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04.11.2011

Europa-Kolleg: Europa und die Schuldenkrise Herausforderung für Hamburg

Europa-Kolleg: Europa und die Schuldenkrise Herausforderung für Hamburg

 

Sehr geehrter Herr Dr. Lüthje,

sehr geehrter Herr Prof. Hatje,

sehr geehrte Vertreter des Konsularischen Korps,

sehr geehrte Damen und Herren,


über den Titel meines heutigen Beitrags ist wie es sich gehört intensiv nachgedacht worden. Es gab Alternativen, zum Beispiel: Vom Exekutiv-Föderalismus zur demokratischen Verrechtlichung der Europäischen Union. Das hätte angemessen akademisch geklungen. Außerdem beschreibt es einen Weg, den wir in der Tat finden müssen, und besser früher als später.

Nur: Wo entlang führt dieser Weg, wie lang und gewunden wird er noch sein? In der augenblicklichen Situation wissen wir ja nicht einmal, wer ihn überhaupt mitgehen will.


In seiner bisherigen Geschichte hatte Europa niemals eine klare Road Map, der man verlässlich den künftigen Entwicklungspfad hätte entnehmen können. Natürlich gibt es wichtige Marksteine der Entwicklung. Wie diese aber gesetzt und wann sie erreicht wurden, war immer auch eine Frage der politischen Opportunität und der ganz praktischen Machbarkeit.

 

Bei allem rhetorisch überschwänglichen Überschuss ist Europa eine zutiefst pragmatische Angelegenheit. Ihr lag ursprünglich die nüchterne Erkenntnis zugrunde, dass Länder, die eng zusammenarbeiten, keinen Krieg mehr führen.

 


Lieber Herr Lüthje,

 

Ihr Vorgänger als Universitätspräsident, Prof. Fischer-Appelt, hat vor kurzer Zeit in einer Rede auf die beiden europäischen Geschichten verwiesen, die sich aus daraus ergeben, dass die europäischen Völker ihre Feindseligkeiten überwunden haben:

 

erstens auf das Narrativ von der Versöhnung der europäischen Staaten nach dem 2. Weltkrieg;zweitens auf die Überwindung der Teilung Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der anschließenden Erweiterung der Europäischen Union.

 

Daraus ist mittlerweile die Erkenntnis gewachsen, dass entgrenzte Märkte auch eine grenzüberschreitend handlungsfähige und möglichst demokratische Politik brauchen.

Diese beiden Quellen Europas das Friedensprojekt und das Demokratieprojekt sind auch heute nicht versiegt. Auch wenn es manchmal einen anderen Anschein hat.

 

Sie speisen vielmehr ganz pragmatisch das mittlerweile sehr reale Projekt des Euro, der gleichermaßen die Vertiefung des Handels und der politischen Kooperation vorantreiben soll.

Er bildet damit mechanistisch einen Hebel ich weiß, ein wahrlich schwieriges Wort in diesen Tagen. Aber er bildet tatsächlich einen Hebel, um über die ökonomische Verflochtenheit zur politischen Kooperation und von dort zur gesellschaftlichen Identifikation zu kommen.

 

Denn vergessen wir nicht: Der Euro ist nicht nur eine europäische Währung. Er ist nicht bloß ein Symbol. Er ist keine abstrakte europäische Erfindung, die derzeit in Schwierigkeiten steckt, sondern er ist unsere Währung.

 

Der Euro ist nach dem Vorbild der D-Mark geschaffen worden. Er sollte nicht bloß ihren ökonomischen, sondern auch ihren politischen Erfolg wiederholen.

 

Wir täten gut daran, ein wenig des früher viel beschworenen D-Mark-Patriotismus heute auf den Euro zu übertragen, um gemeinsame politische Identität und damit kraftvolles gemeinsames Handeln zu ermöglichen.

 

In seinem Buch Der Europäische Traum hat Jeremy Rifkin bereits 2004 festgestellt: In einer so dichten, interdependenten Welt können Nationalstaaten allein nicht länger bestehen. Wie transnationale Unternehmen finden sie sich allmählich in kooperativen Netzwerken zusammen, um den Realitäten einer globalisierten Hochrisiko-Gesellschaft gerecht zu werden. Die Europäische Union ist das am weitesten fortgeschrittene Beispiel für neue, transnationale Regierungsmodelle, und aus diesem Grund blickt die ganze Welt auf ihre Erfolge und Fehlschläge.

