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03.05.2007

Eh unsere Zeit verlischt - Interview in DIE ZEIT

Was hält die Große Koalition noch zusammen? Die Fraktionsmanager von Union und SPD, Norbert Röttgen und Olaf Scholz, über kleine Kämpfe, große Ziele und die Ungeduld der Bürger

DIE ZEIT: Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck ruft den »Kriegsfall« aus, der Unions-Fraktionschef Kauder sagt, die SPD »schadet dem Land«, und sein SPD-Kollege Struck droht gar mit dem Ende von Schwarz-Rot. Wie zerrüttet ist die Koalition?

Olaf Scholz: Es gehört zu den verbreiteten Irrtü­mern über Politik, dass die Parteien sich immer ähnlicher würden und sowieso alle einer Meinung seien. In der Großen Koalition koalieren unter­schiedliche Parteien. Deshalb gibt es auch immer wieder Konflikte, die ausgetragen werden.

Norbert Röttgen: Beschimpfungen, wie sie vonseiten der SPD losgelassen wurden, haben oppositio­nellen Charakter. Wer so redet, muss überlegen, ob er seiner Partei oder der Koalition damit dient. Solche Worte beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit der Koalition bislang nicht; sie sind aber auch nicht ungefährlich. Das Klima unter den handeln­den Personen und die Wahrnehmung der Koali­tion bei der Bevölkerung sind entscheidend für den gemeinsamen Erfolg. Wir jedenfalls sind Re­gierungspartei und wollen uns auch so verhalten.

Scholz: Na ja. Die SPD ist seit 1998 Regierungs­partei. Deshalb wissen wir, dass es sich nicht lohnt, Forderungen aufzustellen, die man nicht realisie­ren kann. Vieles von dem, was in der letzten Zeit aus der Union zu hören war, klang eher nach Par­teitagsbeschlüssen, die man sich selbst nicht glaubt. Zur Sache: Wir sind über die Forderung nach Abschaffung der Erbschaftsteuer erschro­cken. Die Folge wäre ein ganz gewaltiges Gerech­tigkeitsproblem, das weder bei der Wählerschaft der SPD noch bei der der Union eine ausreichende Akzeptanz hätte. Bei der Kindergartenbetreuung freuen wir uns, dass die Union ihre alten ideologischen Einwände aufgegeben hat. 

Röttgen: Ihr könnt eure Freude aber offenkundig nicht so richtig zeigen. 

Scholz: Doch, offenkundig freuen wir uns! Schließlich ist das wie auch das Elterngeld seit Langem Teil des SPD-Programms. Die Frage ist, ob die Ankündigungen von mehr Kinderbetreu­ung bei der CDU Sprüche sind oder Realität.

ZEIT: Die Form der derzeitigen Auseinanderset­zung klingt nicht so, als würde über Sachen ge­stritten. Da scheint doch etwas tiefer zu gehen.

Röttgen: Es gibt eine Diskrepanz zwischen rhetorischer Begleitung und der tatsächlichen Arbeit der Koalition. Die Koalition hat eine sehr ordent­liche Bilanz. Vielleicht kann man sagen, dass in einer Großen Koalition ein Bedürfnis angelegt ist, sich in besonderer Weise neben der Regierungsar­beit zu profilieren. Und je mehr man glaubt, dass man sich mit seinen parteipolitischen Anliegen in der Regierungsarbeit nicht darstellen kann, desto größer ist das Bedürfnis, ersatzweise durch Rheto­rik auf sich aufmerksam zu machen.

Scholz: Danke! Jetzt habe ich die Forderungen von Wirtschaftsminister Glos nach Steuersenkungen verstanden          

Röttgen: Dass ein Abgeordneter, auch ein führen­der Wirtschaftspolitiker, etwas Grundsätzliches problematisieren darf, halte ich für völlig legitim. Niemand hat behauptet, dass das im Herbst dieses Jahres geschehen muss. Die SPD darf ja auch sa­gen, dass sie die Erbschaftsteuer erhöhen will. Es ist nicht nur normal, sondern sogar wünschens­wert, dass Parteien und Fraktionen programma­tische und ideelle Eigenständigkeit haben. Wenn Meinungsbeiträge nicht mehr möglich sind, wird die Langweiligkeit der Politik unerträglich!

