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01.08.2008

Der vorsorgende Sozialstaat Was noch zu tun bleibt. Beitrag in der Berliner Republik

Der vorsorgende Sozialstaat Was noch zu tun bleibt. Beitrag in der Berliner Republik

Als zum ersten Mal vom aktivierenden Sozialstaat geredet wurde, war die Aufregung groß. Allerdings begann die Debatte mit einem Missverständnis. Mancher befürchtete, der aktivierende Sozialstaat sei als Alternative zum über ein Jahrhundert gewachsenen sozialstaatlichen Gepräge der Bundesrepublik Deutschland gemeint.  

Die Sorge, die Abschaffung des Sozialstaats sei beabsichtigt, war allerdings unbegründet. Denn jedenfalls innerhalb der sozialdemokratischen Debatte hatten diejenigen, die vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen die Herausbildung eines mehr aktivierenden Sozialstaates im Blick hatten, diesen nie als Alternative, sondern als vernünftige Weiterentwicklung des bestehenden Sozialstaates begriffen.   Das Missverständnis wurde allerdings dadurch gefördert, dass ein Teil der traditionellen Kritiker sozialstaatlicher Institutionen die Formel vom aktivierenden Sozialstaat aufgegriffen und hinter dieser Chiffre ihre antisozialstaatlichen Ziele verborgen hatte. Kein Wunder also, dass, wer für diese Hinwendung zu neuen Fragen plädierte, in den Verdacht geriet, mit solchen Kritikern auf einer Wellenlänge zu funken. 

Und natürlich war die Debatte dadurch belastet, dass sie zu einer Zeit begann, als zugleich eine veritable Anpassungskrise des  etablierten Sozialstaates zu bewältigen war. Insbesondere die demografische Herausforderung hatte die finanzielle Stabilität der Sozialversicherung und der sozialstaatlichen Aufgabenwahrnehmung einem regelrechten Stresstest ausgesetzt.   Dass die Debatte über den aktivierenden Sozialstaat heute mit größerer Gelassenheit vor sich geht, hat sicher damit zu, dass nicht zuletzt wegen der Reformpolitik der letzten Jahre die finanzielle Stabilität der traditionellen Sozialversicherung wieder gewährleistet ist. Die Plausibilität sozialstaatlicher Perspektiven wird damit nicht mehr derart in Frage gestellt, wie es noch bis vor kurzem der Fall gewesen ist.  

Der neue, ruhigere Ton der Debatte hat ermöglicht, dass heute der nun so genannte Vorsorgende Sozialstaat von allen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten als die richtige Antwort auf neue Herausforderungen begriffen wird. Das ist gut.   Neben die dauerhaften Aufgaben unseres Sozialstaates tritt nämlich - nicht neu, aber doch verstärkt - das Anliegen, die Gesellschaft so zu organisieren, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potenziale und Möglichkeiten nutzen. Empowerment ist deshalb zur neuen Herausforderung eines auf Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürgern ausgerichteten Gemeinwesens geworden. Es geht um eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und damit verbunden eine viel bessere und intensivere Vermittlung von Arbeitsuchenden, es geht um Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung und darum, gleichberechtigte Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zu ermöglichen, auch durch Veränderung der Organisation von Beruf und Familie.  

Vor allem aber geht es um Bildung. Die Emanzipation durch Bildung ist ein historisches Projekt der Sozialdemokratischen Partei. Der Aufstieg durch Bildung war und ist immer auch eine sehr individuelle Erfahrung Hunderttausender, ja Millionen sozialdemokratischer Mitglieder und Anhänger. Viele, deren Talente vor dem Hintergrund hoher Schranken ungenutzt geblieben wären, konnten im Wege der sozialdemokratisch inspirierten Bildungsexpansion für sich oder wenigsten ihre Kinder ein besseres Leben erreichen.  

Viele konservative Regierungen in den Bundesländern haben sie in den letzten Jahren wieder eingeschränkt: trotzdem stehen die Bildungsmöglichkeiten nach wie vor jedenfalls im Prinzip allen offen. Aber sie werden keineswegs von allen genutzt. Das müssen wir heute feststellen. . Emanzipation durch Bildung steht deshalb wieder einmal zurecht ganz dringend auf der politischen Agenda.    

