefert. Bemerkenswert fand ich daran, wie Frau Neiman den Begriff fortschrittlich definiert: Das ist die Anschauung: Die Welt, wie sie ist, lässt sich durch eine vereinte Anstrengung von Männern und Frauen dem Sollzustand annähern.
Das beweist ein bemerkenswertes Zutrauen zum von Menschen gemachten Fortschritt. So genannte Realisten wollen heute ja ihren Optimismus scheinbar nur noch mit Wachstumszahlen und Börsenkursen begründen. Ich hoffe, dass dieser Optimismus in die Kraft gemeinsamer Anstrengung ansteckend wirkt.
Warum Susan Neimans Kritik einer von Moral befreiten Sprache anregend ist?
Frau Neiman wendet sich an erwachsene Idealisten. Ich fühle mich da durchaus angesprochen! Sie wendet sich ja so irgendwie an die sozialdemokratische Partei und ihre Anhängerinnen und Anhänger, die schon immer so etwas wie pragmatische Weltverbesserer gewesen sind.
Susan Neiman geht es um die Rehabilitation von moralischer Orientierung. Ihr geht es um die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, um Helden, um Würde und um Edelmut. Und das haben wir eben von ihr noch einmal gehört es geht ihr um die Wiederbelebung moralischer Kategorien in der politischen Spracheder fortschrittlichen liberalen Bürger.
Ich gebe zu: Für meine Ohren klingen diese Begriffe zunächst etwas ungewohnt. Das mag zum Teil an meinem hanseatischen Temperament liegen. Im Norden mag man es im Allgemeinen etwas gedämpfter.
Aber die politische Sprache ist keine Frage persönlichen Stils. Darauf weist Susan Neiman mit Recht und mit sehr guten Beispielen hin. In den USA vor allem behaupten Konservative ja heute, die Moral für sich gepachtet zu haben.
Klar, auch in Europa gibt es eine gewisse Scheu, moralische Fragen in politische Reden einzuflechten. Aber nicht nur auf der Linken. So wie in Nordamerika ist es in Europa und auch in Deutschland nämlich nicht. Die Politiker und Politikerinnen fast aller Couleur sprechen auch über moralische Kategorien, wenn auch fast alle in einem sehr zurückgenommenen Tonfall.
Die Kontroverse, die Susan Neiman bewegt, Moral in der politischen Sprache aufzugreifen, ist aber keineswegs nur ein amerikanisches Thema.
Sprachpolitik in Europa: Soft Conservatism
Denn es sollte eines nicht übersehen werden:
Europas Konservative haben gerade versucht, unter dem Etikett eines soft conservatism Mehrheiten und Regierungsämter zu erkämpfen. Auch darin erkennt man schnell gezielte Sprachpolitik: Denn die Folge ist eine ganz andere Sprache, in der die politischen Wertvorstellungen etwa der europäischen Sozialdemokratie oder der Liberalen eine größere Rolle spielen, als klassisches konservatives Denken.
Unverkennbar handelt es sich dabei um eine ganz spezielle Variante des bis hierhin und nicht weiter Liberalismus. Gesellschaftlicher Fortschritt ist nur selten zu erwarten, aber der einmal erreichte, etwa was das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften oder den Schwangerschaftsabbruch betrifft, wird nur sehr wenig in Frage gestellt. Diese zwei Themen bestimmen dagegen die amerikanische Debatte sehr und die dortigen konservativen Vorstellungen von moralischer Klarheit.
Allerdings kann sich die Lage auch wieder ändern, denn es ist doch offensichtlich, dass ein Teil der konservativen Anhängerinnen und Anhänger mit dieser weichgespülten Variante konservativer politischer Repräsentanz nur noch wenig zufrieden sind. Darauf regieren die deutschen Konservativen ja auch schon.
Niemand sollte etwa glauben, dass die Positionierung der deutschen Bundeskanzlerin in der Frage PID zufällig ist. Sie macht den Versuch, an einem nicht im Mittelpunkt der politischen Debatte stehenden Thema Anknüpfungspunkte für die konservative Anhängerschaft zu finden. Wenn das misslingt, dann auch deshalb, weil viele das taktische Moment an dieser Haltung durchschauen.
