Was hält die Große Koalition noch zusammen?
Die Fraktionsmanager von Union und SPD, Norbert Röttgen und Olaf Scholz, über kleine Kämpfe, große Ziele und die Ungeduld der Bürger
DIE ZEIT: Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck ruft den »Kriegsfall« aus, der Unions-Fraktionschef Kauder sagt, die SPD »schadet dem Land«, und sein SPD-Kollege Struck droht gar mit dem Ende von Schwarz-Rot. Wie zerrüttet ist die Koalition?
Olaf Scholz: Es gehört zu den verbreiteten Irrtümern über Politik, dass die Parteien sich immer ähnlicher würden und sowieso alle einer Meinung seien. In der Großen Koalition koalieren unterschiedliche Parteien. Deshalb gibt es auch immer wieder Konflikte, die ausgetragen werden.
Norbert Röttgen: Beschimpfungen, wie sie vonseiten der SPD losgelassen wurden, haben oppositionellen Charakter. Wer so redet, muss überlegen, ob er seiner Partei oder der Koalition damit dient. Solche Worte beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit der Koalition bislang nicht; sie sind aber auch nicht ungefährlich. Das Klima unter den handelnden Personen und die Wahrnehmung der Koalition bei der Bevölkerung sind entscheidend für den gemeinsamen Erfolg. Wir jedenfalls sind Regierungspartei und wollen uns auch so verhalten.
Scholz: Na ja. Die SPD ist seit 1998 Regierungspartei. Deshalb wissen wir, dass es sich nicht lohnt, Forderungen aufzustellen, die man nicht realisieren kann. Vieles von dem, was in der letzten Zeit aus der Union zu hören war, klang eher nach Parteitagsbeschlüssen, die man sich selbst nicht glaubt. Zur Sache: Wir sind über die Forderung nach Abschaffung der Erbschaftsteuer erschrocken. Die Folge wäre ein ganz gewaltiges Gerechtigkeitsproblem, das weder bei der Wählerschaft der SPD noch bei der der Union eine ausreichende Akzeptanz hätte. Bei der Kindergartenbetreuung freuen wir uns, dass die Union ihre alten ideologischen Einwände aufgegeben hat.
Röttgen: Ihr könnt eure Freude aber offenkundig nicht so richtig zeigen.
Scholz: Doch, offenkundig freuen wir uns! Schließlich ist das wie auch das Elterngeld seit Langem Teil des SPD-Programms. Die Frage ist, ob die Ankündigungen von mehr Kinderbetreuung bei der CDU Sprüche sind oder Realität.
ZEIT: Die Form der derzeitigen Auseinandersetzung klingt nicht so, als würde über Sachen gestritten. Da scheint doch etwas tiefer zu gehen.
Röttgen: Es gibt eine Diskrepanz zwischen rhetorischer Begleitung und der tatsächlichen Arbeit der Koalition. Die Koalition hat eine sehr ordentliche Bilanz. Vielleicht kann man sagen, dass in einer Großen Koalition ein Bedürfnis angelegt ist, sich in besonderer Weise neben der Regierungsarbeit zu profilieren. Und je mehr man glaubt, dass man sich mit seinen parteipolitischen Anliegen in der Regierungsarbeit nicht darstellen kann, desto größer ist das Bedürfnis, ersatzweise durch Rhetorik auf sich aufmerksam zu machen.
Scholz: Danke! Jetzt habe ich die Forderungen von Wirtschaftsminister Glos nach Steuersenkungen verstanden
Röttgen: Dass ein Abgeordneter, auch ein führender Wirtschaftspolitiker, etwas Grundsätzliches problematisieren darf, halte ich für völlig legitim. Niemand hat behauptet, dass das im Herbst dieses Jahres geschehen muss. Die SPD darf ja auch sagen, dass sie die Erbschaftsteuer erhöhen will. Es ist nicht nur normal, sondern sogar wünschenswert, dass Parteien und Fraktionen programmatische und ideelle Eigenständigkeit haben. Wenn Meinungsbeiträge nicht mehr möglich sind, wird die Langweiligkeit der Politik unerträglich!
ZEIT: Hinterlassen diese Wortgefechte eigentlich eine Wirkung in der Weise, dass sich nicht nur die Forderungen und Vorwürfe selbst abnutzen, sondern auch das Vertrauen in der Koalition?
