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23.05.2003

Erneuerung hat bei uns Tradition - Rede 140 Jahre SPD

Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

die deutsche Sozialdemokratie wird in diesem Jahr 140 Jahre alt.

Und ich freue mich, dass wir dieses Jubiläum heute gemeinsam mit so vielen Gästen aus dem In- und Ausland begehen können.

Ich begrüße die Vertreterinnen und die Vertreter der im Bundestag vertretenen Parteien; ein besonderer Gruß gilt den Mitgliedern unseres Koalitionspartners Bündnis90/ DIE GRÜNEN, mit den wir gemeinsam unser Land seit 5 Jahren regieren erfolgreich regieren, wie ich meine.

Ich begrüße die Vertreter der derzeitigen Oppositionsparteien mit denen wir ebenfalls bereits auf bedeutsame gemeinsame Regierungszeiten zurückblicken können.

Und ich begrüße besonders gerne Franz Müntefering, den Vorsitzenden unserer Bundestagsfraktion.

Sehr herzlich heiße ich Klaus Wowereit willkommen, den Regierenden Bürgermeister von Berlin auch stellvertretend für alle heute anwesenden Ministerpräsidenten.

Als Partei, die sich seit ihren Anfängen internationalen Fragen stets besonders stark verbunden sieht, begrüße ich die Regierungschefs von Polen, Lescek Miller und Serbien, Zoran Zivkovic herzlich unter uns. Ebenso Günter Verheugen und Neil Kinnock für Europäische Kommission und Antonio Guterres, den Präsidenten der Sozialistischen Internationale.

Wir freuen uns über die zahlreich anwesenden Vertreterinnen und Vertreter wichtiger Verbände und gesellschaftlicher Einrichtungen, die ich sehr herzlich unter uns begrüßen möchte. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich Sie nicht alle einzeln begrüßen kann, dafür würde der Zeitrahmen dieser Feierstunden nicht ausreichen.

Aus alter Verbundenheit und ich sage das bewusst auch in diesen Tagen begrüße ich Michael Sommer, den Vorsitzenden des deutschen Gewerkschaftsbundes.

Wir freuen uns sehr darüber, dass Hans-Jochen Vogel und Egon Bahr heute hier mit uns gemeinsam dieses bedeutsame Parteijubiläum feiern. Ihr beide habt großen Anteil daran, dass wir heute auf eine sehr erfolgreiche Phase sozialdemokratischer Regierungspolitik zurückblicken können.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

140 Jahre - welch eine lange Zeit, welch eine lange Geschichte! Nun ist Tradition für uns Sozialdemokraten weder Ballast, den wir abwerfen müssen, noch Folklore, die wir nur zu feierlichen Anlässen pflegen. Zusammenzukommen, um uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, um uns zu sagen, wie gut wir sind, das ist unsere Sache noch nie gewesen.

Der Blick in unsere Vergangenheit dient dazu, über unsere politische Arbeit und die Herausforderungen der Gegenwart nachzudenken. Wenn wir uns mit den schwierigen Anfängen der Organisation, mit Ausgrenzung und Verfolgung, mit großen Wahlerfolgen und erfolgreicher Regierungsarbeit, aber auch mit innerparteilichen Kämpfen, Niederlagen und falschen Einschätzungen beschäftigen, dann tun wir das nicht aus Selbstzweck, sondern um aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen.

Wer die Jahre von 1863 bis heute betrachtet, wird feststellen, dass nicht Kontinuität, sondern Zäsuren, tiefe Brüche in Staat und Gesellschaft, das Kennzeichen deutscher Geschichte in diesem Zeitraum darstellen. Von Bismarck, dem deutschen Kaiserreich und dem Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik, dem Terrorregime der Nationalsozialisten und dem geteilten Deutschland führt kein direkter Weg hin zur sozialdemokratischen Regierung in die wiedervereinigte Bundesrepublik des Jahres 2003.