Dass man seine Arbeit gut machen will, ist eine unverzichtbare Einstellung für die qualifizierte Arbeit in modernen Volkswirtschaften. Auf das Vorhandensein dieser Einstellung kommt es für den Erfolg unserer Volkswirtschaft mehr denn je an. Denn: Die Zukunft gehört der qualifizierten Arbeit jedenfalls in Deutschland. Ganz im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Gerücht, nimmt die Anzahl der Arbeitsplätze für gering Qualifizierte ab und nicht zu. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten die über einen Haupt- oder Real­schulabschluss, aber nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen von Mitte 1999 bis Mitte 2007 um 1 Millionen auf 3,54 Millionen gesunken. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der versicherungspflichtig beschäftigten Akademiker (Hoch- oder Fachhochschulabschluss) um über 300.000 auf 2,65 Millionen gestiegen.

Und das ist auch augenscheinlich. Als Hamburger fällt mir z.B. auf, dass schon lange nicht mehr die Aufrufe an Arbeitswillige, sich im Hafen zu melden, am Sonntagmorgen im Radio zu hören sind. Anderenorts fallen einem andere Beispiele ein. Selbst auf dem Bau ist ordentlich rationalisiert worden und weniger zu tun für die Hilfskräfte.   Und darum sind Bildung und Ausbildung wichtig.  

Wenn über die Notwendigkeit guter Bildung gesprochen wird, weisen alle durchaus zu Recht darauf hin, dass wir in Deutschland die Zahl der Akademiker erhöhen müssen, dass die Zahl der Absolventen unserer Hochschulen nach OECD Maßstab auf 40 % eines Altersjahrganges ansteigen muss. Bei der Zahl der Studienanfänger sind wir schon fast am Ziel, bei der Zahl derjenigen, die das Studium auch beenden, haben wir noch eine Wegstrecke vor uns.  

Aber, auch wenn wir dieses Ziel erreicht haben, werden 60 % eines Altersjahrganges nicht studieren. Und darum ist es nötig, klar zu sagen: Auch für die Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger, die auch in Zukunft nicht studieren wird, ist Bildung und Ausbildung wichtig. Denn die genannten Zahlen belegen es für gering qualifizierte Arbeitskräfte bietet der deutsche Arbeitsmarkt in Zukunft noch weniger Möglichkeiten als heute.  

Eine gute Schulbildung ist die unverzichtbare Grundlage für eine gute Qualifikation. Und wir wissen, dass die Lebens­phase vor der Einschulung wichtig ist, um die für das Lernen wichtigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben. Darum sind gute Krippen und Kindergärten unverzichtbar. Sie sind ebenso wie Schulen im föderalen Deutschland Sache der Gemeinden und der Län­der. Weil es aber bei der Bildung unserer Jugend um ein nationales Anliegen geht, hat sich der Bund seit Beginn der Kanzlerschaft Gerhard Schröders eingemischt. Mit mehreren Pro­grammen hat der Bund den Ausbau der vorschulischen Betreuung in Deutschland vorangetrie­ben. Am Ende dieser Entwicklung steht der gesetzliche Anspruch aller Eltern in Deutschland auf einen Platz in Krippe oder Kindergarten vom ersten Lebensjahr des Kindes bis zur Ein­schulung. Jede Mutter und jeder Vater kann dann zur Gemeinde gehen und einen solchen Platz für das eigene Kind verlangen.  

Weil der Erfolg unserer Schulen durch die fast nur bei uns in Deutschland verbreitete Halbtagsschule nicht ausreichend gewährleistet werden kann, haben Bundesregierung und Bundestag mit einem milliardenschweren Programm den Ausbau der Ganztagsschulen voran­getrieben. Das Programm hat weit über die unmittelbar geförderten Schulprojekte hinaus Wir­kung entfaltet. Während noch vor wenigen Jahren vor allem konservative Skepsis dem Ausbau der Ganztagsschulen im Wege stand, bekennen sich unterdessen konservative Ministerpräsi­denten und Bildungspolitiker zur Notwendigkeit eines flächendeckenden Ganztagsschulange­botes. Ein großer Durchbruch.  

Mit diesem politischen Erfolg ist die nationale Debatte über Krippen, Kindergärten und Schulen nicht beendet; aber die Phase einer mit Mitteln des Bundeshaushaltes unterstützten akti­ven Einmischung in die politische Sphäre der Länder wird so nicht ungebrochen fortgesetzt werden können. Das ist nach unserer Verfassung eindeutig: Über die Bildungspolitik wird bei Landtagswahlen entschieden. Gebührenfreie Krippen und Kindergärten, Lernmittelfreiheit, Mit­tagessen in Krippen, Kindergärten, Schulen können die Bürgerinnen und Bürger in den 16 Län­dern wählen - indem sie SPD wählen. Auch über die Qualität von Krippen, Kindergärten und Schulen geht es in den Landesparlamenten das ist ein Thema der SPD.  

