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24.07.2008

Sommerinterview mit dem Magazin Stern

Herr Scholz, wer arbeitet, muss mehr in der Tasche haben als derjenige, der nicht arbeitet. Richtig oder falsch?

Richtig. So sollte es sein.

Oft ist es aber nicht so. Für viele Hartz-IV-Empfänger lohnt es sich finanziell eben nicht, einen schlecht bezahlten Job anzunehmen. Sie bleiben lieber zu Hause und hängen vor der Glotze ab.

Ich hasse solche zynischen Betrachtungen. Die Neoliberalen und die Linksaußen tun gleichermaßen so, als würden die Menschen, wenn es um Arbeit geht, nur aufs Geld schauen. Sie gehen jedoch arbeiten, weil sie das für selbstverständlich halten.

Nicht alle tun das.

Aber die allermeisten. Millionen Menschen in diesem Land verdienen wenig, viel zu wenig, und gehen trotzdem jeden Tag zur Arbeit, oft ihr Leben lang. Das sind für mich die wahren Helden unserer Zeit.

Mal angenommen, Sie hätten Ihren Job verloren: Für welchen Lohn wären Sie bereit,  wieder zu arbeiten?

Für mich gelten da zwei Grundsätze: Jeder, der innerhalb einer bestimmten Zeit keine Arbeit auf seinem bisherigen Niveau findet, muss bereit sein, eine andere Arbeit anzunehmen. Niemand sollte jedoch einen Lohn bekommen, von dem er alleine nicht leben kann.

Ihr Parteifreund Thilo Sarrazin, Berlins Finanzsenator, behauptet, er würde für fünf Euro die Stunde arbeiten gehen.

Das ist wirklich wenig Geld. Trotzdem halte ich nichts von Ihren Zahlenspielen. 

Wovor haben Sie Angst?


Ich bin ziemlich furchtlos. Aber mir geht es darum, auf den Zusammenhang hinzuweisen: Gerade weil wir eine hohe Mobilität auf dem Arbeitsmarkt brauchen, brauchen wir auch Mindestlöhne. Das eine geht nicht ohne das andere. Wir müssen dafür sorgen, dass sich jeder aktiv um Arbeit bemüht und bemühen kann. All diejenigen, die das leisten, haben dann aber auch Anspruch auf einen ordentlich bezahlten Job. Sie dürfen nicht ausgebeutet werden.

Wie hoch sollte solch eine Lohnuntergrenze sein?

Die SPD will einen gesetzlichen Mindestlohn, dessen Höhe von einer unabhängigen Kommission festgesetzt wird - für alle Branchen, ruhig differenziert nach Regionen. Orientierungsmarke sind 7,50 Euro. Das ist unser Ziel. In der Großen Koalition haben wir uns gerade auf einen Weg zu mehr Mindestlöhnen verständigt: Die Tarifparteien einzelner Branchen beantragen die Einführung von Mindestlöhnen über das so genannte Entsendegesetz. Und auch dort, wo es kaum Tarifverträge gibt, soll es in Zukunft über das Mindestarbeitsbedingungsgesetz Lohnuntergrenzen geben. Diese werden von einer unabhängigen Kommission festgelegt. Die Höhe der Mindestlöhne wird also von Branche zu Branche unterschiedlich sein.

Ist Arbeit nur eine Frage des gerechten Lohnes?

Auch. Aber nicht nur. An der Erwerbsarbeit hängen Identität, Selbstachtung und Zugehörigkeitsgefühl. Ich habe neulich erst wieder Max Webers Buch "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" gelesen. Darin begründet er das Ethos unserer Arbeitskultur: Viele tun ihre Arbeit auch um ihrer selbst willen. Und wir verletzen genau diese Ehre der arbeitenden Bürger, wenn wir es zulassen, dass sie am Ende des Monats so wenig verdienen, dass sie für ihren Lebensunterhalt auf ergänzende Hilfe des Staates angewiesen sind.

Mindestlohn als Frage der Moral?


Und als Ausdruck von Gerechtigkeit. Selbst für Leute, die 4.500 Euro im Monat verdienen, ist diese Debatte wichtig. Auch sie fühlen sich nicht ernst genommen, wenn ein Arbeitgeber so wenig zahlt, dass manche Kollegen davon nicht leben können. Es zeigt ihnen: Arbeitnehmer sind bei solchen Arbeitgebern nur eine wirtschaftliche Kalkulationsgröße, werden als Person aber nicht ernst genommen.

Andere argumentieren streng marktwirtschaftlich. Sie behaupten, Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze.

Das ist Unfug. In fast allen europäischen Ländern, selbst in den USA, gibt es Mindestlöhne. Nirgendwo haben sie  Arbeitsplätze gekostet. Ich garantiere Ihnen: Alle Professoren, die in den Talkshows aufgeregt den Verlust Hunderttausender Arbeitsplätze prophezeien, werden irgendwann ganz still. In zehn Jahren werden Sie schamlos das Gegenteil behaupten, Mindestlöhne gehören zu einer modernen Marktwirtschaft dazu.

