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26.10.2006

Der Vorsorgende Sozialstaat - Rede von Olaf Scholz bei der FES

Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung sprach der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD Bundestagsfraktion zum Thema "Vorsorgender Sozialstaat".

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,  

 

die sozialstaatlichen Traditionen in Deutschland reichen lange zurück, der moderne Sozialstaat begann bereits im vorletzten Jahrhundert. Es ist nicht leicht seine Wirkungsmechanismen zu verstehen und die vielen Schichten sozialstaatlicher Institutionen zu begreifen. Jede Reformdiskussion, jede Diskussion über die Perspektiven des Sozialstaates in unserem Land muss aber von einer verständigen Betrachtung des Entstandenen ausgehen.    

 

1.   Die erste Schicht sozialstaatlicher Absicherung besteht in der klassischen auf die eine oder andere Weise in allen Sozialstaaten bestehenden - öffentlich gewährleisteten und aus Steuermitteln finanzierten Basisabsicherung.   In Deutschland heißt das: jeder Mensch erhält - wenn er auf keine weiteren Einkünfte zurückgreifen kann - 345 Euro. Wenn mehrere in einem Haushalt zusammen leben erhalten die weiteren Angehörigen etwas weniger im Monat. Hinzu kommt die Warmmiete, die sogenannten Kosten der Unterkunft. Für einen Alleinstehenden sind das etwa 700 Euro, bei einer mehrköpfigen Familie kann die Summe aller Beträge durchaus etwa 1500 Euro betragen.   Die Regierung Schröder hat als sozialpolitischen Fortschritt durchgesetzt, dass bei Menschen im Rentenalter und bei Eltern behinderter Kinder, sobald diese erwachsen sind, ein Rückgriff auf das Vermögen und die Einkünfte der Angehörigen, der Eltern oder Kinder, zur Finanzierung des Unterhaltes des Hilfebedürftigen im Regelfall nicht mehr stattfindet.   Auch bei den Arbeitssuchenden zwischen 15 und 65 findet ein Rückgriff auf Eltern oder Kinder, die nicht mit dem Unterstützten im selben Haushalt leben, nicht mehr statt. Soweit anderweitige nicht gedeckte Krankheitskosten oder hohe Aufwendungen für die Pflege oder die Unterbringung in Einrichtungen anfallen, werden auch diese aus öffentlichen Mitteln getragen.   Das ist ein im internationalen Vergleich sehr hohes Absicherungsniveau.  

 

2.   Die zweite Schicht sozialstaatlicher Absicherung wird geprägt von dem spezifisch deutschen Weg, soziale Sicherheit über Sozialversicherungen zu gewährleisten. Krankenversicherung, Rentenversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung gewährleisten für die meisten Menschen eine Sicherheit oberhalb des steuerfinanzierten Basisabsicherungsniveaus.   Trotz aller Anpassungsnotwendigkeiten ist unverkennbar, dass gerade dieser spezifische Weg dafür ursächlich ist, dass das Niveau der sozialen Absicherung in Deutschland höher ist als in den meisten anderen Staaten.   Entgegen der modernen Klage über die Path Dependency des deutschen Sozialstaates hielte ich einen Pfadwechsel weg von einer über soziale Versicherungen gewährleisteten sozialen Sicherheit hin zu einem vollständig steuerfinanzierten Sozialstaat für nicht wünschenswert. Die aus Beiträgen finanzierten Leistungen der deutschen Sozialversicherungen übersteigen den Umfang des Bundeshaushaltes um ein Vielfaches.   Über höhere Anteile steuerlicher Mittel bei der Finanzierung des Sozialstaates muss man und darf man reden. Ein Ersetzen sämtlicher Sozialversicherungsbeiträge durch Steuermittel ist aber angsichtss eines Beitragsaufkommens von mehreren hundert Milliarden Euro politisch undurchsetzbar und in keiner Weise ratsam.  