Ich beobachte zurzeit, dass sich ein Einfallstor für eine konservative Strategie, die öffentliche Debatte auf moralische Fragen zu reduzieren, öffnet; nämlich die auch in Deutschland zu beobachtende wachsende Differenz zwischen politischer Rede und eigenem Handeln.
Ein gutes Beispiel ist die jüngst in Deutschland geführte Debatte über Integrationskurse und den Spracherwerb von Migrantinnen und Migranten. Da haben sich Spitzenpolitiker der konservativen Partei der CDU einschließlich ihrer Vorsitzenden über Integrationsverweigerer ereifert, die nicht an den Integrations- und Sprachkursen teilnehmen. Gleichzeitig stehen tausende von interessierten Migrantinnen und Migranten, die gerne einen Integrations- und Sprachkurs wahrnehmen würden, vor verschlossenen Türen. Die Mittel dafür aber reichen nicht, sie werden bewirtschaftet.
Ein anderes Beispiel ebenfalls jüngsten Datums: Da hält die CDU-Vorsitzende eine Rede auf dem Kongress ihrer Jugendorganisation, in der sie sich gegen weitere Zuwanderung ausspricht und fordert, zunächst die im Lande lebenden Menschen zu qualifizieren. Aber nur wenige Tage vorher hat sie Gesetze und Haushaltsbeschlüsse auf den Weg gebracht, in denen sie eben diese Qualifizierungsmaßnahmen für inländische Arbeitssuchende in Milliardengrößenordnungen zusammenstreicht.
Dieses Auseinanderfallen von Reden und Handeln wäre nicht so beunruhigend, würde es nicht so uneingeschränkt funktionieren. Die Öffentlichkeit, insbesondere die für kritische Begleitung der Politik zuständigen Medien in Funk, Fernsehen, Internet und Print, lassen Politiker mit solchen Doppelspielen durchkommen.
Und das könnte dazu verführen, mehr auf dieser Bühne zu spielen und noch ganz andere Stücke aufzuführen. Eine vollends von realer Politik entfernte Debatte um moralische Fragen und Fragen der Lebensführung bietet sich geradezu an. Vielleicht werden wir das noch erleben. Insofern sind die Berichte aus den amerikanischen öffentlichen Diskursen auch für uns von großem Interesse.
Für mich ist aber die größte Gefahr für wertgebundene Politik, für moralische Zielsetzungen der sich ausbreitende allseitige Zynismus. Der Zynismus, über den Susan Neiman spricht, wenn sie von Platons jungem Gast Thrasymachos berichtet, der letztlich die Welt für eine verlogene Veranstaltung hält, in der die faktische Macht die einzige normative Kraft ist.
Dieser achselzuckende Zynismus ist ein Problem. Er ist ein Problem, wenn er diejenigen leitet, die als Politikerinnen und Politiker handeln. Er ist ein Problem, wenn er zum manchmal sogar bewunderten Bild von einem Politiker in journalistischer Betrachtung zählt. Und er ist ein Problem, wenn er die stillschweigende Unterstellung der Bürgerinnen und Bürger über das darstellt, was die Politikerinnen und Politiker und die Parteien so machen.
Letztendlich sichert diese achselzuckende Unterstellung dass die Welt ohnehin schlecht sei, und dass das Schlechte nun einmal die Welt beherrsche die Macht derjenigen, die an den schlechten Zuständen in unserer Welt nichts ändern wollen. Wie oft bekomme ich das zu hören? Es ist ja, wie es denn auch gerne heißt, eh alles das Gleiche, kein Unterschied zwischen Politikerinnen und Politikern und den Parteien und letztendlich wird uns ja sowieso nur etwas vorgespielt.
Wer, wie als fortschrittlicher Bürger eine allmähliche Verbesserung der Verhältnisse, in denen wir leben, erreichen will, muss diesem Zynismus entgegentreten. Wer davon überzeugt ist, durch politisches Handeln die Welt ein wenig besser machen zu können als sie ist, darf nicht bei dieser Überzeugung stehen bleiben, sondern muss sie auch als den eigentlichen Antrieb für politisches Handeln verteidigen.