 

Vor dem Hintergrund dieser großen und machtvollen europäischen Erzählstränge ist es ein leichtes festzustellen, dass Europa und die Schuldenkrise natürlich auch uns hier in der europäischen Handelsmetropole Hamburg etwas angehen.

 

 

Sehr geehrter Herr Dr. Lüthje,

 

war das nun ein angemessener Einstieg in einen Vortrag zu Ehren des Präsidenten des Europakollegs? Ich hoffe ja. Und vergesse nicht den aktuellen genauer gesagt: vier Wochen zurückliegenden Anlass:

 

Heute wollen wir gemeinsam Ihren 70. Geburtstag hier im Europakolleg feiern. Ich freue mich, dass ich Ihnen, Herr Dr. Lüthje, persönlich meine herzlichen Glückwünsche übermitteln kann.

Sie waren von 1991 bis 2004 Präsident der Universität Hamburg und wurden ab 2006 Präsident des Europakollegs.

Als Jurist haben Sie die Entwicklung des deutschen Hochschulrechts etwa in den Bereichen Wissenschaftsfreiheit oder Numerus Clausus nachhaltig geprägt. Aber auch im Hochschulmanagement und in der Hochschulpolitik haben Sie sich durch zahlreiche Reformvorhaben hervorgetan.

 

Meine Damen und Herren,

 

bereits als Kanzler der Universität Oldenburg hat Herr Dr. Lüthje von 1973 bis 1991 die Entwicklung dieser neugegründeten Hochschule mitgestaltet. Mit seiner Wahl zum Präsidenten der Universität Hamburg übernahm er 1991 die Leitung einer der größten Universitäten Deutschlands und Nordeuropas derjenigen Universität, die die meisten von Ihnen aus eigener Anschauung gut kennen.

Während seiner Amtszeit hat Dr. Lüthje die Leistungsfähigkeit der Universität trotz schwieriger äußerer Rahmenbedingungen entscheidend und vor allem mit klaren strategischen Vorstellungen steigern können. Ich möchte exemplarisch an das erfolgreiche Projekt Universitätsentwicklung (Pro Uni) zur leitbildorientierten Steuerung erinnern.

Mit der systematischen Einwerbung von etwa 100 Millionen Euro an privaten finanziellen Zuwendungen für die Universität Hamburg, darunter einem gestifteten Neubau im Wert von etwa 35 Millionen Euro, hat Dr. Lüthje in Hamburg eine Kultur privater Wissenschaftsförderung aufgebaut,  die er bis heute intensiv pflegt.

 

Lieber Herr Dr. Lüthje,

 

Für Ihren nachhaltigen Einsatz für die Hamburger Hochschullandschaft möchte ich Ihnen herzlich danken.

 

Das tue ich hiermit, wohl wissend, dass das allein nicht reicht. Denn auch der Senat ist selbst für die mittel- und langfristige Zukunft der Universität Hamburg verantwortlich. Darauf haben Sie bei wiederholten Anlässen nicht versäumt hinzuweisen mit Recht.

Wir sind uns über die zentrale Rolle der Universität für die zukünftige Entwicklung der Stadt einig. Der neue Senat hat innerhalb weniger Monate zentrale Weichenstellungen vorgenommen. Das gilt einerseits für die räumliche Entwicklung des gesamten Campus an der Bundesstraße; es gilt andererseits vielleicht noch wichtiger für den Hochschulvertrag.

Der bietet der Universität trotz der nicht einfachen Situation des städtischen Gesamthaushalts eine verlässliche Wachstumsperspektive über einen durchaus langen Zeitraum bis 2020.

 


Herr Dr. Lüthje,

 

Sie hatten sich bereits als Präsident der Universität Hamburg immer wieder für deren Internationalisierung eingesetzt etwa durch die Gründung eines International Center for Graduate Studies, die Einführung international kompatibler gestufter Studienabschlüsse oder durch Ihr Engagement in der Europäischen Rektorenkonferenz. Daher war es angemessen, dass Sie nach Ende Ihrer Präsidentschaft das Ehrenamt des Präsidenten der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg übernommen haben.

