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Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
28.09.2023 | Berlin

Bundeskanzler Olaf Scholz im Interview mit der WirtschaftsWoche

Herr Bundeskanzler, wir kommen gerade vom Weltmarktführer Innovation Day in Erlangen. Da treffen sich die Hidden Champions, das berühmte Rückgrat unserer Wirtschaft. Die Stimmung dort war so schlecht wie lange nicht. Wie wäre Ihre Rede ausgefallen, hätten Sie dort auf der Bühne gestanden?

Ich hätte dort auf die beeindruckende Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft verwiesen. Niemand weiß das ja besser als die Hidden Champions. Und ich hätte geraten, dass wir uns nicht in eine wirtschaftliche Depression hineinreden sollten. Deutschland ist und bleibt wirtschaftlich stark und Weltmarktführer-Land mit seinem einzigartigen Zusammenspiel von großen Konzernen und vielen Mittelständlern.

Reden Sie die Lage nicht schön?

Nein, gerade schwächeln unsere Exportmärkte – und das geht an einem exportorientierten Industrieland wie Deutschland natürlich nicht spurlos vorüber. Aus dieser zyklischen Schwäche aber den Schluss zu ziehen, es liefe etwas grundlegend falsch, hielte ich für einen schweren Fehler. Deutschland hat wie nur wenige andere Länder von der Globalisierung profitiert. Wir sollten unsere Exportorientierung nicht infrage stellen.

Aber die Krise geht doch tiefer. Laut Allensbach-Institut ist der Glaube an eine gute Zukunft des Standorts noch nie so schnell verfallen wie unter Ihrer Koalition. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm macht eine „strukturelle Wachstumsschwäche" aus. Wer irrt denn nun?

Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland zu den Staaten gehören wird, denen der Umstieg in die klimaneutrale Zukunft am schnellsten und erfolgreichsten gelingen wird. Deshalb machen wir ja Tempo, um den Ausbau von Windkraft und Solarenergie zu beschleunigen, das Stromnetz zu ertüchtigen, ein neues Wasserstoffnetz aufzubauen und neue Gaskraftwerke zu errichten, die auch mit Wasserstoff genutzt werden können. Hunderte Milliarden Euro an Investitionen stehen dort in den kommenden Jahren an – vor allem privatwirtschaftliche Investitionen, aber auch staatliche Förderung. Das wird wichtige Wachstumsimpulse setzen.

Sie wählen gerne Bilder aus der Seefahrt: Die Überfahrt über eine stürmische See muss gelingen. Dafür braucht es einen Kapitän, dem die Menschen vertrauen. Kommen die Worte des Kapitäns Scholz also nicht an – oder haben wir schon Schiffbruch erlitten?

Für die stürmische See braucht es einen klaren Kurs – und genau diesen Kurs verfolgen wir. Ja es ist stürmisch geworden: Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Sicherheitsarchitektur Europas fundamental infrage gestellt. Auf diese Zeitenwende haben wir entschlossen reagiert – mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr, mit der Stärkung unserer Landes- und Bündnisverteidigung und mit all den Schritten, die wir gegangen sind, um uns rasch unabhängig zu machen von russischen Energielieferungen. Das zeigt, wozu unser Land fähig ist. Gleichzeitig will ich nicht nur durch den Sturm kommen, sondern unser Land modernisieren. Ich habe darum einen Deutschlandpakt vorgeschlagen, der Länder, Städte und Gemeinden sowie die demokratische Opposition einschließt: Lasst uns das Dickicht der überflüssigen Vorschriften lichten, die Bremse lösen und für mehr Tempo beim Planen und Bauen in Deutschland zu sorgen.

Tempo? Deutschland schrumpft derzeit als einziges Industrieland, wir sehen einen Rekordabfluss an Direktinvestitionen und in renommierten Standort-Rankings werden wir nach hinten durchgereicht. Muss sich Deutschland daran gewöhnen, nur noch Mittelmaß zu sein?