ZEIT: Hinterlassen diese Wortgefechte eigentlich eine Wirkung in der Weise, dass sich nicht nur die Forderungen und Vorwürfe selbst abnutzen, son­dern auch das Vertrauen in der Koalition?

Scholz: Wir regieren bis 2009. Nur weil wir uns streiten, ist das nicht immer gleich der Einstieg in den Ausstieg. Wir haben unterschiedliche Wäh­leraufträge und unterschiedliche Haltungen dazu, wie es weitergehen sollte mit unserem Land. Trotzdem müssen und werden wir uns einigen. Norbert, du beschönigst aber die Situation. Wenn führende Unionspolitiker unrealistische Dinge fordern und es gibt tagelang keine Klarstellung, dass das nur so eine Meinung sei, muss man an­nehmen, dass dahinter Methode steckt. Ankündi­gungspolitik ist schwierig. Und wir haben das Problem, dass die Koalition sich sehr viele Dinge vorgenommen hat, für die wir noch keine Finan­zierung gefunden haben. Wir haben zum Beispiel vereinbart, dass wir in 1,5-Milliarden-Euro-Schritten jährlich steigend einen Steuerzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung finanzieren wollen. Bis jetzt hat sich niemand dazu geäußert, wie das geht. Bei der Frage des Ausbaus der Kin­dertagesbetreuung wollen wir wissen, wie das be­zahlt wird. Da sind wir für alle Vorschläge offen - nur nicht für keine.

Röttgen: Wir stimmen überein, dass folgenlose Rhetorik vor allem denjenigen verschleißt, der sei­ne Ankündigungen nicht einhalten kann. Theore­tisch kann sich Rhetorik irgendwann so verselbstständigen, dass man zu ihrem Gefangenen wird. Ich glaube aber nicht, dass es passiert, weil das nicht die Interessenlage der Koalitionsparteien ist. Alle wissen, dass sie diese Koalition wollen müssen für ihre Amtszeit. 

ZEIT: Warum müssen sie das wollen?

Röttgen: Weil diese Große Koalition die erste Bundesregierung ist, die durch den Wähler zu­stande gekommen ist und nicht durch den Willen der sie tragenden Parteien. Darum ist das Müssen ein Geburtselement dieser Koalition. Und nach und nach ist aus dem Müssen auch ein echter ge­meinsamer Gestaltungswille geworden.

Scholz: Das ist ja keine schlechte Angelegenheit, dass die Wähler entscheiden ...

Röttgen: Gegen den Willen der Wähler ist noch selten eine Regierung gebildet worden. Aber dass der Ankündigungswillen der Parteien und der Wählerwillen so auseinandergefallen sind, war neu. Und die Partei, die nicht einen verdammt guten Grund hat, diesen Wählerauftrag vorzeitig zu beenden, wird ein richtiges Problem mit der Bevölkerung bekommen, wenn sie es doch tut.

ZEIT: Aus der SPD ist in immer kürzer wer­denden Abständen der Ruf nach der Kanzlerin und nach mehr Führungsstärke zu hören.

Röttgen: Das gehört zum erwähnten rheto­rischen Übermaß. Wir haben eine innenpoli­tische Erfolgsbilanz, und das europa- und au­ßenpolitische Wirken der Kanzlerin steht ohne­hin außerhalb jeden Zweifels.

Scholz: Die Führungserwartung ist berechtigt. Ich habe einige Punkte benannt. Wir haben noch keine Antwort, wo die Steuergelder für die Krankenversicherung herkommen sollen. Das Gleiche gilt für die Frage des Kindergarten­ausbaus. Die zuständige Ministerin hat bisher nicht geliefert, wir erwarten einen Vorschlag.

