Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
verehrter Peter Schulz,
liebe Britta,
vor allem aber: lieber Olaf!
Die Tatsache, dass Du Dir zur Feier Deines fünfzigsten Geburtstags jedes anerkennende und auszeichnende Wort zu Deiner Person und damit jeden Versuch, Deine Verdienste um die Sozialdemokratische Partei, um die Stadt Hamburg, um die SPD-Fraktion in der Bürgerschaft und im Deutschen Bundestag sowie Deine im Interesse des ganzen Landes in der Bundesregierung erbrachte Leistung zu würdigen, verbeten hast, ja, der ausdrückliche Wunsch, an diesem Tag ausgerechnet von Dir zu schweigen, obgleich wir alle doch nur Deinetwegen hier sind, nötigen mich, ganz offiziell zu beginnen:
Liebe Festversammlung,
der Arbeitsminister der Bundesrepublik Deutschland hat mich gebeten, aus Anlass seines Geburtstags über die Arbeit zu sprechen. Kann es etwas Schöneres geben, als bei einer Feier, auf der von Arbeit – zumindest bei den Gästen – keine Rede sein kann, über das zu sprechen, was jede Feier überhaupt erst ermöglicht?
Nur das Risiko könnte die Freude trüben. Was will ein Philosoph, dessen Leistung, wenn es hoch kommt, in der Arbeit des Begriffs besteht, in einer flüchtigen Leistung also, die von keinem Arbeitsamt als qualifizierte Tätigkeit anerkannt werden würde, was will ein Philosoph dem zuständigen Arbeitsminister schon Neues über die Arbeit sagen? Noch haben wir alle den Satz im Ohr: „Arbeitsminister – das kann ich.“ Olaf Scholz war mit dem, womit sich sein Ressort befasst, schon vor dem Amtsantritt vertraut; heute kann er sich auf einen Stab von hoch spezialisierten Beratern stützen, wenn er mehr über die Arbeit in Erfahrung bringen will. Da komme ich mit meinen Reflexionen über die Arbeit allemal zu spät.
Hinzu kommt, dass dieser Minister, wie schon in seiner Zeit als Generalsekretär der Partei sowie als Geschäftsführer der Fraktion, in der Lage ist, sich nebenher ausgiebig mit theoretischen Fragen zu befassen. Er liest dicke Wälzer über die Theorie der Politik, befasst sich, mit der Philosophie Immanuel Kants, und hat erst kürzlich lebhaft und kundig über seine Lektüre von Max Webers Protestantischer Ethik erzählt.
Die Protestantische Ethik ist kein theologisches Werk, sondern eine Epoche machende ideengeschichtliche Studie über den Wandel der Arbeitsmoral in den Zeiten nach der Reformation. „Die protestantische Ethik und der ‚Geist’ des Kapitalismus“ erschien 1904 und spielt in der Soziologie der letzten Jahre wieder eine große Rolle, nachdem in der neueren Forschung der Eindruck entstanden ist, dass die auf den Weltmarkt drängenden Chinesen und Inder mit ihrer asketischen Tugendethik längst die besseren Protestanten sind.
Für meine Rede kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Ich nehme mal an, dass Olaf, Britta und ich hier nicht die einzigen SPD-Mitglieder sind. Die SPD aber hat sich seit ihrer Gründung als die Partei der Arbeit verstanden. Schon im Gothaer Programm hat sie sich zum Wert und zur Rolle der Arbeit bekannt; im Godesberger Programm lag ihr daran, den Anspruch auf Erneuerung auch durch den Wandel der Arbeitsgesellschaft zu begründen. Schließlich finden wir in den jüngeren programmatischen Äußerungen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands profunde Aussagen über den Charakter, die Aufgabe und die Stellung der Arbeit in einer nicht mehr durch die Industrie dominierten Gesellschaft.
