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13.09.2013

Festakt: 180 Jahre Rauhes Haus

 

 

 

Sehr geehrter Herr Pastor,
sehr geehrte Frau Bischöfin ,
sehr geehrter Herr Prof. Göring,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler,

die reetgedeckte Bauernkate in Horn, in die Johann Hinrich Wichern am 31. Oktober 1833 einzog, bot Platz für ihn, seine Mutter, eine Schwester und zwölf Jungen. Unter Platz verstand man damals nicht, dass jeder sein eigenes Zimmer hatte.

Das Haus, in dem wir heute das 180. Jubiläum des Rauhen Hauses feiern, beherbergt ein breit verzweigtes, modernes Sozialunternehmen, das unzählige hochqualifizierte Angebote für Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, Hochbetagte sowie psychisch Erkrankte bereitstellt.

Vor 180 Jahren hätte sich niemand einen so umfassenden Sozialdienst vorstellen können. War es auch nicht der Staat, der diese Rezepte entwickelte.

Das Rauhe Haus ist unverzichtbar. Hier stehen allein in ambulanten wie stationären Wohnformen 400 Plätze für Männer und Frauen mit Behinderung zur Verfügung. Das Haus am Weinberg bietet einen geschützten Lebensraum für hochbetagte und demente Personen. In der Wichern-Schule, der Evangelischen Berufsschule für Altenpflege und der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie bereiten sich fast 2.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf einen Schul- oder Berufsabschluss vor.

Noch drei Zahlen: Mehr als 620 Diakone und Diakoninnen wurden für das lebenslange Amt eingesegnet. Das Rauhe Haus beschäftigt mehr als 1.100 Mitarbeiter und wirtschaftet mit einem Jahresbudget von über 60 Millionen Euro. Damit leistet es einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Wohlergehen Hamburgs.

Meine Damen und Herren,
180 Jahre ist es her, seit Wichern in seinem ersten Rettungshaus den Grundstein für die moderne Jugendhilfe legte. Allein bis 1855 entstanden hundert weitere Einrichtungen nach dem Vorbild des Rauhen Hauses. Aber nicht nur für den Gründer und seine Mitstreiter waren es turbulente Jahre. Das Volk lechzte nach Demokratie und ächzte unter harten Lebensbedingungen, jedenfalls taten das die meisten. Der Reformdruck wie man heute sagen würde war enorm.

Er gipfelte im Revolutionsjahr 1848: Im Mai traf sich die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche; im September schlossen sich 32 Arbeitervereine zur Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung zusammen - einer Vorläuferin der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Im selben Monat hielt Johann Hinrich Wichern auf dem Ersten Evangelischen Kirchentag in Wittenberg seine flammende Rede über die rettende Liebe. Damit begründete er die Innere Mission, die heute Diakonie heißt.

Aufregende Zeiten waren das. Und interessant finde ich, dass die Brockhaus Real-Enzyklopädie gerade zwei Jahre vorher, 1846, einen neuen Begriff aufgenommen hatte: den Pauperismus. Der Brockhaus definierte diesen als, ich zitiere:
neuerfundenen Ausdruck für eine höchst bedeutsame und unheilvolle Erscheinung, die man in Deutschland durch die Worte Massenarmut und Armentum wiederzugeben versucht hat. Und weiter heißt es: Der Pauperismus ist da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch die angestrengteste Arbeit höchstens das notdürftige Auskommen verdienen kann.

Das neue lateinische Wort hatte auch keine andere Bedeutung als dasselbe auf Deutsch. Davon abgesehen, mag uns der letzte Satz ein wenig an unsere heutige sehr wichtige Diskussion um die Mindestlöhne erinnern. Doch wir sollten keine falschen Vergleiche ziehen: Was heute Standard ist medizinische Versorgung, Schulbildung und Alterssicherung für alle, ein tragfähiges soziales Netz wagte niemand auch nur zu träumen.
 
Von den hygienischen Verhältnissen, die auch im weltläufigen, geschäftigen Hamburg des 19. Jahrhunderts herrschten, ganz zu schweigen.

Trotzdem müssen wir uns auch im heutigen Hamburg mit dem Thema Armut befassen. Mit Kindern, die nicht regelmäßig ein warmes Essen bekommen, die keinen Schulabschluss machen, die in Sucht und Kriminalität abrutschen.