Wenn es eine erkennbare Zurückhaltung gibt, in der politischen Rede auf moralische, wertgebundene Kategorien zurückzugreifen, dann ist das nicht nur der offensichtlichen Angst geschuldet, sich als Naivling lächerlich zu machen, wie Susan Neimann das so sorgfältig beschreibt. Nein, diese Zurückhaltung hat möglicherweise auch damit zu tun, dass mit einer moralischen Haltung selbst mit einer fortschrittlichen moralischen Haltung alleine noch nichts erreicht ist.
Nehmen wir das Beispiel der Armut. Sie zu beklagen, reicht nicht. Gute, realistische, sozialdemokratische Politik und nicht nur sie muss sich die Mühe machen, mit praktischen, konkreten, durchdachten, in dieser Welt erreichbaren Vorschlägen, etwas an der Situation der Armen zu verändern.
Die oft allerdings sehr wohl berechtigte - Forderung Gebt ihnen etwas mehr Geld reicht eben nicht alleine aus. Zu echter Hilfe braucht es mehr als Geld. Es geht doch ganz konkret darum, diejenigen, die arm sind, dazu zu befähigen, ein Leben zu führen, in dem sie nicht oder zumindest weniger auf öffentliche Hilfe angewiesen sind. Das gilt gerade in unseren entwickelten Gesellschaften.
Nicht umsonst hat die sozialdemokratische Debatte in Europa Empowerment die Befähigung zu einem zentralen politischen Thema des letzten Jahrzehnts gemacht. Das hat sie gerade im Umgang mit der wachsenden Langzeitarbeitslosigkeit und ihrer strukturellen Verfestigung getan. Daraus folgte für Sozialdemokraten, dass wir jedem eine gute Qualifikation verschaffen müssen.
Man wünscht sich solch einen geduldigen Realismus bei der praktischen Politik zur Verbesserung der Lebensverhältnisse derjenigen, die heute außerhalb von Arbeit und Beschäftigung stehen.
Für mich bedarf es eines solchen Realismus ganz besonders bei einem Thema, das viele Menschen emotional sehr bewegt. Ich spreche von der Kinderarmut. Da wissen wir doch aus allen Armutsberichten, dass sie vor allem der Arbeitslosigkeit oder der Perspektivlosigkeit der eigenen Eltern geschuldet ist. Wir wissen, dass sie sofort reduziert wird, wenn ein Elternteil, besser noch beide, einem Beruf nachgehen können.
Der Wert von Arbeit
Mir werden bei diesem Befund alle zustimmen, die eine moralisch begründete Haltung zum Thema Kinderarmut haben. Als Politiker weiß ich aber: Hier beginnt erst das Handeln. Und hier beginnt auch die Orientierung an Werten und fortschrittlichen Zielen, die man auch beim alltäglichen praktischen Handeln braucht, um nicht die Richtung zu verlieren.
Arbeit für die Eltern ist der Weg aus Kinderarmut: Doch dann stellt sich die Frage: Wie schaffe ich diese Arbeit? Da gibt es eben nicht den einen, besten Weg. Lassen Sie mich das hier etwas ausführlicher erläutern, was pragmatisches Weltverbessern für mich an dieser Stelle bedeutet. Das ergänzt übrigens auch die Ausführungen von Susan Neiman. Der Index in ihrem Buch nennt den Begriff der Arbeit nicht. Aber im Buch zeigt sie sehr schön wie ich finde das Arbeit, tätig sein, zum aufgeklärten Menschenbild gehört.
Für viele Bürgerinnen und Bürger besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen einem Leben in Würde und Arbeit. Über die Anerkennung, die man mit Arbeit erwerben kann, entsteht auch in unserer Konsumgesellschaft nach wie vor Identität und Selbstwertgefühl. Ich bin überzeugt, dass gerade in Deutschland noch immer gilt, dass wir uns über das definieren, was wir tun. In der deutschen Sprache wird trotz Anglizismen noch immer unterschieden zwischen Job und Beruf. Ein großer Teil des ökonomischen Erfolges unseres Landes beruht darauf, dass wir unsere Arbeit gut machen wollen. Und ich darf hinzufügen: Nach langen Jahren hoher Arbeitslosigkeit ist den meisten Bürgerinnen und Bürgern der Wert einer erfüllenden Arbeit bewusster geworden.