Scholz: Wir regieren bis 2009. Nur weil wir uns streiten, ist das nicht immer gleich der Einstieg in den Ausstieg. Wir haben unterschiedliche Wähleraufträge und unterschiedliche Haltungen dazu, wie es weitergehen sollte mit unserem Land. Trotzdem müssen und werden wir uns einigen. Norbert, du beschönigst aber die Situation. Wenn führende Unionspolitiker unrealistische Dinge fordern und es gibt tagelang keine Klarstellung, dass das nur so eine Meinung sei, muss man annehmen, dass dahinter Methode steckt. Ankündigungspolitik ist schwierig. Und wir haben das Problem, dass die Koalition sich sehr viele Dinge vorgenommen hat, für die wir noch keine Finanzierung gefunden haben. Wir haben zum Beispiel vereinbart, dass wir in 1,5-Milliarden-Euro-Schritten jährlich steigend einen Steuerzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung finanzieren wollen. Bis jetzt hat sich niemand dazu geäußert, wie das geht. Bei der Frage des Ausbaus der Kindertagesbetreuung wollen wir wissen, wie das bezahlt wird. Da sind wir für alle Vorschläge offen - nur nicht für keine.
Röttgen: Wir stimmen überein, dass folgenlose Rhetorik vor allem denjenigen verschleißt, der seine Ankündigungen nicht einhalten kann. Theoretisch kann sich Rhetorik irgendwann so verselbstständigen, dass man zu ihrem Gefangenen wird. Ich glaube aber nicht, dass es passiert, weil das nicht die Interessenlage der Koalitionsparteien ist. Alle wissen, dass sie diese Koalition wollen müssen für ihre Amtszeit.
ZEIT: Warum müssen sie das wollen?
Röttgen: Weil diese Große Koalition die erste Bundesregierung ist, die durch den Wähler zustande gekommen ist und nicht durch den Willen der sie tragenden Parteien. Darum ist das Müssen ein Geburtselement dieser Koalition. Und nach und nach ist aus dem Müssen auch ein echter gemeinsamer Gestaltungswille geworden.
Scholz: Das ist ja keine schlechte Angelegenheit, dass die Wähler entscheiden ...
Röttgen: Gegen den Willen der Wähler ist noch selten eine Regierung gebildet worden. Aber dass der Ankündigungswillen der Parteien und der Wählerwillen so auseinandergefallen sind, war neu. Und die Partei, die nicht einen verdammt guten Grund hat, diesen Wählerauftrag vorzeitig zu beenden, wird ein richtiges Problem mit der Bevölkerung bekommen, wenn sie es doch tut.
ZEIT: Aus der SPD ist in immer kürzer werdenden Abständen der Ruf nach der Kanzlerin und nach mehr Führungsstärke zu hören.
Röttgen: Das gehört zum erwähnten rhetorischen Übermaß. Wir haben eine innenpolitische Erfolgsbilanz, und das europa- und außenpolitische Wirken der Kanzlerin steht ohnehin außerhalb jeden Zweifels.
Scholz: Die Führungserwartung ist berechtigt. Ich habe einige Punkte benannt. Wir haben noch keine Antwort, wo die Steuergelder für die Krankenversicherung herkommen sollen. Das Gleiche gilt für die Frage des Kindergartenausbaus. Die zuständige Ministerin hat bisher nicht geliefert, wir erwarten einen Vorschlag.
Röttgen: Gesetzgebung und Politik brauchen eben manchmal zwei Monate. Und die Entscheidungen fallen in der Regierung und nicht hier im Interview.
ZEIT: Nicht? Herr Scholz sagt aber, die CDU betreibe »governing by interview«. Wo ist eigentlich das Zentrum der Regierung?
Scholz: Das habe ich auf den Vorschlag bezogen, den Innenminister Schäuble in Interviews in Bezug auf die Verwendung von Daten gemacht hat, die durch keinen Gesetzesvorschlag untermauert sind, sondern sich teilweise sogar distanzieren von einem Gesetz, dem er selbst im Kabinett bereits zugestimmt hat.
ZEIT: Otto Schily dagegen machte gelegentlich gar keine Gesetze, sondern hat das Untersuchen von Festplatten einfach per Erlass erlaubt.
Scholz: Die Tätigkeit von Schily und die Gesetzgebung der letzten Jahre haben dazu geführt, dass wir eine sehr perfekte Sicherheitsarchitektur haben. Die Gefahr ist eher, dass jemand wie Schäuble das Bedürfnis entwickelt, künstlich Sicherheitslücken zu erfinden. Deshalb bin ich sicher, dass von seinen Interviewansagen nur wenige Gesetzeskraft erlangen.
Röttgen: Wir können uns in ein paar Monaten wieder treffen, um das zu bilanzieren. Es gibt Lücken, die unbezweifelbar sind. Der Bund hat zum Beispiel eine ganz neue Kompetenz zur internationalen Terrorabwehr bekommen, die er mit Gesetzen ausfüllen muss.
Scholz: Da ist keine Sicherheitslücke, sondern ein Bedarf für eine gesetzliche Grundlage. Ich sage voraus: Wir werden die Speicherung von Fingerabdrucken nicht beschließen, wir werden keinen Bundeswehreinsatz im Inneren beschließen, und wir werden auch nicht die Onlinedurchsuchung in der geplanten Intensität beschließen.
ZEIT: Noch einmal: Wo ist eigentlich das Machtzentrum der Großen Koalition?