Eine der  wichtigsten schulpolitischen Debatten der nächsten Jahre verbirgt sich hinter einem schnöden statistischen Wert: Gut 7% unserer Schüler verlassen jedes Jahr die Schule ohne ei­nen Abschluss. Gut 7% eines jeden Altersjahrganges bleibt damit ohne realistische Chance auf einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz. In absoluten Zahlen waren das im Jahr 2004 82.212 Jugendliche und im Jahr 2006 76.249 Jugendliche. Das sind dieses Jahr voraussichtlich 67.000 Jugendliche. Wenn wir unterstellen, dass ein 16-Jähriger Schulabgänger die folgenden 50 Jahre eine Arbeit benötigt, sind das bei rund 70.000 Schulabbrechern im Jahr auf 50 Jahre gerechnet un­gefähr 3,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die wenn sie nicht großes Glück haben, all diese Jahre zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit hin und her wechseln. Das läßt uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht kalt. 

7 % ohne Schulabschluss sind nicht naturgegeben! Die Zahl lässt sich mit guter Bildungspolitik reduzieren. So, wie wir es in den letzten Jahren geschafft haben. Im Jahr 2001 lag dieser Wert noch bei rund 10%. Und wir müssen uns um der Zukunft dieser Bürgerinnen und Bürger willen ehrgeizige Ziele setzen: zunächst die Halbierung dieser Zahl und dann immer weiter. Das wer­den wir von den Bildungsministern verlangen, im Ausbildungspakt, im Bundestag und in den Landtagen.   Eins ist uns dabei völlig klar. Lernen ist mit Anstrengung verbunden, nicht immer, aber oft. Ohne Mühe und Anstrengung lernen nur die wenigsten. Das dürfen wir den jungen Leuten auch sa­gen. Das ist beim Lernen wie bei der Arbeit und das verstehen wir gut.  

Ein Versprechen muss unsere Gesellschaft aber jedem geben. Wer sich anstrengt, wer sich Mühe gibt, der kommt auch zurecht. Für dies Einlösung dieses Versprechens kämpfen wir. Darum dreht sich unsere Politik.   Im 19. Jahrhundert klagte der Dramtiker Christian Dietrich Grabbe "Einmal auf der Welt, und dann ausgerechnet als Klempner in Detmold". Ich finde ganz anders als Grabbe diese beruftliche Perspektive nicht so schlecht. Unser Land sollte jedem helfen, der Klempner in Detmold werden will.

Wer schnell reich und berühmt werden will ist wohl bei "Deutschland sucht den Superstar" richtig.  Das ist auch ein Weg. Aber er steht ja nur sehr wenigen zur Verfügung. Unsere Gesellschaft jedoch steht in der Verantwortung, Entwicklungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen allen zu eröffnen, die sich ernsthaft und mit harter Arbeit darum bemühen. Und diejenigen, die derzeit glauben, dass sie statt offener Türen nur Barrikaden vorfinden, dürfen wir ruhig ein wenig ermutigen, dass es auch diesseits von Dieter Bohlens Sprüchen ganz gute Aussichten im Leben geben kann.

Wenn wir sagen, wir wollen die Zahl derjenigen ohne Schulabschluss halbieren, dann müssen wir auch sagen, wie wir das erreichen wollen. Wir sollten ihnen das Versprechen geben: wenn ihr euch aufrafft, wann auch immer im Leben das der Fall ist, mit 20, 35 oder 42 Jahren, wir werden euch ermöglichen jedenfalls den Hauptschulabschluss nachzuholen. Dieses Versprechen gibt denen Hoffnung, die oft ohne Hoffnung sind. Ein Leben lang den Hauptschulabschluss nach­holen zu können, sollte in einer modernen marktwirt­schaftlichen Demokratie ein Bürgerrecht sein. Dafür sollten wir hart streiten.  

Nach der Schule beginnt für die meisten wenn alles gut läuft - die Berufsausbildung. Leider klappt das nicht bei allen. Denn wir haben immer noch nicht genug Ausbildungsplätze. Und das müssen wir feststellen, obwohl der Ausbildungspakt mit der Wirtschaft durchaus ein Erfolg ist. Die Anstrengungen der Unternehmen, der Verbände und Kammern haben sich gelohnt. Letztes Jahr hatten wir 627 000 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge. Das ist der zweitbeste Wert seit 1990, nur 1999 hatten wir mehr neue Verträge. Aber, das ist die traurige Wahrheit, im letz­ten Jahr haben das erste Mal mehr junge Leute schon seit ein, zwei oder drei Jahren einen Ausbildungsplatz gesucht.  