Und deshalb sage ich: Fortschrittlich handeln heißt auf diesem Feld für mich zunächst, das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aufzugeben. So war, ja so ist es aber. Drei Jahrzehnte hoher Arbeitslosigkeit haben bis heute zur Verwirrung in manchen Köpfen geführt. Der gilt unter Linken wie Rechten als Realist, der die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit nicht für möglich hält. Achselzuckend wird diese Lage für unabänderlich gehalten. Wir dürfen uns mit der Arbeitslosigkeit von Millionen aber niemals abfinden. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor allem der lang andauernden Arbeitslosigkeit hat höchste Priorität für eine fortschrittliche, aufgeklärte Politik.
Arbeitslosigkeit grenzt aus und verletzt deshalb die Menschenwürde. Viele Untersuchungen zeigen, dass Langzeitarbeitslosigkeit den Lebensmut bricht. Ich darf hier nur an die berühmte Studie von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel über Die Arbeitslosen von Marienthal erinnern.
Würde und Eigenverantwortung sind die Basis der Demokratie
Ich bin der Auffassung, dass eine demokratische Gesellschaft allen Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen muss, mit Arbeit ihr Leben sichern zu können. Das ist heute nicht so. Die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit nagt deshalb an den Wurzeln unseres Gemeinwesens.
Nun funktioniert die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht so, dass man einfach das Entlassen verbietet. Auf eine solche Idee kann vermutlich nicht einmal ein einfach gestrickter Idealismus kommen. Man kann den Wandel nicht einfach verbieten.
Wenn die Politik aus wirtschaftlichem und technischem Fortschritt einen gesellschaftlichen Fortschritt machen will, begleitet sie den Wandel in der Absicht, ihn menschlich zu gestalten. Alles andere wäre das Ende von wirtschaftlichem Erfolg und der Beginn einer für alle unbefriedigenden Stagnation.
Es gibt noch einen anderen wichtigen Grund, sich dem Wandel nicht in den Weg zu stellen. Denn auch der technische Fortschritt ist ein Ausdruck der schöpferischen Kraft arbeitender Menschen. Eine Gesellschaft kann sich diese schöpferische Kraft dann zunutze machen, wenn sie möglichst alles in ihrer Macht stehende unternimmt, ihren Bürgern und Bürgerinnen eine möglichst gute Ausbildung zu sichern.
Das ist mein Schluss, wenn ich mich als pragmatischer Idealist mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beschäftige. Ich weiß: Noch zu oft sind die Bedingungen, unter denen Menschen Arbeit bekommen, weit von Guter Arbeit entfernt. Zu oft wird der Grundsatz verletzt, dass anständige Arbeit auch anständig bezahlt werden muss. Und noch immer kommen zu viele junge Menschen ohne Abschluss und ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt.
Ich bin der Meinung, dass ein der Aufklärung verpflichteter Politiker aus diesem Befund den Schluss ziehen muss, die Fähigkeit der Menschen zur Selbstverantwortung zu stärken. Ich habe eben den Begriff Empowerment benutzt. Da ist das beste Mittel eine gute Ausbildung.
Empowerment setzt gute Bildung voraus
Warnen will ich allerdings trotzdem vor einem rein instrumentellen Verständnis von Bildung. Wir sollten darüber nicht so reden, dass wir Menschen mit einem Startkapital für den Arbeitsmarkt ausstatten wollen. Es geht auch nicht darum, sie allein zu nutzbringenden Mitgliedern unserer Gesellschaft zu machen.
Ich meine dagegen: Wenn es ein Thema gibt, bei der wir mit Moral argumentieren müssen, dann ist es dieses! Bildung ist ein Menschenrecht. Ohne sie kann kein Mensch ein freies, selbstbestimmtes Leben führen. Und Bildung ist die Voraussetzung für den Gebrauch von Vernunft.