Was also soll man Sozialdemokraten Neues über die Arbeit erzählen – überdies in Hamburg, wo vermutlich alle schon mit der Schulklasse am Wiesendamm im Museum der Arbeit waren?
Die letzte Schwierigkeit liegt darin, dass wir hier auf einer Geburtstagsfeier sind. Ausgerechnet zu diesem Anlass über Arbeit zu sprechen, kann eigentlich nur die Folge haben, dass anschließend alle umso besser wissen, wie schön es ist, einmal nicht nur die Arbeit, sondern auch jeden Gedanken an sie vergessen zu können, weil man einfach feiern und Olaf Scholz gratulieren möchte. Also kommt mir die Aufgabe des Narren zu, der die Gäste bei Hofe an die Welt da draußen erinnert, um sie den Augenblick des Beisammenseins umso bewusster erleben zu lassen. Wenn nach meiner Rede jeder im Raum ganz sicher ist, dass es viel schöner gewesen wäre, wenn wir nur über das Geburtstagskind gesprochen und gleich mit dem Feiern angefangen hätten, hat sich der Sinn meiner kleinen theoretischen Vorarbeit erfüllt.
Um diesen Effekt tatsächlich zu erzielen, will ich mit dem Schwersten beginnen – mit einem spekulativen Gedanken – also, wie Hegel meinte, mit der Arbeit des Begriffs:
Sobald wir versuchen, das Ganze des Daseins, das Sein aller möglichen Dinge zu bedenken, schwanken wir zwischen Vielfalt und Einheit. „Alles“, so lautet eine der ersten philosophischen Aussagen überhaupt, „alles ist eins.“
Dem stand und steht die etwa zur gleichen Zeit erhobene These entgegen, dass Alles ein sich immer veränderndes Vieles ist.
Diesen erstmals im 5. vorchristlichen Jahrhundert zwischen Parmenides und Heraklit ausgetragenen Gegensatz hat die Philosophie im Gang von zweieinhalbtausend Jahren immer wieder zu schlichten gesucht. Heute scheint sich durch die Leistung der Physik eine Lösung anzubieten:
Folgen wir den Physikern, dann war einst alles eins und gleichsam nichts – bis es sich, im so genannten Urknall vor etwa 14 Milliarden Jahren – zwar nicht im Augenblick, aber immerhin im Verlauf der ersten drei Sekunden –, als physikalisch unterscheidbare Vielfalt zu explosiver Geltung brachte. Aus dem nicht erkenn- und nicht benennbaren Einen war in kürzester Zeit das ganz richtig so benannte All geworden, das die myriadenhafte Menge einzelner Kräfte hervor treibt und sie im Ganzen umfasst.
Damit „gab“ es die Natur, die erst mit der Teilung in getrennte Kräfte zu der Wirklichkeit wurde, zu der wir selbst gehören. Trennung und Teilung sind physikalisch somit das Erste. Durch sie entsteht erst das, was eine bestimmte Bedeutung ermöglicht, deren Sinn sich freilich nur vor dem Hintergrund des Einen erfüllt.
Der physikalischen Teilung folgt die Anziehungskraft, die Gravitation, die – mitten in der explosiven Sprengung des Ganzen – Einheiten eigener Art, wie die Sonnen, ihre Planeten und ihre Großfamilien, die Galaxien schuf und immer noch schafft.
Mindestens auf einem dieser Planeten war das der Natur aber offenbar nicht genug. Es entstanden neue Einheiten – und zwar durch ausdrückliche Abgrenzung von dem, was erst durch sie zur Umwelt werden konnte. Es kam zum Leben, mit dem sich der das Universum ausmachende Kreisprozess von Teilung und Verbindung in kleinsten Zellverbänden wiederholte und fortlaufend wiederholt.
Mit dem Leben trat etwas völlig Neues auf, das es zuvor im Kosmos – wie wir annehmen dürfen – wohl nicht gegeben hat. Dieses Neue – Sie werden es nach meinem Umweg über das Eine und das Viele, über den Urknall, die ersten drei Minuten und die nachfolgenden 11 Milliarden Jahre längst wissen – ist die Arbeitsteilung. Es ist das Leben, das den Anfang mit der Arbeit machte.