Röttgen: Schon in einer kleinen Koalition hat sich die Basta-Ansage nicht als erfolgreicher Regierungsstil erwiesen. In der Großen Koalition braucht man einen Regierungskonsens zwischen den beiden ungefähr gleich großen politischen Kräften ganz besonders. Die Vorstellung, dass dieser Konsens nur von der Regierung oder der Fraktion oder den Ländern getragen werden könnte, ist unrealistisch, sondern er muss seine Grundlage überall dort haben.
Scholz: Ich stimme allem zu, gleichwohl braucht ein Schiff auch in der Demokratie einen Kapitän. Und es gibt schon Themen, wo wir uns klare Aussagen wünschen.
ZEIT: Die nächste Spitzenrunde der Koalition muss mehrere Streitfragen klären: das Thema Mindestlohn und die Finanzierung von mehr Kindergartenplätzen. Was ist Ihre Messlatte dabei?
Scholz: Für alle Themen gilt, dass es reale Verbesserungen geben muss. Ohne einen für jedermann sichtbaren Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland wird es keinen Konsens geben. Und die SPD ist der Meinung, dass wir einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn brauchen. Sogar in den USA wird er auf 7,20 Dollar angehoben.
Röttgen: Es wird die Kinderbetreuung für unter Dreijährige in dem Umfang geben, wie sie in Deutschland nachgefragt wird. Darin stimmen wir völlig überein. Das Thema Mindestlohn gehört nicht zum Konsens der Großen Koalition. Das ist eine parteipolitische Vorstellung der SPD. Wenn wir den Niedriglohnsektor in Deutschland beseitigen wollen, worauf die Vorschläge der SPD abzielen, verbauen wir gerade den Schwachen die Chance, Arbeit zu finden. Weil sie durch Maschinen oder Schwarzarbeit ersetzt werden. Da haben wir einen echten Dissens.
Scholz: Über den wir uns verständigen müssen.
Röttgen: Nein, wir müssen uns nicht über alles verständigen.
Scholz: Über alles nicht. Aber in jedem Fall müssen wir uns über die Frage verständigen, wie Menschen abgesichert werden können, die wenig verdienen. Selbst bei einem gesetzlichen Mindestlohn, wie er in Frankreich oder Großbritannien existiert, bleiben die Menschen immer noch im Niedriglohnsektor, nur sind sie nicht ergänzend auf staatliche Transferzahlungen angewiesen. Dass man mit einem Mindestlohn Arbeitsplätze in Gefahr bringt, ist Unfug. Zum Beispiel sprechen uns viele derer an, die im Bundestag arbeiten - auch da werden teilweise Löhne gezahlt, von denen man nicht leben kann. Der Bundestag wird nicht nach Polen umziehen, wenn er zwei Euro mehr zahlt.
ZEIT: Brauchten Sie einen zweiten Koalitionsvertrag für die zweite Etappe der Regierung?
Scholz: Da sind wir uns völlig einig. Das kann ich unterschreiben. Ich möchte zwei Dinge ergänzen, die wir brauchen. Das eine ist Mut, das andere langer Atem. Etwas Mutigeres als die Agenda 2010 hat es innenpolitisch in der Republik in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. Deshalb ist es auch wichtig, dass man akzeptiert, dass die Politik unseres Landes über mehrere Regierungen hinweg sehr langfristige Dinge angegangen ist, die in vielen anderen Ländern bis heute ungelöst sind.
Röttgen: Da haben wir wieder einen Dissens. Die Leistung der Großen Koalition liegt eben nicht in der Kontinuität, sondern darin, dass sie eine unglückliche Tradition durchbrochen hat: Bis zur Großen Koalition glaubte Politik über Legislaturperioden und Jahrzehnte hinweg, dadurch erfolgreich zu sein, dass man Probleme nicht löst. Die Verdrängung der Problemlösungen war das parteipolitische Erfolgsprojekt.
ZEIT: Wo steht das Land heute?
Scholz: Wir sind in der Reform der Sozialversicherungen jetzt so weit gekommen wie kaum ein anderes europäisches Land. Wir können heute sagen: Wir haben den größten Teil der Wegstrecke zurückgelegt. Und wir haben uns in einer sehr schwierigen Welt als Land eigenständig positioniert. Der Kurs, den die Regierung Schröder eingeschlagen hat, wird von der Großen Koalition unverändert fortgesetzt, und das ist eine gute Bilanz.
Röttgen: Wir leben endlich wieder in wirtschaftlich glücklichen Jahren. Am meisten durch die Arbeitnehmer, durch Lohnzurückhaltung, durch Unternehmen, die sich neu organisiert haben, und durch die Vorteile, die die Globalisierung uns bringt. Die Große Koalition hat begonnen, den Aufschwung in unserem Land zu stabilisieren. Aber wir haben nicht die größte Strecke des Weges zurückgelegt.
Interview von Tina Hildebrandt und Matthias Geis