Humboldts klassisches Ideal versteht Bildung als einen lebenslangen Entwicklungsprozess. Menschen entwickeln darin ihre eigenen geistigen und sozialen Talente. Genauso haben es die Arbeiterbildungsvereine des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verstanden. Und ich denke, dieses Ideal eines sich selbst entwickelnden, aufgeklärten Menschen ist in unserer komplexen Welt aktueller ist denn je.
Deshalb ist eine größere Durchlässigkeit unseres Bildungssystems so wichtig. Deshalb, finde ich, hat jeder das Recht, seinen Schulabschluss auch mit 25 oder 52 noch nachholen zu können.
Die für alle gleiche Chance auf bessere Bildung darf in keiner Lebensphase verbaut sein. Jeder verdient die gleichen Chance, und ich füge hinzu: Jeder auch eine zweite oder dritte Chance.
Moral und die Militäreinsätze der Bundeswehr
Susan Neiman bezieht viele ihrer Beispiele für den zynischen Missbrauch von Moral oder für einen zynischen vermeintlichen politischen Realismus à la Thrasymachos aus den öffentlichen Debatten um die Kriege im Irak und Afghanistan.
Ich habe eingangs gesagt, dass viele ihrer Beispiele mehr die Wirklichkeit der USA treffen als die europäische Debatte. An diesem Punkt gilt das besonders.
Susan Neiman wunderte sich in ihrer Rede darüber, wie Gerhard Schröders Motive für die Ablehnung einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg beurteilt worden sind. Ich teile ihr Erstaunen!
Hinter diesem verächtlichen Urteil steckt oft eine tatsächlich zynische Haltung gegenüber der Politik, der keine moralische Haltung zugetraut wird.
Es gibt aber gerade auch in Deutschland mit seiner traumatischen Kriegserfahrung eine Haltung gegenüber militärischer Gewalt, die sich selbst als prinzipienfest versteht und jeden militärischen Einsatz ablehnt. Als pragmatischer Weltverbesserer frage ich mich aber, ob ich damit wirklich zu einer moralisch begründbaren Politik komme.
Ich meine: Alleine aus einem einzigen Prinzip heraus lässt sich die Frage nicht beantworten, wie Deutschland, Europa sich zu militärischen Konflikten oder zum Terrorismus auf der Welt stellen sollen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben da eine klare Meinung. Es war ein Ausdruck von politischer Größe so, wie es Susan Neiman zu Recht eben gesagt hat dass der deutsche Kanzler Gerhard Schröder Nein zum Irak-Krieg gesagt hat.
Aber es war eben auch richtig, dass wir uns in Deutschland entschieden haben, angesichts des furchtbaren Anschlags auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, die Bekämpfung der Terroristen und ihrer Verbündeten in Afghanistan auch als eine Aufgabe zu begreifen, an der sich auch deutsche Soldaten beteiligen müssen. Wir waren damals der Meinung, dass das ein Gebot der Solidarität war. Es war darüber hinaus auch eine Konsequenz aus der Erkenntnis, dass wir Sicherheit in der Welt nur noch gemeinsam mit anderen Völkern garantieren können.
Jetzt diskutieren wir darüber, wie dieser schon so lange währende Einsatz zwischen 2013 und 2015 beendet werden kann und der afghanische Staat auf eigenen Füssen seine Integrität verteidigen kann.
Beide Entscheidungen, die zum Irak und die zu Afghanistan sind für fortschrittliche Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sehr wohl auch unter moralischen Gesichtspunkten zu diskutieren.
Da muss man dann schon abwägen. Eine aufgeklärte Diskussion in dieser Frage kann gar nicht mit einfachen Argumenten geführt werden. Dafür ist die Lage vor allem in Afghanistan zu offen. Ich habe gesagt, dass die Beteiligung Deutschlands an dieser militärischen Auseinandersetzung 2001 richtig war. Ich selbst habe als Bundestagsabgeordneter der Verlängerung dieses Einsatzes seitdem einige Male zugestimmt. Glauben Sie mir, dass habe ich mir nicht leicht gemacht. Wenn man jungen Menschen in einen solchen Einsatz schickt, dann muss man schon wirklich gute Gründe dafür haben.