Denn im Baustein des Lebens, in der Zelle, wird erstmals etwas organisiert, produziert und transportiert. Im Zellverband müssen Stoffe herbeigeschafft, zugerichtet, umgewandelt, gereinigt, weitergeleitet, also: verarbeitet, zuweilen auch gespeichert, zwischengelagert, umgeschichtet, neu geordnet, neu geschaffen, am Ende aber verbraucht und ausgeschieden werden.
Das Leben ist ein Vorgang unausgesetzter Fabrikation, in der jeder Organismus und jedes Organ etwas zu leisten hat, damit es sich selbst im Verbund mit den anderen erhalten und entfalten kann.
Ich spiele keineswegs nur deshalb auf das Leben an, weil es heute einen Geburtstag zu feiern gibt. Mir liegt auch nicht daran, fünfzig Lebensjahre zwischen den ersten drei Sekunden und den seither vergangenen 14 Milliarden Jahren in eine jubiläumsreife Mittelposition zu bringen. Es ist vielmehr so, dass wir einen ziemlich präzisen Begriff von Arbeit gewinnen, wenn wir die Vorgänge im Organismus ernsthaft bedenken. Denn im Prozess des Lebens steht erstmals ein Vorgang zugleich unter Zeitdruck und unter dem Zwang zum Erfolg.
Zum ersten Mal kommt es auf die exakte Erledigung genau begrenzter Tätigkeiten an. Es geht um den stoff- und formgerechten Umgang mit dem verfügbaren Material, um die Fähigkeit zu verlässlicher Wiederholung im Takt der Zeit und um die genaue Abstimmung mit anderen Zellen, mit anderen Organen, mit den Individuen, mit denen man zusammenlebt, und mit der Umwelt, in der ein Überleben nur unter Wahrung ihrer Bedingungen möglich ist. Erst wenn alles dies gelingt, kann ein Organismus auch Einfluss auf seine Umwelt nehmen; erst dann hat er die Chance (und mit ihr auch das Risiko), sie langfristig zu verändern.
Was immer aber Organismen an äußerer Arbeit leisten, um Wasser zu verdrängen, Tausende von Kilometern in die Brutgebiete zu fliegen, Erdlöcher zu graben, Waben und Nester zu bauen oder Schneckenhäuser mitzuschleppen, ist durch Arbeit im Inneren des Körpers bedingt, durch den Stoffwechsel, den Blutkreislauf, oder die Aufmerksamkeit der Sinne und durch die besonders energieaufwändige Vermittlungsleistung des Nervensystems. Es ist diese Arbeit des Organismus an sich selbst, die uns regelmäßig müde macht.
So lehrt uns das Leben, was Arbeit ist: Ein orts- und zeitgebundener Vorgang, in dem eine Leistung zu erbringen ist, die in Abhängigkeit von vielfältigen anderen Vorgängen ähnlicher Art in berechenbarer Verlässlichkeit zu erfolgen hat. Geht es um die bewusste Arbeit des einzelnen Menschen im gesellschaftlichen Zusammenhang, haben wir eigentlich nur noch einen Zusatz zu anzubringen: Die Arbeit dient durchschnittlich der Lebenssicherung des Einzelnen und seiner Angehörigen und kann notfalls auch unter Zwang geschehen.
Der Seitenblick auf das Leben lehrt uns auch, dass die Arbeit nicht von der Arbeitsteilung zu trennen ist. Damit muss nicht nur einer liebgewordenen Auffassung romantischer Kulturkritik widersprochen werden, sondern auch eingefleischten Positionen der Arbeiterbewegung.