Röttgen: Gesetzgebung und Politik brauchen eben manchmal zwei Monate. Und die Ent­scheidungen fallen in der Regierung und nicht hier im Interview.

ZEIT: Nicht? Herr Scholz sagt aber, die CDU betreibe »governing by interview«. Wo ist eigent­lich das Zentrum der Regierung?

Scholz: Das habe ich auf den Vorschlag bezo­gen, den Innenminister Schäuble in Interviews in Bezug auf die Verwendung von Daten ge­macht hat, die durch keinen Gesetzesvorschlag untermauert sind, sondern sich teilweise sogar distanzieren von einem Gesetz, dem er selbst im Kabinett bereits zugestimmt hat.

ZEIT: Otto Schily dagegen machte gelegentlich gar keine Gesetze, sondern hat das Untersuchen von Festplatten einfach per Erlass erlaubt.

Scholz: Die Tätigkeit von Schily und die Ge­setzgebung der letzten Jahre haben dazu geführt, dass wir eine sehr perfekte Sicherheitsarchitek­tur haben. Die Gefahr ist eher, dass jemand wie Schäuble das Bedürfnis entwickelt, künstlich Si­cherheitslücken zu erfinden. Deshalb bin ich sicher, dass von seinen Interviewansagen nur wenige Gesetzeskraft erlangen.

Röttgen: Wir können uns in ein paar Monaten wieder treffen, um das zu bilanzieren. Es gibt Lü­cken, die unbezweifelbar sind. Der Bund hat zum Beispiel eine ganz neue Kompetenz zur internatio­nalen Terrorabwehr bekommen, die er mit Geset­zen ausfüllen muss.

Scholz: Da ist keine Sicherheitslücke, sondern ein Bedarf für eine gesetzliche Grundlage. Ich sage voraus: Wir werden die Speicherung von Finger­abdrucken nicht beschließen, wir werden keinen Bundeswehreinsatz im Inneren beschließen, und wir werden auch nicht die Onlinedurchsuchung in der geplanten Intensität beschließen.  

ZEIT: Noch einmal: Wo ist eigentlich das Macht­zentrum der Großen Koalition?

Röttgen: Schon in einer kleinen Koalition hat sich die Basta-Ansage nicht als erfolgreicher Regie­rungsstil erwiesen. In der Großen Koalition braucht man einen Regierungskonsens zwischen den beiden ungefähr gleich großen politischen Kräften ganz besonders. Die Vorstellung, dass die­ser Konsens nur von der Regierung oder der Frak­tion oder den Ländern getragen werden könnte, ist unrealistisch, sondern er muss seine Grundlage überall dort haben.

Scholz: Ich stimme allem zu, gleichwohl braucht ein Schiff auch in der Demokratie einen Kapitän. Und es gibt schon Themen, wo wir uns klare Aus­sagen wünschen.

ZEIT: Die nächste Spitzenrunde der Koalition muss mehrere Streitfragen klären: das Thema Mindest­lohn und die Finanzierung von mehr Kindergartenplätzen. Was ist Ihre Messlatte dabei?

Scholz: Für alle Themen gilt, dass es reale Verbes­serungen geben muss. Ohne einen für jedermann sichtbaren Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland wird es keinen Konsens geben. Und die SPD ist der Meinung, dass wir einen allgemei­nen gesetzlichen Mindestlohn brauchen. Sogar in den USA wird er auf 7,20 Dollar angehoben.

Röttgen: Es wird die Kinderbetreuung für unter Dreijährige in dem Umfang geben, wie sie in Deutschland nachgefragt wird. Darin stimmen wir völlig überein. Das Thema Mindestlohn ge­hört nicht zum Konsens der Großen Koalition. Das ist eine parteipolitische Vorstellung der SPD. Wenn wir den Niedriglohnsektor in Deutschland beseitigen wollen, worauf die Vorschläge der SPD abzielen, verbauen wir gerade den Schwachen die Chance, Arbeit zu finden. Weil sie durch Maschi­nen oder Schwarzarbeit ersetzt werden. Da haben wir einen echten Dissens.