Ich kann hier nicht alle Fragen dieses Mandates erörtern. Ich will aber auf diese Weise aufzeigen, welche Fragen sich jemand stellt, der zu einer moralisch begründeten Haltung zu diesem Einsatz gelangen will.
Wir haben damals sicher stellen wollen, dass Afghanistan nicht wieder zu einem Ort werden kann, von dem aus Terroranschläge vorbereitet werden.
Das sorgfältige Abwägen gehört für mich zu einer verantwortlichen und moralisch zu rechtfertigen Politik. Mit George Bushs Achse des Bösen komme ich da sowenig weiter wie mit Gregor Gysis strikter Ablehnung jeden Militäreinsatzes ohne Rücksicht auf die Folgen.
Leistung muss sich wieder lohnen Arbeit muss sich lohnen
Dass wir gut beraten sind, Susan Neimans Rat zu folgen, auch in moralischen Kategorien argumentieren zu können und zu argumentieren, zeigt ein jüngstes Beispiel der Debatte über Arbeit und Lebensführung in Deutschland.
Der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei, Westerwelle, hat sich angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe von Regelsätzen für Langzeitarbeitslose etwa so eingelassen: Wer arbeitet, muss mehr haben, als wer nicht arbeitet. Und dann hat er noch hinzugefügt: Leistung muss sich lohnen.
Das sagen die Freien Demokraten nicht einfach so. Da hat Westerwelle eine Haltung zu Fragen der Lebensführung eingenommen. Aber ich kann Ihnen sagen: Letztlich sind das Haltungen, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch einnehmen.
Ja, Leistung muss sich lohnen. In unserer Vorstellung heißt das aber: Wir brauchen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Der muss sicher stellen, dass jemand, der Vollzeit berufstätig ist, seinen eigenen Lebensunterhalt ohne öffentliche Hilfe bestreiten kann. Ja, wir sind der festen Überzeugung, dass, wer arbeitet, mehr haben muss, als wer nicht arbeitet.
Aber wir meinen das eben nicht so, wie das Westerwelle meint: Dass nämlich die finanzielle Unterstützung für Arbeitssuchende reduziert werden soll. Wir meinen das so, dass die Löhne und Gehälter derjenigen, die arbeiten, ordentlich sein sollen.
Wenn es die fortschrittlichen Bürgerinnen und Bürger und ihre Politikerinnen und Politiker versäumen, in dieser Frage der Lebensführung genau diese Vorstellung zu ihrer eigenen zu machen, dann kann es passieren, dass der vernünftige Grundsatz Leistung muss sich lohnen ins Gegenteil umschlägt. Wenn Kategorien von Lebensführung und den damit verbundenen moralischen Vorstellungen so verdreht werden wie von Westerwelle, dann kann das zu einer Spaltung unter den Bürgerinnen und Bürgern führen und letztendlich das Gegenteil von dem Angekündigten zu bewirken: Wer ordentlich arbeitet und sich anstrengt, verdient trotzdem nicht genug zum Leben.
Westerwelles Tiraden sind ein Hinweis darauf, dass es gut ist, von Susan Neiman und ihren aus den amerikanischen Debatten geborenen Vorstellungen zu profitieren. Denn Gerechtigkeit ist nicht durch Guido Westerwelles Neusprech zu beschreiben.
Zwischen Anstrengung und Gerechtigkeit besteht ein enger Zusammenhang. Darauf weist übrigens auch Susan Neiman hin, wenn sie an Bert Brechts Lied Denn wovon lebt der Mensch? aus der Dreigroschenoper erinnert (S. Neiman, Moralische Klarheit, S. 133): Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Lesen Sie es noch mal nach: Das Lied sagt schon sehr klar, wie das Fressen und die Moral zusammenhängen.