Für Romantik ist erfahrungsgemäß ohnehin wenig Platz, wenn von Arbeit die Rede ist. Es geht (um nicht gleich von Schweiß und Tränen zu sprechen) um Mühe, Zeit- und Energieaufwand, Kenntnis der Sachverhalte, Beachtung der Anderen und Wertschätzung der Folgen. Jede Arbeit ist Teil eines Weltzusammenhangs, auf den sie sich einlassen muss. Dazu gehören Übung, Ausdauer und Aufmerksamkeit – alles Leistungen, die es erforderlich machen, zeitweilig von anderem abzusehen. Wer wirklich arbeitet, fuchtelt nicht einfach herum und schuftet auch nicht einfach drauflos, sondern er hat sich zusammenzunehmen, um mit konzentriertem Einsatz das zu erreichen, was ihm (und zugleich auch anderen) wichtig ist. Arbeiten und Lernen sind auf das Engste verbunden.
Deshalb gilt nicht nur, dass die Arbeitsteilung gleichzeitig mit der Arbeit aufkommt, sondern auf Dauer mit ihr verbunden bleibt. Wo das eine ist, findet sich auch das andere. Wer die Arbeitsteilung abschaffen will, der hat so konsequent zu sein, auch keine Arbeit mehr zu wollen – und er kann die Lehrer gleich mit entlassen.
Auf den ersten Blick scheint der Zusammenhang von Arbeit und Arbeitsteilung für einige, uns besonders nahe Tätigkeiten in Haus oder Garten nicht zu gelten. Wer das Treppenhaus selber putzen, den Rasen mähen und den Dachstuhl seines Hauses ausbauen, auch wer sein Auto selber reparieren oder Bücher schreiben möchte, hat nur begrenzte Möglichkeiten zur Arbeitsteilung. Es ist aber offen-kundig, dass gerade solche Tätigkeiten nur möglich sind, weil es einen breiten, in Jahrtausenden gewachsenen Sockel gesellschaftlicher Arbeit gibt, auf dem alle in einer menschlichen Gemeinschaft möglichen Leistungen basieren. Nur weil Viele mit ihrer auf einzelne Vorgänge konzentrierten Arbeit auf höchst unterschiedlichen Feldern tätig waren, konnte das komplexe Ganze entstehen, das Gärten und Häuser, Personenkraftwagen und Bücher möglich macht.
Und dieser Zusammenhang verdichtet sich immer mehr: Nur weil viele Menschen in höchst unterschiedlichen Bereichen arbeiten, kann es überhaupt so etwas, wie eine menschliche Gesellschaft geben. Deshalb steht die Arbeitsteilung auch nicht im Widerspruch zur Humanität; sie ist vielmehr sowohl deren Ausdruck als auch deren bleibende Bedingung. Tatsächlich gehört es zum ältesten Wissen der menschlichen Zivilisation, dass erst die Arbeitsteilung das geordnete Ganze einer Kultur erzeugt.
Es ist aber nicht allein der spezialisierte Einsatz von Techniken beim Acker-, Brunnen- oder Städtebau, bei der Gewinnung und Verhüttung von Erzen, bei Verwaltung und Verteidigung oder bei der Erfindung und Verbreitung der Schrift. Viel wichtiger ist, dass allererst in und mit diesen Tätigkeiten das gegründete Selbstbewusstsein sozialer Gruppen entsteht, die sich mit Stolz als Viehzüchter, Schlachter, Gerber oder Kaufmann, als Architekt, Kapitän oder Offizier bezeichnen. Es ist das Mit- und Gegeneinander dieser wachsenden Vielfalt, die nicht nur Ämter und Gerichte nötig macht, sondern überhaupt erst das öffentlich verfügbare Wissen erzeugt, in dem sich eine Kultur ihrer selbst vergewissert.