 

3.   Vergessen wir auch nicht: Die Sozialversicherungstradition reicht lange zurück und ist bis heute das Gemeinschaftsprodukt von Konservativen und Sozialdemokraten.   Das war schon am Anfang dieser Tradition so, als Bismarck Forderungen von Sozialdemokraten und den Gewerkschaften aufgriff, die Sozialversicherung ins Werk setzte und die Sozialdemokraten und Gewerkschafter in preußische Gefängnisse steckte.   Aber seither haben - mal im Konflikt, mal im Miteinander - Konservative und Sozialdemokraten den Sozialstaat in Deutschland Stück für Stück ausgebaut. Diese sozialstaatliche Tradition gehört heute sicherlich zu den identitätsbildenden Traditionen der Deutschen weit über die sozialstaatliche Dimension hinaus.   Es ist, das will ich auch im Hinblick auf aktuelle Debatten sagen, deshalb ein großer Fehler, wenn sich ausgerechnet die Sozialdemokratische Partei und die Union über die Architektur der Sozialversicherung in Deutschland streiten. Die Wählerinnen und Wähler akzeptieren Streit darüber mit FDP, Grünen und PDS, aber nicht unter den beiden Traditionsparteien des deutschen Sozialstaates, der SPD und der Union.   Vermutlich hatten nicht viele bei der Union wirklich begriffen was sie anrichteten, als auf dem  Leipziger Parteitag der CDU mit den Beschlüssen zur  Einführung einer Kopfpauschale im Gesundheitswesen ein massiver Traditionsbruch geplant wurde. Dass sich viele Wählerinnen und Wähler der Union vor diesem Hintergrund abwendeten, war deshalb nicht verwunderlich.   So sehr es dem Einen oder Anderen im Getümmel politischer Auseinandersetzungen gefallen mag, allzu viele Wahlkämpfe um Rente und Gesundheit sollte es in Deutschland nicht mehr geben. Die, die sie betreiben, richten dabei mehr an, als sie ahnen.      

 

4.   Natürlich müssen auch diese Sozialversicherungen stets an aktuelle Entwicklungen angepasst werden.   Bei der Rente war es notwendig, Rücksicht darauf zu nehmen, dass wir heute später in das Berufsleben eintreten als früher und länger leben. Die Reformen der letzten Jahre haben aber die notwendige Anpassungsleistung in der gesetzlichen Rentenversicherung zustande gebracht. Jetzt werden die letzten der geplanten Reformschritte ins Werk gesetzt.   Danach sollte dann aber die Botschaft auch lauten, dass mit einem durchschnittlichen Beitrag von ca. 20 % des Bruttoeinkommens eine vernünftige Absicherung im Alter durch die gesetzliche Rentenversicherung auch in Zukunft gewährleistet ist. Und natürlich, dass wer darüber hinausgehende Sicherung des Lebensstandards erreichen will, eine zusätzliche Vorsorge betreiben muss, für die öffentliche Förderung bereitsteht.   Die Reform der Krankenversicherung ist komplizierter, funktioniert sie doch nach ganz anderen Prinzipien als die Rentenversicherung. Für unterschiedlich hohe Beiträge gewährt die gesetzliche Krankenversicherung gleichwertige Leistungen. Angesichts des Kostendrucks, der vom medizinischen Fortschritt und der höheren Lebenserwartung ausgeht, ist es die Aufgabe der aktuellen wie auch künftiger Reformen dafür zu sorgen, dass die eingesetzten Mittel nicht verschwenderisch ausgegeben werden, so dass es gute medizinische Leistungen zu vernünftigen Preisen gibt.   Und es muss dauerhaft eine Lösung dafür gefunden werden, dass aus der historisch begründeten Beschränkung der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Angehörigen heute ein ordnungspolitisch problematisches Nebeneinander von gesetzlichen Krankenversicherungen und privaten Versicherungen geworden ist. Die Aufgabe dieses Nebeneinander vernünftig zu organisieren, wird von der aktuellen Gesundheitsreform nicht vollständig gelöst und bleibt daher auf der Tagesordnung. Das liegt erkennbar daran, dass sich die Union viel zu sehr als Interessenvertreter der privaten Krankenversicherung versteht und zu wenig als Hüter des Allgemeinversicherten.   Immerhin, ein Ergebnis der aktuellen Reform sollte bei unserer Sozialstaatbetrachtung nicht unterschätzt werden: Jeder Mensch in Deutschland hat in Zukunft einen bezahlbaren Zugang zu einer Krankenversicherung.   Anders also als wohlfeile Kritik es gerne aufschreibt: In den letzten Jahren hat die deutsche Politik trotz aller Unübersichtlichkeit, trotz allem Hin und Her, trotz allem Zaudern am Ende es doch geschafft, die ihr gestellte Aufgabe zu lösen, dass nämlich auch in Zukunft Einnahmen und Ausgaben der für den deutschen Sozialstaat so bedeutenden Sozialversicherungen ausgeglichen bleiben, ohne dass die dafür aufzubringenden Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine Größenordnung erreichen, die von den Zahlenden nicht mehr akzeptiert werden und damit die Legitimation des ganzen Systems sozialer Sicherheit in Frage stellen.   Das ist nicht wenig. Wer andere europäische Sozialstaaten anschaut, stellt schnell fest, dass in vielen dieser Länder keines der dort ähnlich gelagerten Probleme bisher auch nur annähernd einer Lösung entgegengebracht wurde. Trotzdem werden die Reformen des Systems der Sozialversicherungen, die in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurden, auch überschätzt. Das gilt auch für den Hang zur ideologischen Überhöhung letztlich doch recht pragmatischer und wenn man so will systemimmanenter   Anpassungsmaßnahmen.   Natürlich haben diese Anpassungsmaßnahmen gewaltige Irritationen in der Wählerschaft hinterlassen und nicht wenige politische Verwerfungen mit sich gebracht. Davon wissen viele ein Lied zu singen auch ich. Aber es waren eben doch nur Anpassungsmaßnahmen und es bleibt zu hoffen, dass nach dem absehbaren Ende der Anpassungskorrekturen im System der sozialen Versicherungen, sich die Aufregung wieder gibt.  

