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29.03.2007

Rede im Deutschen Bundestag vom 29. März 2007

Olaf Scholz (SPD):


Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Millionen Menschen - auf die hohe Zahl ist schon hingewiesen worden - haben eine Patientenverfügung unterschrieben. Sie haben sich sorgfältig Gedanken darüber gemacht, was mit ihnen geschehen soll, wenn sie nicht mehr einwilligungsfähig sind. Wir diskutieren hier heute darüber, ob diese vielen Patientenverfügungen gelten sollen oder nicht. Darum geht es in dieser Debatte, wenn wir über Reichweitenbeschränkungen sprechen. Deshalb sollten wir dieses Thema so ernst nehmen, wie es die Sache gebietet. Eine solche Debatte wird bei uns Abgeordneten des Bundestages genauso verlaufen wie bei jedem anderen Menschen: Wir schließen von uns auf andere. Das ist bei einer so wichtigen Angelegenheit mehr als angemessen. Deshalb will ich nicht verheimlichen, dass ich selbst eine Patientenverfügung unterschrieben habe und dass ich in dieser Patientenverfügung Festlegungen getroffen habe, die nach der möglichen Umsetzung einiger Gesetzesvorschläge, die heute anberaten werden, nicht mehr wirksam sein würden. Insofern können Sie sich vorstellen, dass sich mit mir viele Hunderttausende vielleicht auch Millionen Menschen Sorgen machen, dass etwas, was sie sich gut überlegt haben, nicht mehr gelten soll, weil andere, insbesondere der Deutsche Bundestag, es besser wissen wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann mich damit nicht abfinden und bin mir übrigens sicher, dass viele andere das auch nicht tun werden und dass sie, falls der Bundestag ihnen mit seiner Weisheit nicht hilft, das Bundesverfassungsgericht um Hilfe bitten werden.

(Joachim Stünker (SPD): Ganz richtig!)

Da wiederum bin ich mir sicher, dass manche der hier zur Beratung stehenden Gesetzesvorschläge mit unserer Verfassung nicht vereinbar sind und deshalb vor Gericht keinen Bestand haben würden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gestatten Sie mir, ganz kurz auf Aspekte einzugehen, die in dieser Debatte eine Rolle spielen. Einer hat damit zu tun, dass wir etwas aus meiner Sicht Unverantwortliches tun: Wir unterscheiden zwischen dem antizipierten Willen und dem aktuellen Willen. Das klingt zwar zunächst einmal vernünftig, ist aber so selbstverständlich nicht. Sehr oft in unserem täglichen Leben etwa wenn wir etwas unterschreiben drücken wir unseren Willen aus und sind auch völlig damit einverstanden, dass wir hinterher daran gebunden sind. Insofern ist es aus meiner Sicht Sophismus, eine solche Unterscheidung vorzunehmen, um sich als Gesetzgeber das Recht zu verschaffen, in dem Fall, in dem der Mensch ganz hilflos und bewusstlos ist, über ihn zu verfügen, obwohl er genau das mit seiner Patientenverfügung ausschließen wollte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als ein Argument werden die Schwierigkeiten bei der Feststellung des Willens genannt. Rechtssoziologen sagen uns, dass der Interpret, der Bevollmächtige, das Gericht oder wer auch immer sich damit beschäftigt, sich selbst als Person bei der Auslegung einbringt. Das wissen wir. Sogar wenn uns etwas ganz klar erscheint, spielt die Auslegung bei der Ermittlung des Sachverhalts eine Rolle. Trotzdem trauen wir uns das zu und halten es für möglich. Das müssen wir auch. Denn wenn wir uns nicht vorstellen könnten, dass wir uns auf die Auslegung eines Willens verständigen können, dann könnten wir gar nicht vernünftig zusammenleben. Deshalb ist es notwendig, dass wir so eine Entscheidung akzeptieren. Der Verweis darauf, dass man sich bei der Auslegung irren kann, rechtfertigt eine Ablehnung dennoch nicht; denn das ist eigentlich nur ein Hinweis darauf, dass wir uns unglaublich viel Mühe geben müssen. Selbstverständlich, wenn ein 20 Jahre alter Patientenwille vorliegt, dann muss sich derjenige, der darüber zu entscheiden hat, große Mühe geben, um herauszufinden, ob das wirklich noch der aktuelle Wille ist.

(Zurufe von der CDU/CSU: So, so!   Aha!   So ist das also!   Aber wie?)

Das ist ganz einfach. Man kann zum Beispiel fragen, ob der Patient seinen Willen mündlich oder auf irgendeine andere Weise widerrufen hat. Niemand in diesem Haus hat einen Zweifel daran, dass das möglich ist. Daher sollte man das nicht zum Anlass für die Gesetzgebung nehmen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt aus meiner Sicht das will ich ausdrücklich sagen auch im Hinblick darauf, dass wir eine auf sorgfältige Weise getroffene Entscheidung akzeptieren müssen. Es hat also auch dann zu gelten, wenn ein Mensch nicht mehr einwilligungs- und geschäftsfähig ist, er aber noch eine Willensäußerung von sich geben kann, die deutlich macht, was er will. Auch daran gibt es keinen Zweifel. Das gilt in der Rechtsprechung, und das gilt insgesamt.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Zeit ist kurz. Gestatten Sie mir deshalb nur noch eine Bemerkung.
(Klaus Uwe Benneter (SPD): Na, na, Herr Kollege! Nicht übertreiben! Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Redezeit! Heiterkeit)

Ja, meine Redezeit. Schönen Dank. Es beruhigt mich, dass Sie das klarstellen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es liegen bisher auch keine Absichten einer anderen gesetzlichen Regelung vor, Herr Kollege Scholz.
(Heiterkeit)

Olaf Scholz (SPD):
Auch das beruhigt mich.

Noch ein kurzer Hinweis: Es wird gesagt, man müsse unterscheiden zwischen der Situation, in der jemand verfügt, so nicht sterben zu wollen, und der Situation, in der jemand verfügt, so nicht leben zu wollen. Das ist sprachlich schön, aber nicht das Gegensatzpaar, um das es in dieser Debatte geht.

(Elke Ferner (SPD): Richtig!)
Denn in der Patientenverfügung verfügt man sowohl für den Fall, dass man bald stirbt, als auch für den Fall, dass man noch lange lebt eventuell aber ohne Bewusstsein, nur so nicht am Leben erhalten werden zu wollen. Wenn man begreift, dass es sich dabei nicht um zwei unterschiedliche Zustände handelt, sondern dass das ein und derselbe Zustand ist, und dass diese Unterscheidung künstlich herbeigeführt wird, um sich Gesetzgebungskompetenzen anzumaßen, die man sich besser nicht anmaßen sollte, dann kommt man zum Ergebnis, dass das Selbstbestimmungsrecht im Vordergrund stehen sollte.

Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

 

Ein Interview von Olaf Scholz mit dem Hamburger Abendblatt zu diesem Thema finden Sie hier.


Hier weitere Informationen des Bundesjustizministeriums und eine Formulierungshilfe für eine Patientenverfügung.