Ich frage mich, wie ich denn junge Menschen motivieren soll sich anzustrengen, wenn ich ihnen sagen muss, dass es für viele von ihnen erst einmal nur befristete Beschäftigung gibt oder sogar nur ein unbezahltes Praktikum. Wie soll ich Anstrengung im Beruf von den Menschen erwarten, die berufstätig sind und trotzdem ihr Gehalt bei den Jobcentern aufstocken lassen müssen. Woher soll die Motivation bei den inzwischen mehr als 6 Millionen Menschen kommen, die heute im Niedriglohnsektor beschäftigt sind? Wenn sie keinen angemessenen Lohn bekommen, dann motiviert sie nackte Existenzangst. Das ist unmenschlich!
Für viele Bürgerinnen und Bürger ist es selbstverständlich, sich der Anstrengung der Arbeit zu stellen. Aber selbstverständlich ist ihnen auch, dass sie dafür fair und gerecht behandelt werden wollen. Nur eine solche Gesellschaft wird von den Betroffenen als faire Gesellschaft begriffen. Werden diese elementaren Vorstellungen von Fairness verletzt, dann provoziert das nur den Zynismus der Bürger, wenn sie die Politik beobachten und beurteilen.
Es ist also richtig, dass Susan Neiman uns darauf hinweist, moralische Fragen nicht gering zu schätzen und eine Sprache und eine Redeweise zu entwickeln, in der diese Fragen eine Rolle spielen.
Es ist richtig, wenn sie uns darauf hinweist, dass es auch in der Auseinandersetzung zwischen den Fortschrittlichen und Konservativen unserer Gesellschaft von großer Bedeutung ist, dass wir die Frage der Moral nicht zu einer Angelegenheit ausgerechnet derjenigen machen, deren Handeln oft moralischen Vorstellungen nur wenig entspricht.
Ich habe mich von Susan Neimans Aufforderung zu moralischer Klarheit anregen lassen, mich als einen pragmatischen Weltverbesserer zu outen. Mir war wichtig zu zeigen, dass Moral in der Tagespolitik kein Gegenstand von Sonntagsreden oder weihevoll vorgetragenen Appellen ist. Moralische Kategorien können uns in der praktischen Politik Orientierung geben.
Ich bin überzeugt, dass das Streben nach einer menschlichen Gesellschaft, nach materieller und geistiger Freiheit und Gerechtigkeit klare moralische Orientierungspunkte braucht, um sich auf dem Weg nicht zu verlieren. Diese Orientierungspunkte helfen, Wege aus dem oft unbefriedigenden Hier und Jetzt zu finden.
Mir ist deshalb Susan Neimans Mahnung wichtig, dass, wer sich fortschrittlich nennt, dazu verpflichtet ist, das "ist" der politischen und sozialen Wirklichkeit ständig mit dem "sollte sein" zu konfrontieren. Und es ist ein starkes Wort gegen einen sich ausbreitenden, lähmenden Zynismus, daran zu erinnern, dass die Aufklärung "das Recht auf Glück" beinhaltet. So hat es Thomas Jefferson in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hinein geschrieben.
Es tröstet uns Sozialdemokraten, die wir ja als pragmatische Partei in der Geschichte bedeutsam geworden sind, dass Susan Neiman dabei so viel Anleihe nimmt bei Kant, für den die Vernunft eine bedeutende Kategorie ist, und das sie ihn sogar als einen frühen Vertreter sozialdemokratischen Denkens einordnet was für ein Glück.
Ich bekenne, dass habe ich auch immer so gesehen. Pragmatische sozialdemokratische Politik steht für mich in der besten Tradition der Aufklärung. Für Immanuel Kant war das ja bekanntlich der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. [I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494] Das ist die Aufforderung, die eigene Fähigkeit zur Freiheit und zur Vernunft auch zu nutzen.
Idealismus und Realismus sind für mich zwei Seiten einer Medaille. Da weiß ich mich in meiner Partei in guter Gesellschaft. Sie werden deshalb auch nicht überrascht sein, wenn ich hier und heute das hohe Lied der sozialen Demokratie angestimmt habe, ohne die für mich ein wirklicher Fortschritt seinen Namen nicht verdient.