Einer der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts, der den Sozialdemokraten nahestehende und von den Nationalsozialisten (unter besonderer Mitwirkung von Carl Schmitt) vertriebene Hans Kelsen hat die Arbeitsteilung für derart elementar gehalten, dass er glaubte, auch die Formen der Politik aus ihr erklären zu können: Parlament und Regierung waren für ihn kein Erfordernis der Repräsentation, sondern rationaler Ausdruck der Tatsache, dass alle nicht alles machen können. Da aber vieles getan werden muss, braucht man eine Auswahl von Experten, die für die Gesetzgebung zuständig sind. Diese Experten haben darüber hinaus noch eine kleinere Zahl von Experten für die Exekutive zu wählen. Parlament, Regierung, Justiz und Administration sind nach Kelsen lediglich Arbeitsebenen, die im Interesse des sich – gerade in der gemeinsamen Arbeit demokratisch organisierenden Volkes – kontrollierbare Leistungen zu erbringen haben.
Es hat Vorteile, die Politik so nüchtern zu sehen. Aber der Blick auf das Leben klärt uns darüber auf, dass es so einfach nicht geht. Eine politische Einheit besteht, wie eine menschliche Person, nicht aus der Summe ihrer einzelnen Teile. Sie ist ein Ganzes, das auf der Vorstellung einer sinnvollen Einheit beruht. Deshalb ist sie auf Repräsentation und mit ihr auch auf Repräsentanten angewiesen, die in ihrer Kompetenz, Authentizität und Integrität selbst originäre Einheiten und – als Persönlichkeiten – selbst eine Bedingung für die Zukunftsfähigkeit eines Gemeinwesens sind.
Damit wäre ich bei meinem Lieblingsthema für den heutigen Morgen: Bei der Frage, was ein guter Politiker ist und warum ich Olaf Scholz für ein höchst gelungenes Exemplar dieser Gattung halte. Aber darüber darf ich ja nicht sprechen…
Wer jetzt meint, ich könne es trotzdem tun, weil ich mein Thema durch die Abschweifung über das Leben ohnehin schon verfehlt habe, den muss ich enttäuschen. Denn für meinen Exkurs über das Leben kann ich mich auf eine einst auch in der Sozialdemokratie angesehene Autorität berufen, nämlich auf Friedrich Engels, speziell auf seinen leider Fragment gebliebenen und dennoch großen Aufsatz über den Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen.
Engels beginnt mit der Feststellung, dass die Arbeit bei den politischen Ökonomen als die „Quelle allen Reichtums“ gelte. Das sei ganz richtig, solange man – ich zitiere – die „Natur“ nicht vergesse! Denn sie liefere der Arbeit „den Stoff […], den sie in Reichtum verwandelt.“ „Aber“, so setzt Engels ein, „sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.“
Diese These sucht Engels plausibel zu machen, indem er schon den Sinnesorganen, vor allem aber Hand und Fuß, arbeitsteilige Leistungen zuschreibt, die sich in Verbindung mit den ersten Werkzeugen spezialisieren und im Gang der Jahrtausende, vor allem mit der Entwicklung der Sprache, zu einer Leistungssteigerung führen, durch die sich sowohl die Individuen wie auch ihre Kollektive bilden. Die Betrachtung dieser Entwicklung erlaubt eine Präzisierung des Begriffs der Arbeit, sofern sie mit dem Einsatz selbst gefertigter Werkzeuge beginnt.
Der Vorteil der die Gattungsgrenze des Menschen überschreitenden Spekulation von Engels liegt zum einen in der Klarstellung, dass die spezifische, an Werkzeug und Sprache gebundene Selbsterhaltung in Form von Arbeit ihre Vorläufer nicht nur bei den Affen und ihren Körperteilen hat. Sie setzt beim Menschen in „elaborierten“, also in selbst wieder „ausgearbeiteten“ Formen fort, was bereits zu den elementaren Leistungen der Natur und damit des Lebens gehört.