Diese schon traditionsreiche Hamburger Einrichtung 2013 werden wir ihr 60. Jubiläum begehen können ist heute ein wichtiges interdisziplinäres und internationales Zentrum der Europawissenschaften. Mit dem Institute for European Integration und dem Masterstudiengang European and European Legal Studies leistet sie einen wichtigen Beitrag zu Forschung und Lehre in einem Arbeitsfeld, das für Hamburg von größter Bedeutung ist der europäischen Integration. Die man an dieser Stelle daran erkennt, dass Hamburg Studierende aus ganz Europa hat.

 

 

Meine Damen und Herren,

 

warum von größter Bedeutung? Und worin besteht jetzt die Herausforderung?

Hamburg hat bislang besonders von der europäischen Integration profitiert:

  • Der EU-Binnenmarkt spielt für Hamburg als Hafen- und Handelsmetropole eine zentrale Rolle.
  • Die EU-Währungsunion ermöglicht es Hamburger Unternehmen, im gesamten Euro-Raum Geschäfte ohne das Risiko von Wechselkursschwankungen zu tätigen.
  • Die Osterweiterung der Union 2004 hat es Hamburg ermöglicht, sein traditionelles Hinterland erneut zu erschließen und den ehemals starken Handel mit Mittel- und Osteuropa wieder aufzunehmen.
  • Die Handelspolitik der EU bestimmt die Rahmenbedingungen, unter denen sich hiesige Unternehmen am Welthandel beteiligen.

 

Nicht zuletzt leisten EU-Programme wie der Europäische Sozialfonds, der Europäische Fonds für Regionalentwicklung oder das Forschungsrahmenprogramm einen wichtigen Beitrag zur positiven Entwicklung unserer Stadt.

 

 

Meine Damen und Herren,

 

nicht nur diese Schlaglichter zeigen, dass die Bewältigung der ernsten Krise, in der sich die Europäische Union befindet, für Hamburg von größter Bedeutung ist. In Europa sehen wir, wie eine Finanzkrise schnell zu einer Wirtschaftskrise werden kann, welche eine Schuldenkrise nach sich zieht, die ganze Gesellschaften in soziale Probleme stürzen und am Ende die Demokratie in Bedrängnis bringen kann.

 

Das grundsätzliche Problem, das hinter dieser Verknüpfung von Krisen liegt, hat Jürgen Habermas bereits in seinem Essay Ach Europa zutreffend beschrieben. Er skizziert die Gefahr, dass der Sozialstaat im Zuge der Globalisierung die Fähigkeit verliert, die Mittel zusammen zu bringen, die er braucht, um den Lebensstandard seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Für ihn gibt es nur einen Ausweg aus dieser Situation: die Zurückgewinnung der politischen Gestaltungskraft auf supranationaler Ebene. Sonst überließen wir das Schicksal des europäischen Gesellschaftsmodells fremden Händen. Zitatende.

Auch vor diesem Hintergrund sind Ländern wie Griechenland die Staatsschulden entglitten. Das nämlich ist der tieferliegende und eigentlich gefährliche Kern der aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten: Sie treffen politische Systeme, in denen sich Regierungen übernommen und dann zu spät gegengesteuert haben betäubt vom süßen Gift des Schuldenmachens. Jetzt folgen der Kater und die Erkenntnis, dass sie handlungsunfähig dastehen und gezwungen sind, sich dem Diktat anderer zu unterwerfen.

 

Länder, denen die Staatsschulden entglitten sind, spüren heute einen fiskalischen Druck, der ihnen buchstäblich den gestalterischen Atem raubt. Ihnen fehlen die Spielräume, um demokratisch gewünschte Projekte umzusetzen und damit die Bedürfnisse ihrer Bürgerinnen und Bürger zu befriedigen.

 

Die harten Konsolidierungsanstrengungen Griechenlands sind dann sinnvoll, wenn sie mit klugen europäischen Initiativen korrespondieren. Denn bevor die Schuldenberge nicht abgebaut sind, werden die betroffenen Staaten ihre politischen Handlungsräume nicht zurückgewinnen können. Erst im Verbund mit dieser strukturellen Sanierung können auch konjunkturelle Impulse Wirkung entfalten.