Die WirtschaftsWoche steht für ökonomische Expertise. Deshalb können Sie sich die Frage auch selbst beantworten.

Also ja?

Also: Nein – und solche Schwarzmalerei ärgert mich. Vor lauter Lust an Kassandra-Rufen sollte niemand mutwillig unser Land schlecht reden. Niemand verschließt die Augen vor der aktuell herausfordernden Lage. Deshalb setzt die Bundesregierung ja gezielte Impulse, etwa mit dem Wachstumschancengesetz und dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, und schafft unter anderem attraktive steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten. Das Ziel ist klar: Wer überlegt, ob er abwarten oder investieren soll, erhält gute Argumente es jetzt zu tun. Der Staat unterstützt die Wirtschaft, mutig zu sein.

Aber müssten Sie in Ihrer Bestandsaufnahme nicht selbst mutiger sein – und eingestehen, dass unser Problem größer ist als eine schwächelnde Welt, in der wir nur ein bisschen mitschwächeln? Sind wir wieder der kranke Mann Europas?

Nein, und ich bin überrascht, wie unkritisch ein Fachblatt wie die WirtschaftsWoche die abstruse These der britischen Zeitschrift „Economist" übernimmt. Dort wird als Hauptproblem Deutschlands die Schuldenbremse gesehen und als Lösung vorgeschlagen, dass wir sehr viele höhere Staatsschulden machen sollten. Mir ist neu, dass die WirtschaftsWoche ein Gegner der Schuldenbremse ist.

Na ja, mit dem milliardenschweren Klima- und Transformationsfonds und dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds mogeln Sie sich doch an der Schuldenbremse vorbei.

Auch hier ist das Gegenteil richtig: Mit dem Klima- und Transformationsfonds haben wir ein zielgenaues Instrument, um Investitionen zu tätigen, die für die Modernisierung nötig sind, ohne die Politik der Europäischen Zentralbank zu konterkarieren, die vernünftigerweise gegen die zu hohe Inflation in Europa kämpft.

Im Mai haben Sie ein „grünes Wirtschaftswunder" versprochen, mit Wachstumsraten wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Sie haben dieses Versprechen in der Öffentlichkeit nie wiederholt.

Dann mache ich das für Sie gerne noch einmal: All die Investitionen, die getätigt werden, um unsere Wirtschaft zu modernisieren und klimaneutral zu machen, werden sich bezahlt machen. Allein in das Strom-, Gas- und Wasserstoffnetz müssen 100 Milliarden Euro investiert werden. All das wird einen Schub auslösen.

Sie glauben ernsthaft, dass wir wieder Wachstumsraten von sieben oder acht Prozent sehen werden?

Ich halte es für durchaus möglich, zu hohen Wachstumsraten zu gelangen.

Wir fassen Ihre Botschaft kurz zusammen: Liebe Leute, hört auf zu jammern!

Es gibt keinen Anlass zu jammern. Wer jammert, bleibt stehen – ich will, dass wir vorankommen.

Halt, wir schrumpfen dieses Jahr.

Das ist richtig – und das hat eben viel mit dem russischen Angriffskrieg und dessen weltwirtschaftlichen Auswirkungen zu tun. Aber schon für kommendes Jahr erwarten die Fachleute ein Wachstum von mehr als einem Prozent, was den Standort Deutschland angeht. Im Gegensatz zur Jahrtausendwende, als Deutschland als „kranker Mann Europas" bezeichnet wurde, haben wir heute keine fünf Millionen Arbeitslose, sondern nahezu Vollbeschäftigung und müssen Arbeits- und Fachkräfte aus dem Ausland holen. Deshalb haben wir das modernste Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Welt geschaffen.

Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler, wenn man Mensch und Unternehmen spricht, hat man das Gefühl, dass das da draußen ein anderes Land ist als Sie es hier drinnen beschreiben.

Ich weiß sehr genau, was im Land los ist und bin auch viel im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern – mit Arbeitern genauso wie Unternehmerinnen, mit Start-up-Gründern wie mit Selbstständigen, den Konzern-Chefinnen genauso wie mit Beschäftigten.