Scholz: Über den wir uns verständigen müssen.

Röttgen: Nein, wir müssen uns nicht über alles verständigen.

Scholz: Über alles nicht. Aber in jedem Fall müs­sen wir uns über die Frage verständigen, wie Men­schen abgesichert werden können, die wenig ver­dienen. Selbst bei einem gesetzlichen Mindestlohn, wie er in Frankreich oder Großbritannien existiert, bleiben die Menschen immer noch im Niedrig­lohnsektor, nur sind sie nicht ergänzend auf staat­liche Transferzahlungen angewiesen. Dass man mit einem Mindestlohn Arbeitsplätze in Gefahr bringt, ist Unfug. Zum Beispiel sprechen uns viele derer an, die im Bundestag arbeiten - auch da wer­den teilweise Löhne gezahlt, von denen man nicht leben kann. Der Bundestag wird nicht nach Polen umziehen, wenn er zwei Euro mehr zahlt.

ZEIT: Brauchten Sie einen zweiten Koalitionsver­trag für die zweite Etappe der Regierung?

Röttgen: Wir können im Herbst 2007 eine gute Bilanz ziehen. Wir sollten aber auch eine Perspek­tive entwerfen für die nächsten zwei Jahre, um uns selbst in die Pflicht zu nehmen. Ich würde das eher eine Selbstverpflichtung nennen als einen zweiten Koalitionsvertrag. Was die Spannung der Großen Koalition ausmacht, ist die gemeinsame Aufgabe auf der einen und das Abgrenzungsbedürfnis auf der anderen Seite. In der zweiten Hälfte der Perio­de wird das eher schwieriger. Deshalb müssen wir uns im Herbst 2007 am Riemen reißen. Die Große Koalition sollte im Gefühl arbeiten, dass sie noch viel zu erledigen hat, bevor ihre Zeit verlischt.

Scholz: Da sind wir uns völlig einig. Das kann ich unterschreiben. Ich möchte zwei Dinge ergänzen, die wir brauchen. Das eine ist Mut, das andere lan­ger Atem. Etwas Mutigeres als die Agenda 2010 hat es innenpolitisch in der Republik in den letz­ten Jahrzehnten nicht gegeben. Deshalb ist es auch wichtig, dass man akzeptiert, dass die Politik un­seres Landes über mehrere Regierungen hinweg sehr langfristige Dinge angegangen ist, die in vie­len anderen Ländern bis heute ungelöst sind.

Röttgen: Da haben wir wieder einen Dissens. Die Leistung der Großen Koalition liegt eben nicht in der Kontinuität, sondern darin, dass sie eine un­glückliche Tradition durchbrochen hat: Bis zur Großen Koalition glaubte Politik über Legislatur­perioden und Jahrzehnte hinweg, dadurch erfolg­reich zu sein, dass man Probleme nicht löst. Die Verdrängung der Problemlösungen war das partei­politische Erfolgsprojekt.

ZEIT: Wo steht das Land heute?

Scholz: Wir sind in der Reform der Sozialversiche­rungen jetzt so weit gekommen wie kaum ein an­deres europäisches Land. Wir können heute sagen: Wir haben den größten Teil der Wegstrecke zurück­gelegt. Und wir haben uns in einer sehr schwierigen Welt als Land eigenständig positioniert. Der Kurs, den die Regierung Schröder eingeschlagen hat, wird von der Großen Koalition unverändert fort­gesetzt, und das ist eine gute Bilanz.

Röttgen: Wir leben endlich wieder in wirtschaft­lich glücklichen Jahren. Am meisten durch die Ar­beitnehmer, durch Lohnzurückhaltung, durch Un­ternehmen, die sich neu organisiert haben, und durch die Vorteile, die die Globalisierung uns bringt. Die Große Koalition hat begonnen, den Aufschwung in unserem Land zu stabilisieren. Aber wir haben nicht die größte Strecke des Weges zu­rückgelegt.


Interview von Tina Hildebrandt und Matthias Geis