Zum anderen bekommen wir eine Vorstellung davon, dass es die Arbeit ist, die das Fundament für jede Form der menschlichen Vergesellschaftung legt. Sie findet sich bei den Naturvölkern nicht weniger als in der hoch entwickelten Zivilisation. Solange es Menschen gibt, waren sie zur Arbeit genötigt. Und solange es sie geben wird, haben sie gute Gründe, ihr Existenzminimum und ihren Lebensstandard durch Arbeit zu sichern. Die Arbeit ginge der Gesellschaft erst aus, wenn der Gesellschaft die Menschen abhandenkommen würden.
Diese Feststellung ist eigentlich eine Trivialität. Aber sie dürfte hoch umstritten sein. Das liegt zum einen daran, dass man aus der wechselnden Bewertung der Arbeit durch die jeweils Ton angebenden Schichten den Fehlschluss zieht, die Arbeit sei in früheren Epochen zuweilen weniger wichtig gewesen. Die Wahrheit ist, dass sie nur unterschiedlich beurteilt wurde, vornehmlich durch jene, die Andere für sich arbeiten lassen konnten.
So meinen heute, um nur ein Beispiel zu geben, viele, bei den Griechen, deren Ökonomie wesentlich auf den Einsatz von Sklaven gegründet war, hätte man die Bedeutung der Arbeit nicht zu schätzen gewusst. Zur Widerlegung reicht es Herodot zu zitieren, den ältesten griechischen Historiker, von dem uns zusammenhängende Texte überliefert sind. Er kann sich über die Sitten der um 500 v. Chr. im südlichen Donauraum siedelnden Thraker nur wundern: Sie verkaufen ihre Kinder, lassen ihre Mädchen mit jedem gehen, bewachen aber ihre Frauen auf das Schärfste. Und dann:
„Es gilt bei ihnen als vornehm, Tätowierungen auf der Haut zu haben. Wer sie nicht aufweisen kann, gehört nicht zum Adel. Wer faul ist, wird hoch geehrt, wer sein Feld bebaut, zutiefst verachtet. Von Krieg und Raub zu leben ist das Schönste.“
Das ist, wohlgemerkt, ein von außen kommendes Urteil, aber es zeigt an, wie selbstverständlich für Herodot die Tatsache ist, dass in einer Gesellschaft nicht nur gearbeitet werden muss; die Arbeit ist auch in ihrer Unerlässlichkeit zu schätzen.
Die zweite Schwierigkeit, die Trivialität von der Unverzichtbarkeit der Arbeit als eine elementare Wahrheit über die menschliche Kultur zu verstehen, liegt darin, dass wir unsicher geworden sind, was heute noch als Arbeit gelten kann. Mehr noch: Die Maschinen, die es uns ersparen, unsere eigene Körperkraft aufzuwenden, die Automaten, die uns manche Arbeit gänzlich abnehmen, und die elektronischen Rechner, die immer größere Teile der intellektuellen Tätigkeit ersetzen, lassen Viele zweifeln, ob die Arbeitskraft des Menschen in Zukunft überhaupt noch erforderlich ist.
Solche Zweifel gehören zum modischen Ton eines Zeitalters, das sich seit dreihundertfünfzig Jahren ununterbrochen zur Moderne erklärt. Es kann nicht ertragen, dass etwas so bleiben soll, wie es vorher war. Dass jemand mitten in der Moderne 50 Jahre alt wird, ist eigentlich schon eine Demonstration gegen den Geist der Zeit. Deshalb wird es als Zumutung angesehen, dass die Arbeit als Ursprungsbedingung der menschlichen Kultur auch deren Schicksal bleibt.
Dennoch ist es so. Und wenn wir die Arbeit so definieren, wie ich es vorgeschlagen habe, nämlich als einen orts- und zeitgebundenen Vorgang, in dem eine Leistung zu erbringen ist, die in Abhängigkeit von vielfältigen anderen Vorgängen ähnlicher Art in berechenbarer Verlässlichkeit zur Sicherung des Daseins – notfalls auch unter Zwang – zu erfolgen hat, dann ist leicht zu sehen, dass wir auf Arbeit umso mehr angewiesen sind, je dichter und verbindlicher die Vernetzung gesellschaftlicher Prozesse ist.