Also können wir das auf die Formel bringen: Sie sehen etwas, was wir nicht sehen? Und wir sollten abwarten, auch die Unternehmer, bis alles wieder gut wird?

Ich sehe ein Land, das kraftvoll reagiert und die Energieversorgung im vergangenen Winter gesichert hat. Ein Land, das nun seine Energieversorgung innerhalb von etwas mehr als 20 Jahren klimaneutral stellen und dabei Industrieland bleiben wird. Und für diesen Umbau braucht es Investitionen, darum geht es jetzt. Anpacken, das ist die Devise!

Das tun viele ja – mittlerweile nur offenbar lieber im Ausland.

Ach! Es galt lange als Zeichen der Stärke, dass Unternehmen auch im Ausland investieren, um zu wachsen – und plötzlich wird es als Krisenphänomen herangezogen? Das kann ich nicht nachvollziehen. Und Sie unterschlagen, dass internationale Konzerne Rekordsummen in Deutschland investieren – in die Halbleiterindustrie, in Batteriefabriken, in E-Mobilität. Deutschland entwickelt sich gerade zum führenden Halbleiterstandort Europas.

Aber ohne einen Scheck über zehn Milliarden Euro wäre der US-Konzern Intel nicht nach Magdeburg gekommen. Wollen Sie die Zukunft herbeisubventionieren?

Solche Investitionen in dieser Größenordnung werden überall auf der Welt mit öffentlichen Mitteln unterstützt – das wissen Sie ja selbst. Wir sind da keine Ausnahme, sondern machen das im Rahmen der gültigen EU-Regeln. Die Unternehmen haben sich aus vielen guten Gründen für Deutschland als Standort entschieden – nicht zuletzt wegen der international renommierten Halbleiterforschung. Dieses bestehende Ökosystem mit Unternehmen wie Infineon, NXP, Bosch und GlobalFoundries wird dank der neuen Investitionen noch einmal eine ganz andere Dynamik entwickeln.

Intel plant 3000 Arbeitsplätze. Drei Millionen Euro Subvention pro Arbeitsplatz sind gut investiert?

Wie gesagt, es geht um das Ökosystem, da ist Intel ein Faktor. Und es ist wichtig, dass wir die Fehler der Siebziger- und Achtzigerjahre korrigieren. Damals wurde entschieden, dass eine Halbleiterproduktion in Europa nicht wichtig ist. Die Chips wurden für eine Ware gehalten, die es überall zu kaufen gibt. In der Pandemie haben wir schmerzlich feststellen müssen, dass das ein Irrglaube war und beschlossen, kritische Komponenten in Europa herzustellen. Wir wollen weniger abhängig sein. Würden Sie diesem Weg widersprechen?

In der Tat. Sie geben 500 Millionen Euro für die Exzellenzstrategie der deutschen Hochschulen aus. Wäre die zehn Milliarden dort nicht besser investiert als bei einem Konzern, von dem Experten sagen, dass er noch nicht einmal technologisch führend ist und dessen Chips in Smartphones aus Asien landen?

Sie unterschlagen in ihrer Rechnung die Investitionen von Bund und Ländern in Forschung und Entwicklung, und sie unterschätzen die Signalwirkung solcher Standortentscheidungen. Neben Intel in Magdeburg investiert ja auch der US-Konzern Wolfspeed im Saarland. Und aus Taiwan kommt TSMC nach Dresden. Noch einmal, es geht hier nicht allein um die Produktion, sondern um Resilienz, um eine Kernkompetenz, die für die Wachstumsperspektive der Volkswirtschaft strategisch entscheidend ist.

Sie agieren so offensiv bei Subventionen für Chipkonzerne. Warum sperren Sie sich dann so vehement gegen einen Industriestrompreis?

