Die SPD feiert im Mai ihren 140. Geburtstag. Was ist dein Geburtstagswunsch?
Das Motto unserer Veranstaltung zum 140. Geburtstag wird sein: Erneuerung hat bei uns Tradition. Ich wünsche mir, dass das so bleibt.
Ist den Genossen derzeit zum Feiern zumute?
Wir haben jedenfalls Grund zu feiern, denn die SPD kann auf eine stolze Geschichte zurückblicken. Sie hat sich ständig weiterentwickelt. Nur deshalb sind wir eine der ältesten demokratischen Parteien der Welt geworden.
Zur Agenda 2010 wird es nun doch einen Sonderparteitag geben. Was waren die Gründe für diese Entscheidung?
Wir wollten von Anfang an die Mitglieder breit in den Entscheidungsprozess über die Agenda 2010 mit einbeziehen. Dabei wird es auch bleiben. Deshalb haben wir vier Regionalkonferenzen geplant, zu denen wir 15 000 Funktionsträger eingeladen haben. Die finden auch statt. Aber man wird manchmal klüger. Ganz offensichtlich reichen diese Konferenzen nämlich nicht aus, um klar zumachen, dass die SPD die Reformagenda von Gerhard Schröder breit unterstützt. Ich bin mir ganz sicher, dass wir auf dem Reformparteitag eine klare Mehrheit für den Kurs des Kanzlers bekommen werden. Wir Sozialdemokraten haben den Mut zur Veränderung das muss das Signal dieses Parteitages werden. Ansonsten, da dürfen wir uns keine Illusionen machen, haben wir unsere Regierungsfähigkeit auf Jahre hinaus verspielt.
Das Thema Erneuerung bereitet vielen Genossen Bauchschmerzen, aber die Regierung hält unbeirrt an ihrem Reformkurs fest. Warum?
Wir befinden uns in einer der schwierigsten weltwirtschaftlichen Situationen, seit langem. Wir haben 4,6 Millionen Arbeitslose. Unsere langfristigen Haushaltspläne und unsere sozialen Sicherungssysteme sind auf mindestens 1,5 Prozent Wachstum angelegt, wir haben aber unter 1 Prozent. Uns fehlen Einnahmen Gleichzeitig sind bei der Renten- und der Krankenversicherung die Ausgaben immer weiter gestiegen. Wir müssen dafür sorgen, dass Einnahmen und Ausgaben in einem vernünftigen Verhältnis stehen, damit der Sozialstaat auch in Zukunft funktioniert. Das dürfen wir nicht anderen überlassen.
Viele Genossen betrachten die Agenda 2010 als Kurswechsel.
Es handelt sich um einen sozialdemokratischen Kurs, den wir einschlagen. Wir geben zum Beispiel im europäischen Vergleich vermutlich das meiste Geld für Arbeitsmarktförderung und die Finanzierung von Arbeitslosigkeit aus mit dem geringsten Erfolg. Wir müssen die strukturellen Probleme der sozialen Sicherungssysteme und unseres Arbeitsmarktes beseitigen; das Ruder muss jetzt herumgerissen werden, gerade auch im Interesse künftiger Generationen.
Woher soll die Dynamik für neue Arbeitsplätze kommen?
Unter anderem aus den Steuersenkungen für 2004 und 2005. Aus dem Mittelstand und dem Handwerk, weil wir dort bürokratische Vorschriften abschaffen. Die Bundesanstalt für Arbeit wird umgebaut. Statt für 800 Arbeitslose soll ein Vermittler für 75 Arbeitslose zuständig sein. Bei den unter 25-Jährigen fangen wir damit an. Das vom Bund finanzierte Arbeitslosengeld II wird Kommunen mit vielen arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern finanziell entlasten. Die Kommunen können das eingesparte Geld investieren. Das alles schafft Arbeit. Wir dürfen uns mit der seit 20 Jahren steigenden Arbeitslosigkeit nicht abfinden.
Sorgen machen sich zur Zeit besonders die über 50-Jährigen, wenn sie hören, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer gekürzt werden soll. Mit über 55 kriegen sie keinen Job mehr.