 

5.   Viel bedeutsamer für die langfristige Entwicklung des Staates in Deutschland wie in allen entwickelten Ländern ist die Antwort auf die Frage: Nehmen alle Menschen teil am gesellschaftlichen Leben? Gibt es Bürgerinnen und Bürger, die mitten unter uns leben, aber doch außen vor bleiben, weil ihnen keine Chancen gegeben werden oder weil sie Chancen nicht nutzen? Bleiben Menschen am Wegesrand zurück?   In den letzten Tagen ist auf Initiative der SPD vor dem Hintergrund einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung die Debatte darüber neu entflammt. Das ist gut. Die im Dunkeln sieht man nicht heißt es in einem alten Lied. Und die Debatte über die im Dunkeln ist die Voraussetzung dafür, um an der Situation und an der Lage der Menschen etwas zu ändern. Die Auseinandersetzungen mit den vielfältigen Exklusionsprozessen sind für die Diskussion über die Zukunft moderner Gesellschaften unverzichtbar.    

 

6.   Dass alle Bürger die arbeiten können und nicht von ihrem Vermögen leben auch einer Arbeit nachgehen, ist die zentrale Teilhabefrage. Es ist eine Katastrophe, dass seit fast drei Jahrzehnten für viele Millionen Menschen die Teilhabe an Arbeit nicht garantiert ist. Trotz der langen Gewöhnung an diese schlechte Wirklichkeit ist es wichtig, dass unsere Gesellschaft die Hoffnung, das ändern zu können, nicht aufgibt. Vollbeschäftigung bleibt ein zentrales Versprechen, dem sich insbesondere sozialdemokratische Politik verpflichtet wissen muss.   Der Rahmen für unser politisches Projekt ist Marktwirtschaft und globalisierte Ökonomie. Gute Bedingungen für Beschäftigungen in unserem Land können wir schaffen durch eine hervorragende Infrastruktur und durch wachsende Investitionen in Forschung und Entwicklung durch Staat und Wirtschaft. Anders als es sich manche vorstellen, stehen Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und Mitbestimmung deswegen nicht zur Disposition. Sie beeinträchtigen Beschäftigungschancen nicht. Klar ist auch, trotz des internationalen Wettbewerbs wird es auch immer ein vernünftiges Maß an Besteuerung geben.   Was wir noch tun können, ist, die Menschen nicht alleine zu lassen, die Arbeit verlieren oder noch gar nicht im Erwerbsleben angekommen sind. Da ist etwas nachzuholen. Die frühere Bundesanstalt für Arbeit mit ihren unzähligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hatte sich auf die soziale Absicherung der Arbeitslosigkeit konzentriert und die Vermittlung in Arbeit nicht als Kernaufgabe begriffen. Das ist durch die Arbeitsvermittlungsreform der letzten Legislaturperiode aufgebrochen worden.   Endlich gerät in den Blick, dass die Menschen in der schwierigsten Lage ihres Lebens, nämlich dann, wenn sie keine Arbeit haben, nicht alleine gelassen werden dürfen. Die Arbeitsvermittlung muss die am Besten organisierte Institution des Landes sein. Davon sind wir noch weit entfernt, aber immerhin ist die Aufgabe neu begriffen und sind die richtigen Grundentscheidungen getroffen worden.   