Wie groß die Ausbildungsmisere wirklich ist, zeigt sich übrigens schnell wenn wir beim Ver­gleich der Zahl der Ausbildungsverträge, die jedes Jahr neu abgeschlossen werden, nicht 1990 aufhören. Während der gesamten achtziger Jahren gab es (mit Ausnahme des Jahres 1989) immer über 600 000 neue Ausbildungsverträge. Und zwar allein im Westen Deutschlands. 1984 waren es 706 000 im Westen Deutschlands. Heute sind es 500 000 im Westen. Das sind also in jedem Jahr un­gefähr 200 000 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge weniger als noch vor 20 Jahren.  

Darum dürfen wir nicht nachlassen uns für mehr Ausbildungsverträge einzusetzen. Darum schaffen wir jetzt einen Ausbildungsbonus für die so genannten Altbewerber so werden im Verwaltungsdeutsch diese Teenager genannt, die seit mehr als einem Jahr einen Ausbildungsplatz suchen. Wer für ei­nen Altbewerber oder eine Altbewerberin einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schafft, bekommt ungefähr die Hälfte der Ausbildungsvergütung, 4000, 5000 oder 6000 Euro als Zuschuss. Aber das genügt nicht. Wir müs­sen uns noch mehr anstrengen. Unternehmen und Betriebsräte müssen noch eine Schippe drauf­legen.  

Übrigens geht es bei der Lehre nicht nur um die Berufsausbildung. Da werden auch noch viele andere Dinge gelernt. Viele werden überhaupt erst erwachsen; ein 16-Jähriger oder eine 16-Jährige ist doch oft noch mehr ein Kind als schon wirklich erwachsen. Diese Funktion der Ausbildung wird häufig übersehen.   Und dabei wird gleich ein weiteres Problem sichtbar: Das durchschnittliche Alter in dem heute Jugendliche eine Ausbildung beginnen, liegt bei ungefähr 20 Jahren. Und das ist nicht nur so, weil jetzt auch Abiturientinnen und Abiturienten Berufsausbildungen in den Betrieben beginnen. Grund sind auch viele Wartezeiten und Warteschleifen vor dem Ausbildungsbeginn.  

Übrigens haben es gerade diejenigen mit einem Hauptschulabschluss besonders schwer einen ungeförderten Ausbildungsplatz zu finden. Genaue Statistiken gibt es nicht. Aber manche Un­tersuchungen sagen, dass es weniger als 10 % der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss sind, die im unmittelbaren Anschluss an die Schule eine ungeförderte Ausbildung finden. Und das, obwohl auch das eine nicht allen bekannte Größe - fast ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler die Schule (Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Gymnasium) mit nicht mehr als einem Haupt­schulabschluss verlassen.  

Lasst uns um diese jungen Leute kümmern und ihnen intensiv bei der Ausbildungsplatzsuche helfen. Einen solchen Versuch stellt die betriebliche Einstiegsqualifizierung Jugendlicher (EQJ) dar, mit der wir Jahr für Jahr 40.000 Jugendliche auf dem Weg in eine Ausbildung unterstützen.   Wir sollten die Lehre im Betrieb überhaupt wieder mehr schätzen. Und jemand, der einen or­dentlichen Beruf gelernt hat, ist vielleicht auch viel geeigneter ein technisches Studium zu er­greifen. Gerade in den so genannten MINT Fächern, in den Studiengängen Mathematik, Infor­matik, Naturwissenschaften und Technik müssen wir besser werden. Wir sollten die Universitä­ten überreden, dass sie begabte junge Leute, die eine Lehre absolviert haben, zum Studium zulassen. Wer schon eine Lehre in einem technischen Beruf erfolgreich abgeschlossen hat, der kommt vielleicht auch mit einem technischen Studiengang besser zurecht. Der Sohn zweier Deutschlehrer will meist nicht Ingenieur werden.  

Wir sollten mit den Kammern nach Wegen suchen, wie Meisterausbildungen an den Universitäten so ergänzt werden können, dass die Meisterinnen und Meister auch einen Bachelor-Abschluss erreichen.   Für all das ist die kontinuierliche Weiterentwicklung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgeset­zes, des sog. Meister-BAföGs, mehr als sinnvoll. Und das geplante Stipendium für begabte Ab­solventinnen und Absolventen der dualen Ausbildung, die studieren wollen, ist ein echter Fort­schritt.  