Im Ziel sind wir uns alle einig: strukturell niedrige Energiepreise in Deutschland. Darum geht es beim Ausbau der Erneuerbaren Energien und des Übertragungsnetzes. Wenn es nicht so viele Widerstände aus Bayern gegeben hätte, wären wir beim Stromnetz längst am Ziel. Das würde sofort zu niedrigeren Preisen führen. Deshalb beschleunigen wir diesen Ausbau. Jetzt sehen wir bereits deutlich fallende Preise, wenn sie auch noch nicht das Niveau vor Russlands Angriffskrieg erreicht haben. Klar ist aber auch: Der Strommarkt muss auf Dauer ohne Subventionen funktionieren. Zu überlegen wäre allenfalls, ob wir in Einzelfällen eine Unterstützung zur Überbrückung brauchen.

Sie wünschen sich also eine Art maßgeschneidertes Stromsenkungsinstrument, um die kritischen Jahre bis 2030 zu überbrücken?

Die deutsche Industrie ist für uns von zentraler Bedeutung. Viele prüfen jetzt, welche Vorschläge überhaupt funktionieren würden – und ob sie zu bezahlen sind.

Wie sieht der konkrete Vorschlag des Kanzlers aus?

Erstmal, der Kern der meisten Vorschläge lautet: Staatsschulden zu machen, um Industrieunternehmen zu subventionieren, die Gewinne erzielen. Das kann ja wohl nicht die Antwort sein.

Sie könnten die Stromsteuer senken.

Es gibt viele Alternativen, die aber alle dazu führen würden, dass man die Schuldenbremse in Deutschland nicht mehr einhalten kann. Klar ist: Der Staat darf kein Geld aus dem Fenster rauswerfen. Was wir tun, muss wohlüberlegt sein.

Sie klingen wie das Enigma von Berlin.

Nein, ich beschreibe die Herausforderung, die nicht klein ist. Bisher gibt es jedenfalls noch keine Lösung, die alle überzeugt hat. Mich eingeschlossen.

Herr Bundeskanzler, Sie reden gegen die schlechte Stimmung an, und wirken dabei doch selbst leicht genervt von Anwürfen. Und da haben Sie ja einen Punkt: Ob zu viele sich in die schlechte Lage reinsteigern. Aber warum und wann ist der Zauber des Neuanfangs der Ampel verflogen?

Es ist doch viel los in der Welt und niemand hatte Zeit für Zauber. Da war die Pandemie, der russische Angriffskrieg, die massiv gestiegenen Energiepreise, die Inflation, die irreguläre Migration. Die Bürgerinnen und Bürger haben Sorgen und sind unsicher, ob das alles für sie am Ende gut ausgehen wird.

Was müssen Sie ändern? Womöglich doch das Leitmotiv Ihrer Politik, vielleicht gar einen großen Wurf wagen – ein neues Reformprogramm?

Wir sind mittendrin in den Reformen. Ich habe es am Anfang schon betont: Was Deutschland in den nächsten zwei Jahrzehnten vor sich hat, ist nichts weniger als das, was dieses Land am Ende des 19. Jahrhunderts vollbracht hat: eine tiefgreifende, umstürzende industrielle Modernisierung. Am Ende wollen wir immer noch ganz vorne dabei sein, wenn es um Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit geht.

Dann müssen wir jetzt über die deutsche Vorzeigeindustrie sprechen, die unter immensem Druck steht: die Automobilhersteller. Wie sehr reizt den Autofan Olaf Scholz ein chinesisches E-Auto?

Ich freue mich über die tollen Modelle, die die deutschen Autohersteller bereits hervorgebracht haben. Und besonders freue ich mich auf die elektrische Zukunft: in zwei Jahren kommen die großen deutschen Massenmodelle, etwa die Neue Klasse von BMW, der GLA von Mercedes, Volkswagen mit einer Art neuen E-Polo. Unser Ziel ist es, 2030 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen zu haben – mit diesen Modellen ist das Ziel erreichbar, davon bin ich fest überzeugt.