Das Arbeitslosengeld wurde bis weit in die 80er-Jahre zwölf Monate gewährt. Geändert wurde es, weil der Finanzminister das Geld für die Arbeitslosenhilfe sparen wollte, die hundertprozentig aus Steuermitteln bezahlt wird. Norbert Blüm hat dann die Versichertenbeiträge herangezogen und die Zahlung des Arbeitslosengeldes verlängert. Herausgekommen ist, dass Unternehmen flächendeckend ältere Beschäftigte entlassen haben, die mit dem Arbeitslosengeld die Zeit bis zum Vorruhestand überbrückt haben. Die Beitragszahler haben so Entlassungen finanziert. Diesen Trend müssen wir umkehren mit einer angemessenen Übergangsfrist. Vor 2006 wird sich an der Bezugsdauer für jemanden, der arbeitslos wird, nichts ändern.
Die Angst ist groß, nach 12 oder 18 Monaten von der Sozialhilfe abhängig zu sein.
Niemand, der arbeiten will und kann, wird von der Sozialhilfe abhängig sein. Diese Menschen werden das Arbeitslosengeld II bekommen und Zugang zu allen Fördermaßnahmen haben. Wenn sie wieder arbeiten will auch die alleinerziehende Mutter, die jetzt noch Sozialhilfe bezieht. Niemand wird alleine gelassen, niemand wird aufgegeben.
Wer Beiträge zurArbeitslosenversicherung bezahlt, der bekommt zunächst Arbeitslosengeld. Nach Ablauf der Bezugsdauer soll es künftig ein Arbeitslosengeld II geben, das auf Sozialhilfeniveau abgesenkt werden soll. Ist das gerecht?
Zum Arbeitslosengeld II gehört ein im Laufe der Zeit allerdings sinkender Zuschuss. Alle sollen mehr als bisher hinzu verdienen können. Und das künftige Arbeitslosengeld II umfasst den Lebensunterhalt des Arbeitslosen, des nichterwerbstätigen Ehegatten und der Kinder sowie die Wohnungskosten. Es sollen Beiträge zu Kranken-, Pflege-und Rentenversicherung gezahltwerden. Auf die Altersvorsorge und das eigene Haus wird nicht wie bei der Sozialhilfe zugegriffen. Die bleiben so wie heute bei der Arbeitslosenhilfe auch unangetastet.
Wo werden bei diesen Reformen die starken Schultern belastet?
Wir haben mehr als 60 Steuerschlupflöcher geschlossen. Dort, wo viele Millionäre wohnen, werden wieder Steuerngezahlt. Wir werden die Körperschaftsbesteuerung verstetigen und dafür sorgen, dass Unternehmen, die große Gewinne machen, wieder Steuern zahlen.
Werden wir in Deutschland einen Niedriglohnsektor bekommen?
Bei diesem Wort wird immer vergessen, dass auch heute viele Menschen für wenig Geld schwer arbeiten. Natürlich sind wir dafür, dass Menschen Arbeit, die für sie möglich ist, annehmen. Deshalb haben wir die Minijobs neugeregelt, damit solche Stellen sich auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer lohnen. Und wir helfen: Wer mehr als 400 Euro verdient, muss seit dem1. April nicht mehr gleich die vollen Arbeitnehmerbeiträge für die Sozialversicherung entrichten. Wie bei der Steuer auch steigt diese Belastung allmählich an. Erst bei 800 Euro wirdder volle Satz fällig. Das hilft den Menschen, die wenig verdienen.
Wieso soll ein Arbeitnehmer glauben, dass weniger Kündigungsschutz gut für ihn ist?
Der Kündigungsschutz ist eine wichtige Errungenschaft des deutschen Sozialstaates, er hat auch eine kulturelle Bedeutung und stellt sicher, dass Arbeitnehmer auf gleicher Augenhöhe mit ihren Arbeitgebern reden. Man muss, um es salopp zu sagen, nicht über die schlechten Witze seines Chefs lachen.