 

Am 21. Juli 2011 haben die Staats- und Regierungschefs den Weg für die Aufstockung der European Financial Stability Facility (EFSF), des vorläufigen Europäischen Stabilitätsfonds freigemacht. Im Anschluss haben Bundestag und Bundesrat im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die rasche Umsetzung ermöglicht. Hierdurch wurde es den Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfeltreffen vom 27. Oktober 2011 möglich, ein umfassendes Paket zu schnüren, das künftig die Handlungsfähigkeit Europas in der Krise sichern soll. Dazu gehören:

 

  • die Entschuldung Griechenlands sowohl durch entsprechende Sparmaßnahmen als auch durch einen freiwilligen Schuldenschnitt,
  • die Effektivierung des europäischen Stabilitätsmechanismus,
  • die Sicherung der Banken durch eine höhere Eigenkapitalquote (9 Prozent),
  • bessere Haushaltsdisziplin und stärkere  wirtschafts- und steuerpolitische Koordinierung und Überwachung.

 

Zu dem Paket gehören auch neue und verbesserte Mechanismen der Zusammenarbeit im Rat und die Bescheibung eines Pfades hin zu einer begrenzten EU-Vertragsänderung.

 

Aus meiner Sicht ist das ein vernünftiger und plausibler Weg, denn niemand weiß wirklich, was geschehen würde, wenn der griechische Staat in seiner Staatsschuldenkrise sich selbst überlassen würde. Niemand könnte garantieren, dass das nicht unmittelbar Folgen zum Beispiel für Italien, Spanien, Portugal oder Irland hätte.

 

Zwar spricht manches dafür, dass diese Staaten auch in Zukunft in der Lage sein werden, ihre Staatsschulden zu refinanzieren. Ob das aber auch noch stimmte, wenn die griechischen Restrukturierungsbemühungen scheiterten, kann keiner sicher vorhersagen. Ob in solch einem Fall alle Käufer von Staatsanleihen ausreichendes Vertrauen in diese Volkswirtschaften behalten ist nicht zu prognostizieren. Deshalb wäre es sehr unverantwortlich, es einfach darauf ankommen zu lassen.

 

Auch im aktuellen Fall drohte eine Kettenreaktion, die weder zu kalkulieren noch zu beherrschen wäre. Wenn nämlich nicht nur Griechenland mit seinen rund 2,5 Prozent Anteil am Sozialprodukt des Euro-Raums in Schwierigkeiten wäre, sondern weitere Euro-Länder eine dramatische wirtschaftliche Krise durchzustehen hätten, weil die Staatsschulden nicht refinanziert werden können, hätte das unmittelbare Folgen nicht nur für die Entwicklung der europäischen Wirtschaft. Es würde die Weltwirtschaft ins Trudeln bringen.

 

Eines ist ganz klar, Deutschland als exportstarke und europäisch verflochtene Volkswirtschaft und damit auch Hamburg als wichtiger Wirtschafts- und Handelsstandort wären davon betroffen und damit auch die Sicherheit von Arbeitsplätzen und Unternehmen. Deshalb geht die aktuelle Situation uns alle an. Und deswegen erfordern die Zeiten sorgfältiges und unaufgeregtes politisches Handeln.

 

Wer suggeriert, dass ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone wieder in selige alte Zeiten zurückführte, der täuscht die Bürgerinnen und Bürger. Die aktuelle Schuldenkrise ändert die europäischen Geschäftsbedingungen grundlegend und unumkehrbar. Nichts wird sein, wie es war.

Es gibt keine einfachen Lösungen in der jetzigen Situation. Wir müssen neue Regularien für Europa entwickeln gemeinsam mit den derzeit unter Druck stehenden Ländern. Populistische hausgemachte Turbulenzen können sich Deutschland und Europa dabei nicht leisten.

 

 

Meine Damen und Herren,

 

an Konzepten und Schlagworten mangelt es nicht: Six-Pack, Stabilisierung, Wirtschaftsregierung, Regulierung des Finanzmarktes.

Wichtig ist zunächst einmal zu erkennen, dass es nicht reicht, Krisen nur gut zu managen, nachdem sie entstanden sind.

 

Vor der Einführung des Euro wurde heftig darüber gestritten, ob unsere gemeinsame Währung den Aufbau einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU krönen oder wie eine Lokomotive die Einigung auf eine Wirtschafts- und Finanzpolitik nach sich ziehen sollte. Die Entscheidung fiel zugunsten der so genannten Lokomotivtheorie aus. Im Rückblick kommt es mir gelegentlich so vor, ob die Euro-Lokomotive zwar mit Volldampf losgefahren ist, die Waggons der Wirtschafts- und Finanzpolitik aber noch auf dem Gleis stehen. Frage: war das ein Problem der Kupplungstechnik? War die Ladung zu schwer? Hatte die Lok zuwenig Kesseldruck? Oder haben die oben im Stellwerk die Signale auf Grün gestellt, ohne zu beachten, dass noch nicht alle Hemmschuhe entfernt waren?