Wie fragil auch eine solide bürgerliche Existenz sein konnte, und kann, hat Wichern selbst erlebt, als sein Vater starb. Er selbst war 15, als er das Gymnasium verlassen musste, um den Lebensunterhalt für sich und seine sechs Geschwister zu verdienen. Sein Theologiestudium war später nur möglich, weil Freunde es genauso wie das nachgeholte Abitur finanzierten.

Meine Damen und Herren,
mich hat überrascht, wie komplex die Vorstellung davon, was Menschen wirklich hilft, bereits bei Wichern war. Dass Hilfe, sofern sie sich als Almosen versteht, höchst ambivalent ist; dass sie Menschen abhängig machen und sogar entmündigen kann, das hat der Begründer der Diakonie vor 180 Jahren schon deutlich gesehen.

Wichern war ein Erneuerer, der sich an den Bürgerrechten- und pflichten, durch die Aufklärung geprägt, ebenso orientierte wie an christlichen Werten. Dass für ihn beides zentrale Werte waren die christlich geprägte fürsorgliche Liebe ebenso wie die Freiheit , das  macht Johann Heinrich Wichern für mich zu einer herausragenden Persönlichkeit.

Dass Bildung und Ausbildung sogar Straßenkindern die Chance auf ein selbstständiges Leben und bescheidenen sozialen Aufstieg eröffnet - das war einer seiner Grundgedanken und ein zentraler.

Es ist ja auch ein Grundgedanke der Diakonie, dieser so wichtigen Stimme für soziale Verantwortung in der Gesellschaft. Und man kann getrost bis auf Martin Luther zurückgehen, der gepredigt hat, dass es unserem Herrn Gott gedient heiße, wenn man im Beruf treulich und fleißig dient.

Das, was wir heute Arbeitsethos nennen, das sich-anstrengen-können-und-wollen, ist die Grundlage für  
Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl derer, die Arbeit leisten.

Über Arbeit vermitteln sich Respekt und Selbstwertgefühl, Stolz und Würde. Die zu haben, sie haben zu können, ist die Grundlage für ein zufrieden machendes Leben aus eigener Kraft und das wiederum ist letzten Endes die Grundlage für das Funktionieren unseres sozialen Gemeinwesens. Es hängt eins am anderen, und der Sozialstaat hat seine Aufgaben. Er organisiert das solidarische Miteinander:

indem er, zum einen, Recht setzt und das Einhalten verbindlicher Regeln überwacht;

Indem er, zum anderen, dazu beiträgt, dass alle Bürgerinnen und Bürger Ihre Chance auf Arbeit, Selbstwertgefühl, selbständiges Leben auch ergreifen können. Und wollen.
Sozialstaat und freie Wohlfahrtspflege kooperieren nirgendwo in Europa so wie in Deutschland. Das ist eine unserer größten und wichtigsten Stärken und Johann Hinrich Wichern kann mit Recht ein Begründer dessen genannt werden.

Freiheit hieß in den Anfangsjahren des Rauhen Hauses ganz konkret, dass Kinder nur mit Zustimmung der Eltern aufgenommen wurden. Es bedeutete aber auch Unabhängigkeit von staatlichen Geldern.

Bis heute ist dem Rauhen Haus eine besondere Wertschätzung von Spendern und privatem Engagement geblieben. Und es ist gut zu sehen, wie konstruktiv und ideenreich die Zusammenarbeit zwischen den Hamburger Behörden und dem Rauhen Haus verläuft.

Der lange Weg vom Rettungsdorf für verwahrloste Kinder hin zu einer bürgerlich-christlichen Institution, die auf eine umfassende, ausdifferenzierte Familienunterstützung setzt, hat maßgeblich zur Entwicklung der Jugendhilfe in Hamburg beigetragen. An diesem kontinuierlichen Prozess haben über die Jahre eine Vielzahl von Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern und Unterstützern mitgewirkt. Ihnen möchte ich heute im Namen dieser Stadt, ihrer Bürger und unzähliger Familien unsere Anerkennung für die geleistete Arbeit aussprechen.