Schon 2025 könnte jedes vierte E-Auto in Europa aus China kommen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwägt nun Strafzölle gegen die Fahrzeuge aus Fernost. Eine gute Idee?

Ich bin davon nicht sehr überzeugt, um es höflich auszudrücken.

Dann war die Maßnahme nicht mit Ihnen abgestimmt?

Es gehört zu den Aufgaben der EU-Kommission, solche Fragen zu prüfen. Unser Wirtschaftsmodell sollte sich aber nicht auf Protektionismus gründen oder verlassen – sondern auf die Attraktivität unserer Produkte. Nebenbei: Ähnliche Besorgnisse gab es schon, als die Japaner in den achtziger und Koreaner in den neunziger Jahren auf unsere Märkte drängten. Und doch haben wir uns behauptet.

Wir sind uns da diesmal nicht so sicher. Während die Chinesen den europäischen Markt fluten, sind die deutschen Hersteller in China unter Druck. Planen Sie bereits Rettungsmaßnahmen?

Die leistungsfähige deutsche Autoindustrie fände wohl nichts falscher, als wenn man sie zum Sanierungsfall erklären würde. Sie selbst setzt auf ihre Leistungs- und Innovationsfähigkeit, nicht auf Zölle.

Bleiben wir beim Thema China. Außenministerin Annalena ‧Baerbock hat Xi Jinping einen Diktator genannt. Sie auch?

China ist ein kommunistisches Ein-Parteien-System, wir sind eine liberale Demokratie. Die Welt kennt sehr unterschiedliche Regierungsformen, wir unterhalten Kontakte zu verschiedenen Systemen.

Statt zum jüngsten G20-Gipfel reiste Xi lieber zu Putin nach Moskau und zum Brics-Gipfel nach Südafrika. Das Bündnis erweitert sich um Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten und Iran. Wie bedrohlich ist das Gegenbündnis für den Westen?

Ihre Frage nach dem Verhältnis zum Westen deutet ein bisschen auf das eigentliche Problem hin. Es ist ein Leitmotiv meiner Außenpolitik, uns nicht von solchen falschen Fragen leiten zu lassen

Aber dieses Brics-Plus-Gruppe formiert sich doch als Gegengewicht zum Westen. Oder gibt es keine Blockbildung?

Wir tun gut daran, die Eigenständigkeit des globalen Südens zu respektieren. Als demokratische Gesellschaften sollten wir den Staaten des Südens auf Augenhöhe begegnen, nicht mit paternalistischen oder gar neo-kolonialen Überlegenheitsgestus. Und deshalb kooperieren wir mit den aufstrebenden Staaten dieses Jahrhunderts wie Indien, Indonesien, Südafrika, Nigeria oder Brasilien.

Mercosur-Vertreter haben die Vorstellungen der Europäer beim Schutz des Regenwaldes gerade als zu paternalistisch bezeichnet. Lassen sich mit erhobenem Zeigefinger wirklich gute Geschäfte machen?

Als ehrbarer Kaufmann würde ich das nicht empfehlen. Das hat aber auch niemand vor. Es kommt jetzt darauf an, das Fenster der Gelegenheit zu nutzen, das sich nach der Wahl in Brasilien aufgetan hat.

Deutsche Firmen setzen ihre Hoffnungen lieber auf ein anderes Land: die USA, die mit dem Inflation Reduction Act (IRA) und niedrigen Energiekosten locken. Die Amerikaner haben so große Kräfte entfesselt. Sind Sie neidisch?

Lustig, eben noch kritisieren Sie uns für angeblich zu hohe Subventionen, und jetzt führen Sie die USA als löbliches Beispiel an. Ich bin erstmal froh, dass die USA den Klimaschutz so kraftvoll angehen. Und ja, der Umfang des IRA ist riesig, aber die EU und auch Deutschland mobilisieren auch eine Menge.

Nur haben die Amerikaner mit ihrem Geld einen anderen Sog erzeugt.