Wenn wir dem Zug wieder einen vernünftigen, einhaltbaren Fahrplan vorgeben wollen, müssen wir zu klaren gemeinsamen Projekten kommen, mit denen wir die europäische Wirtschafts- und Finanzordnung dauerhaft stabilisieren. Ich will die drei aus meiner Sicht wichtigsten Punkte kurz skizzieren:

 

Erstens: Wir brauchen in der Euro-Zone ein gemeinsames Verständnis für den Umgang mit den öffentlichen Haushalten. Das ist die Grundlage der Solidarität, die sich jetzt im EFSF und später im ESM ausdrücken soll.

 

Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich ein entschiedener Anhänger der Schuldenbremse des Grundgesetzes bin.

 

Wir müssen auch in Europa darüber einig werden, dass die historische und über Jahrzehnte gewachsene Staatsverschuldung nicht mehr weiter anwachsen darf. Deshalb ist es richtig, wenn jetzt auch in anderen Ländern über eine konstitutionelle Schuldenbremse und eine daran geknüpfte Verpflichtung zu zukünftig ausgeglichenen Budgets geredet wird. Daraus sollte ein gemeinsames Verständnis über die Haushaltspolitik der verschiedenen Länder wachsen.

 

Dieser Konsens ist auch erreichbar, leichter erreichbar jedenfalls als ein Konsens über alle Fragen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.

 

Wenn wir einen solchen Konsens über ausgeglichene Budgets als Verfassungsprinzip haben, dann ist der Spielraum für unterschiedliche politische Strategien innerhalb der Euro-Zone da. Viele Wege führen zu einem gesunden Haushalt.

 

Letztendlich müssen sich die einzelnen Länder demokratisch selbst entscheiden, ob sie für zusätzliche Ausgaben höhere Steuern verlangen wollen oder wegen geringerer Steuern geringere Ausgaben akzeptieren.

 

Diese demokratischen Entscheidungen werden aber überhaupt erst möglich, wenn das Maßhalten beim Schuldenmachen allgemein akzeptiert ist.

 

Zweitens: Wir brauchen eine Strategie, wie die Europäische Union die Einhaltung der Schuldenbremse in den einzelnen Mitgliedstaaten im Zweifel durchsetzen kann.

 

Das kann angesichts der Vielfalt Europas nicht dadurch geschehen, dass alle Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens einheitlich geregelt werden. Andererseits reicht die Koordinierung in gemeinsamen Treffen zu Wirtschaftsfragen auch nicht aus.

 

Allerdings: Was eine europäische Wirtschaftsregierung können soll und was nicht, ist noch längst nicht klar. Mit der richtigen Idee verfolgen nicht Wenige auch problematische Konzepte. Vorstellungen, wonach eine solche Wirtschaftsregierung etwa auch die Möglichkeit haben sollte, Exportquoten für einzelne Länder festzulegen, sind jedenfalls gefährlicher Unsinn.

Und in dieser Hinsicht habe ich gegenüber den EU-Institutionen deutlich gemacht, dass hier das sogenannte Six-Pack das ansonsten viele gute Bestandteile enthält auf starke Bedenken trifft.

 

Im Stabilitäts- und Wachstumspakt gibt es auch konkrete Vorschriften, die sich bislang als nicht handhabbar erwiesen haben. Wir brauchen vor allem intelligentere Reaktionsmöglichkeiten im Krisenfall. Dazu gehört, dass wir insbesondere die bisherige Sanktionslogik aufgeben. Es ist nicht vernünftig, einem Land das ohnehin schon Budgetschwierigkeiten hat, auch noch zusätzliche Strafzahlungen vorzuschreiben, wie es heute der Fall ist.

 

Vielmehr sollte der Kommission künftig das Recht eingeräumt werden, den Ländern, die gegen die Stabilitätskriterien und die Zielsetzung eines ausgeglichenen Budgets verstoßen, verbindliche Regeln hinsichtlich ihrer zu erhebenden Steuern zu setzen. Das ist die notwendige Konsequenz einer veränderten Finanzverfassung in der EU. Eine entsprechende Änderung der europäischen Verträge hätte meines Erachtens großen Sinn.