Der 140. Geburtstag unserer Partei ist so gesehen etwas außergewöhnliches, ja etwas einmaliges, denn keine andere deutsche Partei kann auf eine solch lange Tradition zurückblicken. Den Sozialdemokraten ist es letztlich immer wieder gelungen, auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen zu reagieren, nach Umbrüchen neu anzufangen und den Menschen auf ihre Sorgen die richtigen Antworten zu geben.

Von Zeit zu Zeit mussten wir unsere Vorstellungen an der Wirklichkeit überprüfen und unseren Kurs anpassen: Nur so ist es uns gelungen, immer auf der Höhe der Zeit zu agieren, wie Willy Brandt sagte, - und darauf können wir stolz sein.

Wohl keiner der Arbeiter, die sich am 23. Mai 1863 in Leipzig trafen, um den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) zu gründen, hat damals auch nur zu träumen gewagt, dass 140 Jahre später, die regierende Partei Deutschlands diese Versammlung als ihren Geburtstag feiern würde. Im Leipziger Pantheon hatten sich an jenem historischen Samstag vor Pfingsten lediglich zwölf Delegierte eingefunden. Sie kamen aus elf deutschen Städten und repräsentierten rund 400 Mitglieder des künftigen Vereins.

Nicht ungelernte Fabrikarbeiter waren dort zusammengekommen, die sich aus dem Griff der liberal-dominierten Bildungsvereine befreien wollten, sondern Handwerker und qualifizierte Arbeiter: Schuhmacher, Zigarrenarbeiter, diszipliniert, ehrgeizig, aufstiegsorientiert, organisationserfahren.

Die in Leipzig zusammengekommen waren, wollten endlich die sozialen Interessen der Arbeiter vertreten wissen und die Klassengegensätze in der Gesellschaft beseitigen. Im Beisein von einigen hundert Arbeitern wählten die Delegierten Ferdinand Lassalle zu ihrem Präsidenten. Er sollte die Organisation aufbauen und führen. Selbst Intellektueller, der sein Geld als Anwalt verdiente, hatte er die Sache der Arbeiter zu der seinen gemacht. Lasalle war ein begnadeter Redner sowie ein brillanter Essayist und konnte mit seinem Charisma Menschen in seinen Bann ziehen.

Lassalle, der schon 1864 bei einem Duell um eine schöne Frau zu Tode kam, wurde zum Idol der Arbeiter. Noch in der Weimarer Republik, als die SPD zu einer großen und mächtigen Organisation angewachsen war, sangen die Delegierten auf Parteitagen Der Bahn, der kühnen, folgen wir, die uns geführt Lassalle.

Bei seiner Gründung war der ADAV Avantgarde, aber er war keine kleine subversive Truppe, die den Umsturz des Staates anstrebte, wie Presse und politische Gegner behaupteten.

Im Gegenteil. Im Paragraph 1 der Statuten hieß es, dass der Verein den Zweck verfolge, auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung, für die Herstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken.

Der Staat sollte nicht nur die persönliche Freiheit und das Eigentum schützen, sondern die einzelnen Arbeiter dazu befähigen, eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die sie als Individuen niemals erreichen könnten. An der Wiege der Sozialdemokratie standen also die Forderungen nach einem demokratischen Wahlrecht und nach einem sozialen Staat.


Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

Der Kampf für Demokratie und Freiheit kann in Deutschland nicht ohne die sozialdemokratische Partei erzählt werden. Der demokratische und soziale Rechtsstaat ist ein Ergebnis der von Bismarck als gemeingefährlich eingestuften Bestrebungen der sozialdemokratischen Partei. Manche haben das letzte Jahrhundert deshalb als ein sozialdemokratisches beschrieben. Wir meinen, das sozialdemokratische Jahrhundert kommt noch. Tatsächlich haben wir die Geschichte unseres Landes sehr geprägt. Regiert haben wir aber nur selten.