Die Neuorganisation der Arbeitsvermittlung, einer einheitlichen Absicherung der Langzeitarbeitslosen durch das Arbeitslosengeld II und die Schaffung einer einheitlichen Vermittlungsinstitution haben auch den Blick dafür geschärft, dass das Problem in Deutschland nicht so sehr ist, dass in einer dynamischen Wirtschaft Menschen vorübergehend ihre Arbeit verlieren. Viele schaffen es innerhalb eines Jahres eine neue Arbeit zu finden.   Das Problem des deutschen Arbeitsmarktes ist die Langzeitarbeitslosigkeit, die weit über dem Niveau vergleichbarer Länder liegt und vor allem weit über dem Niveau der Länder, die wie Großbritannien oder die Skandinavischen Länder schon ca. 10 Jahre vor der Bundesrepublik Deutschland mit der Reform der Arbeitsvermittlung begonnen hatten. Der Blick auf diese Länder zeigt aber auch, dass die Chancen einer verbesserten Arbeitsvermittlung für die Langzeitarbeitslosen theoretisch und praktisch völlig unterschätzt werden. Das gilt es jetzt praktisch umzusetzen.   Der rechtliche Reformbedarf hält sich in Grenzen. Deshalb sollten auch entsprechende aufgeregte Debatten stets mit klarem Blick für die eigentliche Aufgabe beruhigt werden.   Niemand sollte vergessen: Zur Reform der Arbeitsvermittlung und der Neuordnung der Leistungsansprüche gehörte auch, dass bei den Menschen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit und damit Langzeitarbeitslose sind, kein Berufsschutz einer Vermittlung in die für den Arbeitssuchenden erreichbaren Tätigkeiten im Wege steht. Dieser wahrscheinlich völlig unterschätzte Schritt ist die Voraussetzung dafür, dass eine aktive Arbeitsvermittlung erfolgreich sein kann.   Natürlich gehört zu dem, was wir wollen auch, dass die Menschen nicht nur bei der Suche unterstützt werden, sondern dass auch die aktiviert werden, denen die eigene Mentalität einer aktiven Arbeitssuche entgegensteht. Fördern und fordern heißt die weitbekannte Formel, die eben nur dann spannend ist, wenn sie hinsichtlich beider Elemente nicht bloß eine Formel bleibt,   sondern praktisch wird.   Deshalb bleiben entgegen manchem wirtschaftsliberalen Vorurteil Elemente aktiver Arbeitsmarktpolitik unverzichtbar als Instrument der Aktivierung und als Instrument zur Unterstützung derjenigen, die trotz allem Engagement nur auf solche Weise wieder in den Arbeitsmarkt eintreten können. Sie sind auch notwendig, weil gerade dort, wo nur wenig verdient wird, der Unterschied zwischen der sozialstaatlich gewährleisteten Mindestabsicherung und den gezahlten Nettolöhnen oft gering ist. Die meisten Menschen ziehen eine schlecht bezahlte Arbeit der Arbeitslosigkeit vor. Wir wollen, dass alle auf die Priorität Arbeit setzen. Da das Sicherungsniveau aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit nicht gesenkt werden soll und kann, brauchen wir die aktive Arbeitsmarktpolitik als Brücke. Und das Versprechen, dass wir die Menschen, die arbeiten, vor unsittlichen Löhnen schützen. Deshalb hat die Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn eine so zentrale Bedeutung für die sozialdemokratische Partei.  

 