 

Ausgabenkürzungen sind Sache der nationalen Parlamente. Die kann man nicht vorschreiben. Das wäre ein Fehler. Aber für ausgeglichene Budgets muss die Europäische Union sorgen können, wenn die Staaten das nicht schaffen.

 

Die einzelnen Staaten können dann ja auch dadurch reagieren, dass sie ihre Ausgaben reduzieren, statt die Steuern zu erhöhen.

 

Diese zusätzliche Kompetenz der EU würde die Glaubwürdigkeit des gemeinsamen europäischen Ziels ausbalancierter Budgets erheblich erhöhen. Sie würde zugleich keinen zu weit reichenden Eingriff in die nationale Souveränität in ganz existenziellen Fragen darstellen.

Drittens: Wir brauchen weitere Fortschritte in der Koordinierung der Finanzpolitik in Europa, zum Beispiel durch Verabredungen über gemeinsame Bemessungsgrundlagen oder durch gemeinsame regulatorische Initiativen.

 

Vielleicht sollten einige Mitgliedsstaaten vorangehen. Die Absicht des französischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin, gemeinsame Grundlagen für die Besteuerung von Körperschaften zu entwickeln, ist ein solcher Schritt. Ich bin überzeugt, dass sich kluge Lösungen durchsetzen würden. Und es gibt bereits Wege:

 

Der EU-Vertrag sieht ausdrücklich die Möglichkeit für einzelne Mitgliedstaaten vor, verstärkt zusammenzuarbeiten. Dazu müssen mindestens neun Länder zusammenkommen, im Idealfall natürlich alle Mitglieder der Euro-Zone. Sie müssten sich auf Vorschlag der Kommission eine Ermächtigung durch den Rat holen und könnten dann vorexerzieren, wie der künftige Pfad gemeinsamer Rechtsetzung aussehen könnte. Das ist bislang noch kaum ausprobiert worden, weil es viele es für recht mühsam halten. Ich bin mir aber sicher, dass solche Pfadfinder-Projekte keine Abkehr von der gemeinsamen Europa-Idee bringen werden, sondern neue Impulse und eine dynamischere Entwicklung.

 

Hinzu kommt auf europäischer Ebene die notwendige Debatte über die Regulierung der Finanzmärkte. Nicht erst seit 2008 wissen wir, dass den internationalen Finanzströmen, die kulturelle, soziale und auch politische Einbettung fehlt. Ohne diese Rahmenbedingungen aber verselbstständigen sich Marktmechanismen und zielen nicht mehr auf gesellschaftliche Mehrwerte, sondern auf bloße, quasi autologische Erfüllung ihres Zwecks.

 

Wer eine neue Prosperitätskonstellation in Europa schaffen will, der muss auch über die Instrumente reden, die die Finanzmärkte im Rahmen halten. Die viel beschworene Finanztransaktionssteuer ist da nur die Spitze des regulatorischen Eisbergs. Wir brauchen insgesamt mehr kluge financial governance in Deutschland und in Europa.

 

Dazu gehört auch, dass wir die Selbstregulierungskräfte der Finanzmärkte als unverzichtbares Korrektiv nutzen. Wir beklagen uns heute zwar häufig und zu Recht darüber, dass Ratingagenturen einzelne Staaten schlecht oder verzerrt bewerten. Das darf aber nicht zu dem Schluss führen, dass solche Bewertungen an sich nicht notwendig wären. Zurzeit lässt sich mit Spreads gut arbeiten, weil sie Risiken in der Bonität klar benennen und für Transparenz auf den Finanzmärkten sorgen.

 


Meine Damen und Herren,

 

die gegenwärtige Krise Europas ist auch eine Krise der europäischen Identität. Wie können wir es erreichen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit Europa identifizieren? Die Stiftung von Identität ist vor allem ein narrativer Prozess.

Das ist keine Frage allein eines klugen Marketings. Es geht um eine Geschichte, die viel tiefer verankert sein muss. Ob die eigentlich grandiose Europäische Idee nicht schleichend degeneriere, nämlich zur Werbekampagne für einen grenzenlosen Jahrmarkt, wurde übrigens schon in den 1960er Jahren diskutiert, im Deutsch- oder Gemeinschaftskundeunterricht an Schulen. Da wusste man noch gar nicht, wie viele Schrauben an der europäischen Achterbahn locker waren und dass es am Glücksrad mangels Masse gar keine Gewinne für jeden gibt. Dass aber mancher seriös tuende Herr mit Zylinder in Wirklichkeit ein Hütchenspieler ist, wenn Sie mir diese spitzen Metaphern gestatten.