Deshalb wollen wir den Kündigungsschutz nicht verringern, sondern nur handhabbarer machen. Es wird weiterhin bei mehr als fünf Arbeitnehmern Kündigungsschutz geben. Aber diejenigen, die befristet beschäftigt sind, sollen bei der Berechnung der Zahl der Beschäftigten nicht mitzählen. Das ist heute schon bei Auszubildenden der Fall. Wir machen das, damit furchtsame Arbeitgeber, die vier oder fünf Arbeitnehmer beschäftigen, sich so trauen, mehr einzustellen.
Wird es einfacher, eine Abfindung auszuhandeln?
Heute erhalten nur 20 Prozent der betriebsbedingt Gekündigten eine Abfindung. In Zukunft werden es 100 Prozent sein. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Abfindung einführen. Dann muss keiner mehr auf Wiedereinstellung klagen, um eine Abfindung auszuhandeln.
"Alle Forderungen nach mehr Flexibilität werden dort ins Leere laufen, wo dieser Forderung kein neues Versprechen gegenübersteht, auf einen Job, auf soziale Sicherung," hat der Chefredakteur der Berliner Republik kürzlich formuliert.
Wir werden die Menschen und die Mitglieder unserer Partei nicht belügen.Die Regierung verteilt keine Jobs. Natürlich müssen wir deshalb in strukturschwachen Regionen, besonders in Ostdeutschland, Langzeitarbeitslosen Perspektiven in Form des zweiten Arbeitsmarktes geben. Das gilt besonders für junge Arbeitslose. Deshalb haben wir ein Programm für unter 25-Jährige entwickelt. Niemand von ihnen soll ohne einen Arbeitsplatz, einen Ausbildungsplatz, ein Angebot auf eine Berufsvorbereitungsmaßnahme bleiben. Die unter 25-Jährigen werden als erste die Wende in unserer Arbeitsmarktpolitik spüren können.
Steht die SPD wie 1959 vor der Verabschiedung des Godesberger Programms an einem Scheideweg?
Wir haben ein sehr hohes Niveau des Sozialstaats erreicht. Aber wir müssen den Sozialstaat so organisieren, dass alle Menschen Chancen auf Bildung und Arbeit haben. Dann werden Menschen am Ende dieser Legislaturperiode sagen: Die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen waren es, die dafür gesorgt haben, dass die soziale Marktwirtschaft in Deutschland funktioniert, dass wir wettbewerbsfähig sind, und dass die seit über 20 Jahren steigende Arbeitslosigkeit zurückgeht.
Viele Genossen verstehen unter sozialer Gerechtigkeit Umverteilung. Aber materielle Umverteilung verhindert nicht Benachteiligung. Bestes Beispiel ist das Bildungssystem.
Es ist ein Skandal, dass so viele Menschen bei uns die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, in die Menschen zu investieren, sie immer wieder zu aktivieren, damit sie auf den Arbeitsmärkten der Zukunft Chancen haben.
Also mehr Geld in Bildung, Ausbildung, Forschung, Entwicklung als Grundlage für zukünftigen Wohlstand?
Bildung entscheidet. Deshalb muss hier ein Schwerpunkt sozialdemokratischer Politik liegen. Wir steigern den Etat für Forschung, Wissenschaft undEntwicklung. Wir tun das Gleiche, wo wir in landespolitischer Verantwortungstehen.
Was bedeutet für dich Gerechtigkeit in der Politik?
Dass alle Menschen immer wieder eine Chance bekommen, dass niemand allein gelassen wird und dass niemand fürchten muss, in Armut abzustürzen. Dabei gilt: Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben, selber etwas beizutragen und die Chancen zu nutzen, die, ihnen geboten werden.
Noch in diesem Jahr soll der Text für ein neues Grundsatzprogramm vorliegen. Wie geht die Arbeit voran?
Die Arbeit läuft gut. Wir wollen in diesem Jahr einen Text erstellen. Im Jahre 2004 soll das neue Grundsatzprogramm beschlossen werden. In der gesamten Partei wird sorgfältig über das Programm diskutiert werden. Darauf freuen wir uns.
Das Interview führte Susanne Dohrn.