Wenn wir uns dafür einsetzen, können wir übrigens ein wenig ausgleichen, dass unser Bil­dungssystem den Kindern der Arbeiter nach wie vor keine gleichen Chancen einräumt. Die so­ziale Ungleichheit wird durch unsere Schulen nicht reduziert. Und das schadet jetzt offensicht­lich unserer Wirtschaft, denn gerade die Kinder von Handwerkern und Facharbeitern schlagen typischerweise die Studienrichtung Naturwissenschaften und Technik ein.  

Eine Frage stellt sich übrigens an manche Unternehmen: Ob sie nicht befürchten, dass sie, wenn sie die Produktion in das Ausland verlagern, nicht auch das mögliche Interesse junger Leute an technischen Berufen gefährden. Kann man sich für Technik begeistern, wenn weit und breit keine Fabrik zu sehen ist und keine Eltern da sind, die dort arbeiten? 

Gemessen an internationalen Maßstäben, müssen 40% eines Altersjahrganges studieren. Das haben wir schon gehört. Das setzt natürlich voraus, dass ausreichend Studienplätze zur Verfü­gung stehen und dass alle begabten jungen Leute ihren Studienwunsch auch realisieren. Damit das nicht scheitert, bauen wir das BAföG aus und haben wir uns mit den Ländern auf einen Hochschulpakt verständigt, mit dem bis 2010 zusätzlich 90.000 Studienplätze geschaffen wer­den sollen. Aber es darf auch niemand durch Studiengebühren vom Studieren abgehalten wer­den. Dafür engagiert sich die SPD in den Ländern. 

Bildung ist aus unserem Leben nicht wegzudenken. In einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt wird Weiterbildung immer wichtiger. Da sind wir in Deutschland nicht so gut. Nur 12% aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bilden sich im Verlaufe eines Jahres weiter. In Skandinavien, der Schweiz oder den USA sind das viel mehr. Angesichts der immer kürzeren Zyklen, in denen heutzutage Wissen veraltet, kann es bei dem heutigen Zustand nicht bleiben. Denn Weiterbildung lohnt sich. Die Universität Linz hat für die österreichische Arbeiterkammer ausgerechnet, dass jeder Euro, der zusätzlich in Weiterbil­dung investiert wird, dem Unternehmen 13 Euro bringe. Die Unternehmen verzeichneten durch Weiterbildung eine im Schnitt um vier Prozent höhere Produktivität. Wie auch immer sich das so genau errechnen lässt, der ökonomische Nutzen der Weiterbildung steht außer Frage. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer springen höhere Löhne und mehr Jobsicherheit heraus.  

Stellt sich die Frage, warum sich dieser Zusammenhang noch nicht überall herumgesprochen hat. Ehrlicherweise richtet sich diese Frage nicht nur an die Unternehmen, sondern auch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die oft nach Jahren der Bildungsabstinenz Weiterbil­dungsangeboten sehr skeptisch gegenüberstehen. Sowohl das Weiterbildungsprogramm der Bundesagentur für Arbeit für Geringqualifizierte und ältere Arbeitnehmer ("WeGebAU") als auch das Initiativrecht der Betriebsräte für Weiterbildung nach technischen Innovationen haben daran noch nicht viel geändert. Von einer Weiterbildungskultur sind wir noch weit entfernt.  

Die Zukunft gehört der qualifizierten Arbeit. Qualifizierte Arbeit entspricht dem kulturellen Selbstverständnis der deutschen Arbeitsgesellschaft. Unserer Marktwirtschaft ist seit ihren frühesten Anfängen durch eine Orientierung auf Qualität geprägt. Das macht seit über 150 Jahren ihren Erfolg aus. Wir haben mit qualifizierten Arbeitskräften unseren Wohlstand erreicht. Und wir werden ihn nur mit qualifizierten Arbeitskräften in der Zukunft sichern können nicht nur makroökonomisch, sondern auch weil es zum gewachsenen Ethos deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehört, die gute, ja die bestmögliche Arbeit leisten zu wollen. Deshalb sind unsere Maschinen, Produkte und Dienstleistungen seit Jahrzehnten auf den Weltmärkten gefragt. Qualität zu liefern bedeutet auch Motivation.

In die Qualifikation unserer Bürgerinnen und Bürger zu investieren ist zugleich die erfolgreichste Wirtschaftspolitik. Wir wissen nicht wel­che Produkte und Dienstleistungen wir in Zukunft in Deutschland herstellen und anbieten wer­den. Was wir sicher schon heute wissen ist, dass dafür gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nötig sein werden. Jetzt müssen wir nur das Richtige tun.