Das werden wir sehen, abgerechnet wird am Schluss. Was wir unseren US-Freunden jedoch in aller respektvollen Deutlichkeit sagen: Staatliche Zuschüsse dürfen nicht zum Normalfall werden. Für riskante Investitionen – ja. Für Großvorhaben, die anders keine Chance hätten – ja. Aber es kann nicht zur Regel werden, dass Unternehmen immer öffentliches Geld dazu bekommen.

Kommen wir zum Thema Migration. Da muss man feststellen: Deutschland zieht nicht die ausländischen Fachkräfte an, die es braucht – während es die ungesteuerte Zuwanderung nicht in den Griff bekommt.

Ihre Kritik an der CDU/CDU ist berechtigt. Denn ein Einwanderungsgesetz, das den Namen verdient, haben wir erst jetzt mit der Ampel verabschieden können. Das ist das eine. Das andere betrifft Flucht und irreguläre Migration: Hier sind die Zahlen zu hoch, daran gibt es keinen Zweifel. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, damit weniger kommen.

Wirklich alles?

Es gibt zusätzliche Grenzkontrollen in Deutschland. Und wir unterstützen die EU-Länder mit Außengrenzen. Wir werden das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem verabschieden, das einen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen vorsieht. Ein Wendepunkt. Wir arbeiten an Musterabkommen für Mobilitätsabkommen, damit jene, die als Asylbewerber abgelehnt worden sind, einfacher in ihre jeweiligen Heimatländer zurückgebracht werden können. Und werden Moldau und Georgien zu sicheren Herkunftsländern erklären. All das wird zusammenwirken.

Dann stimmt auch hier etwas mit dem Gefühl der Menschen nicht? Warum ist das Thema Migration wieder so toxisch geworden?

Da geht es um Sorgen und Ängste. Deshalb tun wir alles, was in unserer Macht steht. Wir gehen die Herausforderung an. Eines finde ich aber schwer erträglich: Wenn Politiker mit platten Forderungen wie „Obergrenzen" durchkommen – ohne konkrete Handlungsvorschläge zu unterbreiten. Mit heißer Luft wird nur die Stimmung im Land aufgeheizt. Auf komplexe Fragestellungen einfache Antworten zu geben, klappt in der Regel nicht.

Würden Sie denn einer ausländischen Fachkraft mit anderer Hautfarbe raten, sich einen Job in den AfD-Hochburgen Sonneberg oder Görlitz zu suchen?

Ich rate allen Fachkräften, nach Deutschland zu kommen – überallhin – und hier zu arbeiten. Die AfD ist nicht Deutschland. Sie ist auch nicht typisch für Deutschland. Die überwältigende Mehrheit in unserem Land vertritt vernünftige Ansichten.

Treten wir zum Schluss noch mal einen Schritt zurück: Nach Deutschlands „goldenem Jahrzehnt" kam Corona, dann der Krieg, dann die Inflation. Vielleicht wollen die Menschen kein „Deutschlandtempo", sondern einfach ein Land, das wieder funktioniert?

Oder beides? Ich habe den Deutschlandpakt vorgeschlagen, bei dem der Bund, die 16 Länder, die Städte und Gemeinden und die demokratische Opposition gemeinsam anpacken, um dieses Land wieder auf Vordermann zu bringen und unnötigen Verwaltungskram abzuschaffen. Und ich freue mich, dass die Länder so positiv darauf reagiert haben. Wir haken uns alle unter und handeln.

An fünf Tagen – oder wäre Ihnen eine 4-Tage-Woche lieber?

Ich habe schon immer viel gearbeitet. Und nun bin ich Bundeskanzler und arbeite immer noch gerne und in der Regel lange.

Wenn der Vielleser Olaf Scholz mit dem Wissen von heute dem frisch vereidigten Bundeskanzler noch ein Buch zur Vorbereitung aufs Amt empfehlen könnte: Welches wäre es?

Gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hätte leider kein Buch geholfen. Mir hilft, dass ich auf viele Jahre voller Erfahrung in verschiedensten Ämtern zurückgreifen kann.