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28.06.2008

"Für jeden eine zweite Chance" - Interview im vorwärts

vorwärts: Herr Minister, sozialdemokratische Reformen ermöglichten früher Hunderttausenden den Aufstieg durch verbesserte Bildungschancen. Die SPD war die Partei des Aufstiegs. Können wir das heute noch leisten?

Olaf Scholz: Wir müssen es dringender denn je. Unser Land braucht gut ausgebildete Arbeitnehmer. Nur dann können wir weiter an der Spitze mitspielen. Nur 23 Prozent aller Arbeiterkinder studieren aber 83 Prozent der Akademikerkinder. Wir dürfen nicht nur auf die Universitäten schauen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, dass wir mit einem Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss deutlich machen, dass jede und jeder immer wieder eine Chance erhält. Wenn jemand mit 23, 33 oder 43 seinen Schulabschluss nachholen will, sollten wir ihn dabei unterstützen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen die Gesellschaft der zweiten Chance.

Ist das nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit?


Das sollte es sein. Aber leider ist es nicht so. Heute gehen jedes Jahr rund 70.000 Jugendliche ohne Abschluss von der Schule. 1998 bis 2006 waren es insgesamt über 800.000 junge Menschen also mehr, als in Frankfurt am Main wohnen. Fast jeder sechste junge Mensch unter 35 Jahren hat keinen Berufsabschluss. Nicht jeder muss Professor werden. Aber alle müssen einen ordentlichen Berufsabschluss haben.

Wie soll das mit dem Hauptschulabschluss funktionieren? Gibt es eine Förderung?


Ja. Konkret bedeutet der Rechtsanspruch, dass z.B. eine arbeitslose junge Frau, die mit 25 Jahren den Hauptschulabschluss nachmachen will, in die Arbeitsagentur zu ihrem Vermittler geht. Beide schließen eine Vereinbarung über einen Schulbesuch mit beruflicher Bildung ab. Diese Ausbildung wird finanziert von der Bundesagentur für Arbeit (BA). Das ist gut investiertes Geld. Mit einem Schulabschluss steigen die Chancen auf Arbeit beträchtlich. Wir haben derzeit über eine halbe Millionen Arbeitslose ohne jeden Schulabschluss bei 3,3 Millionen Arbeitslosen ingesamt.

Auch Jugendliche mit Hauptschulabschluss finden oft nur schwer eine ungeförderte Ausbildung.


Ja, das ist eines der großen und oft verschwiegenen Probleme. Ich finde, wir dürfen da nicht mehr wegschauen. Der Bildungsbericht 2008 sagt, dass jeder zweite Hauptschüler auch 13 Monate nach Schulende noch keine berufliche Ausbildung gefunden hat. Ich kenne noch dramatischere Zahlen. In Hamburg hat bis vor einigen Jahren nicht einmal jeder zehnte Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss direkt nach der Schule einen ungeförderten Ausbildungsplatz gefunden. Aus einer Hauptschulklasse mit 25 Schülern also gerade mal zwei. Der Rest verschwand in Warteschleifen oder Qualifizierungsmaßnahmen. Jetzt gibt es in Hamburg das vom Hamburger Unternehmer Otto initiierte Hauptschul-Projekt. Das kümmert sich in Zusammenarbeit mit den Schulen, der BA und den Unternehmen um jede einzelne Hauptschülerin und jeden einzelnen Hauptschüler. Sie werden schon in der Schule intensiv betreut, mit Praktika an die Unternehmen herangeführt. Auch nach der Schule bleibt der Kontakt bestehen. So etwas soll es nach meiner Vorstellung in einigen Jahren in jeder Stadt, jeder Gemeinde und jedem Landkreis geben.

Wie wollen Sie das erreichen?


Wir greifen erst einmal einen wichtigen Punkt des Hamburger Modells auf: den sogenannten Berufseinstiegsbegleiter. Im Rahmen einer modellhaften Erprobung werden zukünftig professionel­le Berufseinstiegsbegleiter Schülerinnen und Schüler an 1000 Schulen in ganz Deutschland beim Übergang von der Schule in die Ausbildung unterstützen.

Ein anderes Projekt heißt Ausbildungsbonus. Was verbirgt sich dahinter?


2007 hatten wir über 380 000 junge Menschen, die bereits ein Jahr oder länger erfolglos einen Ausbildungsplatz suchen. Im Amtsdeutsch heißen sie Altbewerber obwohl sie erst 17 sind. Was ist das für ein frustrierender Einstieg ins Berufsleben? So jung und schon abgelehnt. Wir haben nun beschlossen, dass in den kommenden drei Ausbildungsjahren alle Altbewerber eine Chance zum Einstieg in die duale Ausbildung bekommen sollen. Dazu gibt es den Ausbildungsbonus. Arbeitgeber, die zusätzliche Ausbildungsplätze für förderbedürftige Bewerber schaffen, erhalten einen Bonus von bis zu 6000 Euro je Auszubildendem. Ich hoffe, dass wir so die Unternehmen zu einer zusätzlichen Anstrengung ermuntern können. Es kann nicht sein, dass in einer wirtschaftlichen Boomphase so viele Jugendliche außen vor bleiben.

Wir brauchen auch mehr Hochqualifizierte. Wie soll das erreicht werden?


Diese und die vorherige Bundesregierung haben sich zum Ziel gesetzt, dass 40 Prozent eines Jahrganges studieren. Wir brauchen dringend mehr Ingenieurinnen und Ingenieure. Unser Bildungssystem muss viel durchlässiger werden. Dafür müssen wir neue Wege gehen. Ich schlage vor, dass künftig auch eine erfolgreiche Berufsausbildung mit z.B. drei Jahren Berufspraxis zum Hochschulstudium berechtigt. Was spricht dagegen, eine bestandene Meisterprüfung dem Abitur gleichzustellen? Natürlich müssen wir dann auch die Studienförderung anpassen. Die Zeit des bloßen Forderns oder Lamentierens sollte vorbei sein. Jetzt wollen wir handeln.

Interview: Susanne Dohrn, Lars Haferkamp