Als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom Balkon des Reichstages die Republik ausrief, trat die SPD ein schweres Erbe an: der Krieg war verloren, die militärische Führung beschuldigte die demokratischen Kräfte des Verrats von Versaille, die Wirtschaft lag am Boden. In dieser Situation übernahm die Sozialdemokratie erstmals in ihrer 55-jährigen Geschichte Regierungsverantwortung: Friedrich Ebert wurde Reichspräsident und stand bis zu seinem Tod 1925 an der Spitze des Staates. Die SPD schied aber bereits nach den Reichstagswahlen im Juni 1920 aus der Regierung aus.

1928 bildete die SPD noch einmal eine Koalitionsregierung unter der Führung des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller. Die SPD-Regierung konnte große außenpolitische Erfolge verbuchen: 1928 unterzeichnete sie den Kellogg-Pakt zur Ächtung des Krieges und im August 1929 wurde der Young-Plan angenommen, der eine deutliche Verringerung der Reparationslasten vorsah. In der Innenpolitik kippte die SPD die Mittel für den Bau von Panzerkreuzern.

Als jedoch nach der Weltwirtschaftskrise 1929 die Arbeitslosigkeit dramatisch anstieg und damit die Arbeitslosenversicherung unter ihren Ausgaben zu kollabieren drohte, wollte die SPD die Beiträge anheben. Ihre bürgerlichen Koalitionspartner plädierten dagegen und für geringere Leistungen an die Arbeiter. Ein Kompromissvorschlag, der nur um 0,5% von der SPD-Forderung abwich, fand in der SPD-Fraktion keine Mehrheit. Das Kabinett Müller scheiterte.


Die Agonie der Weimarer Republik begann.

Erst 1966, nach heftigem Für und Wider in Partei und Fraktion, fand die SPD in der Großen Koalition wieder Zugang zur Staatsmacht.

In der drei Jahre andauernden Episode gelang es der SPD, sich als die bessere Alternative zu präsentieren. Außenminister Willy Brandt löste mit seinem ostpolitischen Konzept die Erstarrung zu den östlichen Nachbarn, Wirtschaftsminister Schiller führte die Bundesrepublik aus ihrer ersten Rezession. 1969 gelang der endgültige Durchbruch, bei der Bundestagswahl 1972 triumphierte die SPD mit 45,2% der Stimmen. Das war der größte Wahlsieg in der Geschichte der SPD.

Die SPD war zur Partei der Arbeiter und Angestellten, der Frauen und Männer und vor allen Dingen der jungen Generation, der 68er, geworden übrigens nicht immer zur Freude der älteren Genossen.

Mit der Parole Mehr Demokratie wagen nach dem Regierungswechsel 1969 hatte Bundeskanzler Willy Brandt den Nerv der Zeit getroffen. Es folgten Jahre des Aufbruchs und der mutigen Reformen: die gesellschaftlich höchst umstrittene Ostpolitik, die ersten deutsch-deutschen Treffen, die Verträge von Moskau und Warschau. Für die Aussöhnung mit dem Osten erhielt Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis.

Helmut Schmidt, der Willy Brandt nachfolgte, war der richtige Mann für wirtschaftlich schwierige Zeiten. Er kannte sich aus in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in der Außenpolitik und bewies Geschick und Durchsetzungsvermögen in der Innenpolitik. Mit klarem analytischen Blick verstand er es, die immer enger werdenden Handlungsspielräume zu nutzen. Leicht wird vergessen, dass kein anderer sozialdemokratischer Bundeskanzler so lange amtierte wie Schmidt: über acht Jahre managte er die Bundesrepublik in krisenhaften Zeiten.

1998 haben wir nach 16 Jahren CDU-Herrschaft mit Gerhard Schröder an der Spitze wieder die Regierungsverantwortung übernommen. Das war erst das zweite Mal nach 1945, dass die SPD stärkste Partei wurde. 2002 gelang es, diesen Erfolg bei den Wahlen zu wiederholen.

Außen- und innenpolitisch ist das eine Zeit großer historischer Umbrüche. Die Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg im Kosovo, der Friedenseinsatz in Mazedonien und die Beteiligung Deutschlands bei der Bekämpfung des Terrorismus in Afghanistan zeigen das deutlich.