 

Es gibt aber durchaus Möglichkeiten, heute ein neues Narrativ für Europa zu begründen.

Protagonist könnte ein Europa sein, das auf Schulden zulasten kommender Generationen verzichtete, mit größerer demokratischer Legitimation ausgestattet wäre und als politische Union weiterentwickelt werden könnte.

Prof. Fischer-Apelt stellt zurecht fest: Heute ist das Narrativ von der europäischen Schuldenkrise präsent. In jedem Fall ist es dramatisch; unklar ob mit glücklichem oder tragischem Ausgang. Es sind große Anstrengungen erforderlich, um eine glückliche Wendung dieses Narrativs zu erreichen.

In einem Essay Zur Verfassung Europas, der Mitte November erscheinen wird, formuliert der Sozialphilosoph Jürgen Habermas ebenfalls ein neues Narrativ. Er sieht darin eine Antwort darauf, dass in der Debatte zur Lösung der Krise die politische Dimension Europas aus den Augen verloren worden sei. Falsche politische Begriffe hätten in der gegenwärtigen Diskussion den Blick auf die zivilisierende Kraft der demokratischen Verrechtlichung in der EU versperrt. Das Narrativ, das Habermas vorschlägt, geht allerdings deutlich weiter: Die Europäische Union soll als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begriffen werden.

Der Autor kritisiert die Vorgehensweise der Mitgliedstaaten, bei der rechtlich unverbindlich Verabredungen im Kreise der Regierungschefs getroffen wurden, harten Worten:

 

In diesen Vorstellungen eines Exekutivföderalismus der besonderen Art spiegelt sich die Scheu der politischen Eliten, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmenden argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen.


An anderer Stelle sieht er die konkrete Gefahr, dass dieser Exekutivföderalismus zu einer dem Geist des Lissabon-Vertrags zuwiderlaufenden intergouvernementalen Herrschaft des Europäischen Rates werde. Stattdessen fordert Habermas die Verrechtlichung der Europäischen Union und damit ihre Umpolung auf verlässlich kodifizierte Prinzipien voranzutreiben.

 

Die momentane Situation bietet eine gute Möglichkeit, in einen Meinungskampf einzutreten, der ja nicht hemdsärmelig lärmen muss. Allerdings ist der Grat, auf dem sich der Diskurs bewegen muss, ein schmaler: Einerseits muss es innerhalb einer Regierung oder unter Regierungen möglich sein, einen internen Prozess zur Meinungsbildung durchzuführen. Dies ist besonders bei den sensiblen Reaktionen der Finanzmärkte besonders wichtig. Andererseits müssen alle Formen eines plumpen Populismus vermieden werden. Und welcher Populismus ist nicht plump?

 

 

Sehr geehrter Herr Dr. Lüthje,
meine Damen und Herren,

 

zumindest insoweit finde ich es einfach, Habermas zu folgen: Auch ich finde, dass der immer noch großartige Gedanke Europa konsequent weitergeführt werden muss, und das auch in Taten. Spüren kann man auch heute, was Europa mal bedeutet hat und weiterhin bedeutet, wenn man richtig hinspürt.

Neulich erzählte mir jemand, er habe im Sommer aus einem Fenster von Thomas Manns früherem Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung die Elche beim Baden im Haff beobachtet und gedacht: Die hat es noch nie gekümmert, ob sie litauische oder preußische Elche waren. Sie waren überall rund um die Ostsee zuhause. Sie waren uns voraus, gedanklich und real. Thomas Mann übrigens auch ein bisschen. Aber jetzt kann es auch uns egal sein, ob wir litauische, deutsche, polnische oder zypriotische Touristen sind. Wir sind Europäer und durch keinen Eisernen Vorhang mehr getrennt.

 

 

Meine Damen und Herren,

 

an der Geschichte ist etwas dran. Lassen Sie uns heute das Europakolleg nicht verlassen, ohne ein bisschen dem nachzuspüren, was uns Europa schon an Freiheit gebracht hat.

Ihnen, Herr Dr. Lüthje, wünsche ich ein weiterhin erfolgreiches und zufrieden machendes Mitwirken an Europa.

 

Vielen Dank.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.