Das Rauhe Haus hat immer wieder die Rolle des Innovators übernommen. Ohne seine, ohne Ihre Ideen und Haltungen wären wir lange nicht so weit vorangekommen. Beispielhaft ist für mich das Projekt Comeback - Komm zurück zur Schule, das Schulverweigerern einen späteren Abschluss ermöglichen will.

Comeback ist eines der ersten gemeinsamen Angebote von Schule und Jugendhilfe. Konkret heißt das: Erzieher und Lehrer arbeiten zusammen, Lernen und Leben werden nicht mehr getrennt. Auch mit PEPE: Pädagogische Entwicklungsförderung in der Schule; oder: 2. Chance - ein EU-Programm für Schulverweigerer sowie: Gemeinsam für eine gute Schule hat das Rauhe Haus differenzierte Unterstützungsangebote entwickelt, die sich an den unterschiedlichen Lebenslagen der Familien orientieren.

Vorreiter ist das Rauhe Haus auch in der Vernetzung und bei Sozialräumlichen Hilfen - hier möchte ich das Familiennetzwerk Billstedt nennen, und die Begleitung beim Übergang von der KITA in die Schule in der Rellinger Straße. Im Zuge der Inklusion erarbeitet das Rauhe Haus Arbeitsstrukturen, um behinderte Kinder in der Jugendhilfe - und nicht mehr wie bislang in der Behindertenhilfe - betreuen zu können.
 
Meine Damen und Herren,
bei wohl keinem anderen sozialen Thema hat sich in den vergangenen Jahren so viel bewegt wie in der Debatte um die Inklusion. Dass wir Menschen mit Behinderung als aktiv und selbstbestimmt wahrnehmen und nicht mehr als Objekte der Fürsorge, ist ein großer Fortschritt. Im März dieses Jahres hat der Bundesrat dem in der Gesetzgebung Rechnung getragen: Die Eingliederungshilfe wird jetzt vom Bund übernommen.

In Hamburg bauen wir nicht nur die ambulanten Wohnformen aus, wir haben auch einen vielfältigen und konkreten Hamburger Aktionsplan verabschiedet, der die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung zu seiner Sache macht.

Dass Inklusion nicht allein durch Gesetze Realität wird, versteht sich von selbst. Sie muss sich im täglichen Miteinander, bei der Arbeit und in der Schule, in der Freizeit und in der Nachbarschaft bewähren. Und sie braucht den Raum, in dem Personen mit Behinderung oder einer psychischen Erkrankung möglichst viel Selbstbestimmung erfahren können.
Das Rauhe Haus leistet hier Herausragendes - etwa in der Individuellen Tagesförderung und der Individuellen Arbeitsbegleitung. Auch die Einbeziehung nachbarschaftlicher Strukturen ist bei Ihnen bereits gängige Praxis, genauso wie der Ausbau dezentraler, ambulanter Wohnformen. Mich überzeugt, wie sehr Sie in all diesen Bereichen auf feste Teams setzen. Bindungen stärken - dieses Prinzip ist so etwas wie ein Markenzeichen des Rauhen Hauses geworden.

Sie sehen, es gibt viele Gründe, weshalb der Senat und die Fachbehörde das Rauhe Haus als verlässlichen, kompetenten und engagierten Partner schätzen.

Vom Helfer zum Ermöglicher so verstehe ich das Selbstverständnis Ihrer Arbeit. Wobei die englische Sprache ein vielleicht noch besseres Wort hat: to enable; das heißt unter anderem: jemanden befähigen; ihn oder sie in die Lage versetzen, etwas und nicht irgend etwas für sich zu tun. Wenn nötig, mit Anschub! Die Selbständigkeit stärken; Kinder, Jugendliche und Erwachsene qualifizieren; Chancen zur Teilhabe schaffen.

Das bedeutet auch, dass allen ein größtmögliches Maß an Verantwortung abverlangt wird. Nur wer Verantwortung übernimmt im Rahmen seiner Möglichkeiten , kann an gesellschaftlichen und politischen Prozessen teilhaben. Die Fachbehörden sind sich sicher und ich bin es ebenso, dass das Rauhe Haus auch in Zukunft Hamburg auf den Weg zur kinder- und behindertenfreundlichen Stadt begleiten wird.

180 Jahre Rauhes Haus: Ich beglückwünsche Sie und die Stadt zu dem, was Sie erreicht haben. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.