7.   Die Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre haben Millionen Menschen bessere Bildungschancen verschafft als ihren Eltern. Noch heute kann man etwas spüren und fühlen von dem Aufbruch dieser Jahre.   Das deutsche Bildungssystem ist durchlässiger geworden für diejenigen, die ihre Chancen wahrnehmen wollten. Klassische institutionelle Bildungsschranken wurden geöffnet. Das war und ist ein großer Fortschritt. Ein Fortschritt, der leider nicht unumkehrbar ist, wie wir in diesen Tagen immer wieder spüren, wenn konservative Landesregierungen die Durchlässigkeit reduzieren und zweite und dritte Bildungswege versperren, die über lange Zeit vielen offen standen.   Nicht zuletzt die Einführung von Studiengebühren ist ein Zeichen dafür, dass kein Fortschritt unumkehrbar ist. Deshalb bleibt die Durchlässigkeit des Bildungssystems ein Reformziel einer sozialdemokratischen Politik, für das man weiter eintreten muss. Aber, und das verstehen wir heute immer besser, viele gehen durch die geöffneten Tore nicht hindurch und da beginnt die Kernaufgabe vorsorgender sozialstaatlicher Politik bei der Bildung.   Wir müssen lernen, dass viele Kinder von ihren Eltern nicht so unterstützt und gefördert werden, dass sie die Bildungschancen unserer Gesellschaft wahrnehmen. Mancher Lebenslauf scheint endgültig entschieden, bevor ein Kind überhaupt die Schule das erste Mal betritt. Und deshalb muss Deutschland sich ändern und dafür Sorge tragen, dass lange vor der Schule Institutionen bereitstehen, die auch Kindern aus bildungsfernen Familien alle Chancen öffnen.   Ein flächendeckendes, möglichst alle Kinder erreichendes, Angebot an Kindergärten, Vorschulen muss in Deutschland wie in anderen Ländern etabliert werden. Ohne dass aus diesen Institutionen Bildungseinrichtungen werden, muss die Entwicklung der Kinder und ihr Interesse an Bildung, Kommunikation und Sprache gefördert werden. Wir brauchen bessere Schulen im Bereich der Grundschule, der Sekundarstufe und auch der weitergehenden Abschlüsse. Dass Deutschland zu wenige Ganztagsschulen hat, hat sich längst herumgesprochen.   In der modernen Welt, in der wir leben, nimmt die Zahl der Arbeitsplätze für Menschen ohne vernünftige Schul- und Berufsausbildung ab, schon mit einem Hauptschulabschluss können viele die Berufe, die mit dieser Qualifikation ihren Eltern offen standen, nicht mehr erreichen.   Was wird aus ihnen, wenn wir weiter zulassen, dass begabte Menschen mit weniger Bildung, als für sie möglich wäre, die Schule verlassen und trotz größeren Potenzials lediglich ein Hauptschulabschluss erwerben? Was wird aus denen, die überhaupt keinen Hauptschulabschluss erreichen? Über 10 % der jungen Leute eines Jahrgangs sind das.   Alle Kraft in die Bildung zu stecken, in gute Schulen und das Ziel zu erreichen, dass jeder jung Mensch, der gesundheitlich dazu in der Lage ist, einen Schulabschluss erreicht, ist Aufgabe eines vorsorgenden Sozialstaates. Wir sollten es um ein Versprechen ergänzen: Jeder Mensch kann jederzeit einen Schulabschluss nachholen, mindestens einen Hauptschulabschluss.     8.   Teilhabe zu gewährleisten als zentrale Aufgabe des modernen Sozialstaates muss den Blick dafür öffnen, dass wir einen neuen Blick entwickeln für die Menschen mit Behinderungen.   Auch da gibt es viel Unwissen über die Realität. Mehr als 8 Millionen Menschen sind in Deutschland behindert. Die meisten davon sind nicht mit einer Behinderung geboren. Das ist ein Schicksal, das fast jeden ereilen kann. Das Engagement für die Menschen mit Behinderungen, die Schaffung von Barrierefreiheit ist leider noch lange kein Allgemeingut in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger und der Institutionen.   Trotzdem, es ist viel erreicht worden in den Jahren einer sozialdemokratisch geführten Regierung. Der Teilhabegedanke hat das Rehabilitationsrecht erreicht, Barrierefreiheit wurde vielen Institutionen vorgeschrieben. Die Integration, auch der Menschen mit Behinderungen in das Arbeitsleben, ihre Unabhängigkeit auch von institutionellen Einrichtungen durch die zur Verfügungstellung eines persönlichen Budgets zur Ausgestaltung von Hilfeleistungen sind die Aufgaben, die sich uns heute stellen.   An der Art wie wir mit den Menschen mit Behinderungen umgehen zeigt sich auch, wie wir insgesamt eingestellt sind in unserer Gesellschaft. Es ist ein wichtiger Gradmesser für die Art und Weise unseres Zusammenlebens. Wir sollten uns also Mühe geben.


Die Rede zum download als pdf Dokument finden Sie hier.