Ganz abgesehen davon, dass sich viele körperliche Tätigkeiten vermutlich noch lange halten werden (und in Zeiten der Krise immer Konjunktur haben werden), kommen gerade mit der Entlastung von anderen Arbeiten, völlig neue hinzu. Wer auch nur von ferne weiß, wie aufwändig es ist, Affen zu dressieren, lässt augenblicklich davon ab, das angebliche Schwinden von Arbeit durch Hinweis auf den Einsatz von Rhesusaffen, Schimpansen oder Bonobos in der Krankenbetreuung zu illustrieren. Auf jeden freien Arbeitsplatz in der Sozialhilfe kämen vermutlich zwei neue in den Trainingslagern für assistierende Tiere.
Man könnte die Diagnose vom Verschwinden der Arbeit eher verstehen, wenn der Begriff der Arbeit zwingend an den Einsatz großer körperlicher Kräfte gebunden wäre. Doch das ist offenkundig nicht der Fall. Auch wenn die gängigen Beamtenwitze zweifeln lassen, ob Beamte wirklich arbeiten, gibt es keinen generellen Anlass, eine Tätigkeit am Schreibtisch, in einer Beratung oder in einer Moderation grundsätzlich nicht für Arbeit zu halten. Alles, was die physische Anwesenheit eines Menschen in Verbindung mit einer aktuell zu erbringenden Leistung erfordert und dabei einen Anspruch erfüllt, der aus der Notwendigkeit der Existenzsicherung folgt, kann als Arbeit gelten. Ihre Freiwilligkeit steht nicht im Widerspruch zur Anerkennung physischer und sozialer Zwänge.
Wie wichtig der Faktor der sozialen Vernetzung bei der Definition von Arbeit ist, zeigt das Beispiel des Sports. Wenn einer seine morgendliche Runde um die Außenalster dreht, wird niemand behaupten wollen, er hätte sechzig Minuten gearbeitet – obgleich er als Lehrer vor der Klasse oder als Redner hinter dem Pult weniger schwitzt. Bei den Fußballspielern (ich weiß nicht, warum ich darauf gerade komme) ist das anders, weil sie in eine soziale Verbindlichkeit eingebunden sind und mit ihrem Einsatz einen Vertrag erfüllen, den sie zu ihrer Existenzsicherung geschlossen haben.
Ich verzichte darauf, weitere Beispiele zu nennen, und verweise abkürzend darauf, dass es im Museum der Arbeit auch eine Abteilung gibt, die sich mit der steuer-, kranken- und sozialversicherungspflichtigen „Sexarbeit“ befasst. Ich möchte den modernen Zeitdiagnostiker sehen, der behauptet, dem von dieser Tätigkeit getragenen Wirtschaftszweig werde eines Tages die Arbeit ausgehen. Und was hier nicht sein wird, wird auch in den anderen Bereichen nicht eintreten.
Die Arbeit, aus der das soziale Geflecht der Gesellschaft hervorgeht, ist zum festen Bestandteil dieses Geflechts geworden. Deshalb sind es zunehmend soziale Größen, die den Charakter der Arbeit bestimmen – vorausgesetzt dass wir, um noch einmal mit Friedrich Engels zu sprechen, „die Natur nicht vergessen“.
Der Arbeitsminister wird sich daher auch in ferner Zukunft nicht über den Mangel an Arbeit zu beklagen haben. Sein Problem ist und bleibt, genügend davon im eigenen Land zu behalten, sie angemessen zu verteilen und für eine gerechte Entlohnung zu sorgen. Dafür wünsche ich ihm Glück. Ich hätte gerne begründet, warum ich glaube, dass er dies besser kann als jeder andere in unserer Partei. Aber dazu durfte ich ja nichts sagen.