Was bedeutet Arbeit für Sie persönlich?

Sie ist enorm wichtig. Arbeit prägt mein Weltbild. Ich arbeite gern, früher als Anwalt, heute als Politiker.

Ihr Job ist doch eigentlich überflüssig.

Nein.

Sie sind Arbeitsminister, aber Arbeitsplätze schaffen die Unternehmen.

Sicher. Und ich finde es peinlich, wenn vor allem im Aufschwung Politiker den Eindruck erwecken, sie hätten ihn alleine bewirkt. Aber: Politiker legen die Rahmenbedingungen fest. Kaum einer bestreitet, dass die vielen neuen Arbeitsplätze auch ein Ergebnis unserer Reformpolitik sind.

Diese Reformpolitik hat die Lage auf dem Arbeitsmarkt für viele verschlechtert. Wir haben heute weniger Vollzeitjobs als vor zehn Jahren, mehr Geringverdiener, doppelt so viele Leiharbeiter.

Sie reden wie Sahra Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform. 

Wir halten uns an die Fakten.


Dann sollten Sie aber nicht alles durcheinander bringen. Wir haben heute zwei Millionen Arbeitslose weniger als noch 2005. Die Zahl der Arbeitslosen wird weiter sinken, trotz Finanzkrise und steigenden Ölpreisen. Ein schöner Erfolg. Das liegt nicht allein an der Politik aber wir haben mit richtigen Entscheidungen dazu beigetragen. Die Schröder-Regierung hat den Sozialstaat gerettet.

Also alles in Butter?

Das habe ich nicht gesagt.

Ist unsere Gesellschaft noch gerecht?

Nein.

Bitte!?


Das gehört zur Wahrheit dazu: Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre ist bei vielen im Portemonnaie nicht angekommen. Und nicht jeder, der sozial aufsteigen will, schafft das auch.

Das gilt besonders für 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosen.


Das ist in der Tat nichts, worauf wir stolz sein können. Arbeitslos zu werden, ist immer schrecklich. Ich weiß das, ich habe als Arbeitsrechtsanwalt viele Menschen, denen gekündigt wurde, betreut. Arbeitslosigkeit würde jedoch einen Teil ihres Schreckens verlieren, wenn wir glaubwürdig versprechen können: Niemand muss befürchten, länger als ein Jahr arbeitslos zu sein. Das ist mein Ziel.

Wie wollen Sie das schaffen?


Unter anderem durch eine erstklassige Arbeitsvermittlung. Sie muss innerhalb der nächsten zehn Jahre zur leistungsfähigsten Verwaltung unseres Landes werden.

Klingt schön. Viele Langzeitarbeitslose stecken jedoch in einem Kreislauf sozialer Ausgrenzung fest: Ohne Job kein Geld, ohne Geld keine Perspektive, ohne Perspektive keine Hoffnung. Sie geben sich auf.

Diese Hoffnungslosigkeit dürfen wir nicht hinnehmen.

Das tun Sie doch.

Nein, das tue ich nicht. Ich will, dass es für jeden Hoffnung gibt. Das funktioniert nicht über Nacht. Aber eine demokratische Gesellschaft muss jedem das Versprechen geben: Wenn du dich anstrengst, wenn du dich auf den Hosenboden setzt, dann zahlt sich das für dich aus.

Wie soll das gehen?


Indem wir keine Sprüche klopfen, nicht an den Bürgern vorbei reden, die Probleme nicht verschweigen, sondern ganz konkrete Vorschläge machen. Zum Beispiel haben 500.000 Langzeitarbeitslose keinen Schulabschluss. Das ist nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis einer falschen Bildungspolitik. Wir wissen das, aber tun zu wenig dagegen. Mein Vorschlag: Jeder soll das Recht erhalten, seinen Hauptschulabschluss nachholen zu können.

Was soll das bringen? Die Hauptschule ist doch heute schon eine Verliererschule.

Die Umsetzung des Vorschlags würde die Chancen vieler Betroffener auf dem Arbeitsmarkt schon einmal deutlich verbessern. Und daraus kann sich eine größere bildungspolitische Debatte entwickeln. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass jeder das Recht erhält, einen allgemeinen Schulabschluss nachholen zu können.
Erreicht die SPD die Abgehängten noch?

Ja. Wir Sozialdemokraten verkörpern die Perspektive, dass diese Bürger kein unabänderliches Schicksal haben. Viele von uns kommen aus kleinen sozialen Verhältnissen und haben sich durchgeboxt.

Heute spricht die Linkspartei die Sprache der Verlierer.

Die Linkspartei verspricht, was den Betroffenen nicht hilft: Anstrengung ist nicht nötig, Geld gibt´s auch so. Sie will die Misere nur erträglicher machen. Wir wollen mehr, nämlich dass man sich aus der Misere befreien kann. Die SPD kämpft für das bessere Angebot: Wer sich anstrengt, muss etwas davon haben - ein besseres Leben.


Interview: Andreas Hoffmann, Jens König