Unser Sozialstaat steht ebenfalls vor gewaltigen Umbrüchen. Keine leichte Zeit. Ob wir den Herausforderungen erfolgreich begegnet sind, werden Spätere beurteilen.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

die 140 Jahre Geschichte der sozialdemokratischen Partei haben keineswegs immer unter demokratischen Bedingungen stattgefunden. Das Kaiserreich bis 1918, das terroristische Regime der Nazidiktatur sind Perioden der Unfreiheit gewesen. Im Osten Deutschlands hat auch nach 1945 die Demokratie noch nicht begonnen.

Immerhin, im Westen Deutschlands währt die demokratische Zeit schon länger als die der Unfreiheit in diesen 140 Jahren; im Osten überwiegen die Zeiten von Demokratie und Freiheit noch nicht die anderen. Die SPD und die Freiheit sind dort erst wenige Jahre wieder unbeschränkt.

Niemand sollte vergessen, dass die demokratische Zeit der vereinten Deutschlands noch nicht so lange währt wie die Weimarer Republik. Verglichen damit leben wir aber erkennbar in ruhigen Zeiten und ohne jede erkennbare Gefahr für unsere Demokratie. Das ist ein großer Fortschritt. Aber die Mahnung bleibt, die Freiheit ist nicht selbstverständlich. Sie muss stets verteidigt werden.

Ein unvergessenes Freiheitsdokument bleibt die Rede von Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz. Otto Wels rief: Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Er bekannte sich zu den Grundsätzen des Rechtsstaates. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten, hielt er den Nazis entgegen. In der namentlichen Abstimmung erklang von allen 94 Abgeordneten ein klares, mutiges, unvergessliches: Nein!

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben unsere Position immer wieder aus Neue überprüft. Erneuerung hat bei uns Tradition.

Der außerordentliche Parteitag in Bad Godesberg vom 13. bis zum 15. November 1959 markierte die große programmatische Wende in der Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die SPD wurde zur Volkspartei: weg von den letzten Wahrheiten, hin zu pluralistisch fundierten Grundwerten.

Es war ein langer und für viele Genossen auch ein schmerzhafter Prozess, ganz selbstverständliche Grundüberzeugungen, mit denen man sich ein Leben lang die Welt erklärt hatte, hinter sich zu lassen: der Glaube an Marxismus, Klassenkampf und den sozialistischen Sieg; daran, dass es mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel keine Wirtschaftskrisen mehr geben würde.

Auch heute müssen wir uns über unsere programmatischen Grundlagen neu Gedanken machen. Es ist kein Zufall, dass wir uns vorgenommen haben, ein neues Grundsatzprogramm zu schreiben. Was verstehen wir heute unter Gerechtigkeit, einem der wichtigen Anliegen der Sozialdemokratie? Erkennbar ist, dass Gerechtigkeit sich nicht alleine am Niveau einzelner sozialer Leistungen abmessen lässt.

Dass in einer der reichsten Gesellschaften der Welt die Zahl der Menschen zunimmt, deren Teilhabe an Bildung und Arbeit nicht gesichert ist, bedrückt uns. Soziale Exklusion ist die eigentliche Bedrohung des europäischen Sozialmodells, für das die Sozialdemokraten einen so großen Beitrag überall in Europa geleistet haben. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.

Wir werden noch in diesem Jahr auf unserem Parteitag die Grundfragen der Gerechtigkeit debattieren wie es unsere Genossen, die Arbeiter im Leipziger Pantheon, in Eisenach, Gotha, Berlin, in verräucherten Kneipen, in Betrieben und auf der Straße Jahren getan haben. Und wir werden handeln wie sie: Zum Wohle der Menschen. Mit der gleichen Leidenschaft und aus der gleich Grundüberzeugung wie unsere Vorgänger.
 
Die SPD ist nun älter als ein Menschenleben reichen kann. Wir wünschen alles Gute für die nächsten 140 Jahre.

 

- Es gilt das gesprochene  Wort -