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31.10.2003

Gerechtigkeit in Regierungshandeln und Programmatik für das 21. Jahrhundert

Meine Damen und Herren,

gerne will ich  auf den Vortrag von Benjamin Barber antworten.


Doch gestatten Sie mir vorweg eine Bemerkung:
Wissenschaftler können auch Analogien ziehen, die sich andere manchmal weder zu denken noch zu formulieren trauen. Trotzdem will ich kritisch anmerken: Wir sollten uns Vergleiche zum Totalitarismus, wie wir sie soeben als Beschreibung der heutigen Welt gehört haben, nicht zu eigen machen.


I.
Zuerst: Barber und uns bewegt die Globalisierung und die Frage, welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Es ist erst wenige Jahre her, dass in vielen politischen Debatten darüber gestritten wurde, ob Globalisierung wirklich ein neues Phänomen ist, oder ob es sich um etwas handelt, das wir schon lange kennen. Wir wissen mittlerweile, dass Globalisierung existiert. Die Welt ist auf eine ganz andere, qualitativ neue Weise zusammengewachsen.  Globalisierung ist in der Tat eine neue Dimension in der langen Geschichte des Kapitalismus und des Weltmarktes.
Die heutige Welt wird von einer ganz neuen wechselseitigen Abhängigkeit geprägt. Das beschreibt Barber in seinem Referat wie auch in seinen Büchern. Es gibt eine Interdependenz, der wir uns nicht entziehen können.
Etwa wenn es um die ökologischen Risiken unserer Welt geht. Kein Staat  kann sich vor den Problemen der Erderwärmung alleine schützen. Sie müssen global gelöst werden.
Die Folgen von Armut und Unterentwicklung  in der Welt betreffen uns alle.
Unter dem Blickwinkel des Ost-West-Konflikts wurde lange Zeit nicht wirklich wahrgenommen, wie viele Konflikte auf der Welt tatsächlich kriegerisch  ausgetragen werden. Neue Dimensionen, die als asymmetrische Bedrohung beschrieben werden können, als eine Gewalt, die von nichtstaatlichen Organisationen ausgeht, sind hinzugekommen. Viele Länder der Welt leiden unter Kriegen, die von privaten Armeen geführt werden.
Interdependenz ist ein wichtiges Kennzeichen der Globalisierung. Ich stimme mit Barbers Schlussfolgerung überein, dass wir auch politisch ein Bekenntnis zur Interdependenz unserer Welt benötigen:  Niemand ist alleine und aus eigener Kraft in der Lage, diese Probleme zu lösen. Eine gemeinschaftliche Anstrengung in der Welt ist nötig.
Handeln im Rahmen von Interdependenz ermöglicht selten einfache  Problemlösungen. Aber es ist der Weg, den die Weltgemeinschaft gehen muss. Es ist nicht nur der Weg der deutschen Sozialdemokratie, sondern der Sozialdemokraten überall auf der Welt. Nicht umsonst sehen wir Sozialdemokraten die große Bedeutung internationaler Institutionen und wollen wir die Vereinten Nationen stärken.
Es ist völlig richtig, dass Barber in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Demokratie hinweist. Demokratien führen seltener Kriege als andere Staaten. Demokratie ist friedenssichernd. Deshalb ist es gut, dass es eine Gemeinschaft von Staaten gibt, die auch bei politischen Unterschieden und bei Gegensätzen in der internationalen Politik auf etwas Gemeinsames zurückblicken können: die Demokratie. Demokratie wirkt friedensfördernd. Demokratien sind die richtige Antwort auf das, was andere fälschlich als Clash of Civilisation”, als den Kampf der Kulturen gegeneinander bezeichnen.
Konstruktive Globalisierung ist eine sozialdemokratische Antwort auf das, was wir heute in der Welt an Zerstörungstendenzen und Schwierigkeiten in der Folge von Globalisierungsprozessen wahrnehmen.
Letztendlich bedeutet dies, die positiven Bestandteile des Globalisierungsprozesses aufzugreifen.


II.
Barbers zweites Thema ist die Bedeutung der Öffentlichkeit für die internationale und nationale Politik.
Politik in einer zunehmend interdependenten Welt braucht auch eine Weltöffentlichkeit.
Und: Es gibt das Zusammenwachsen der Kulturen und Meinungen, die Möglichkeit des Austausches untereinander, die Grenzenlosigkeit der Meinungsbildung. Das ist die Basis für eine demokratische Weltöffentlichkeit.
Wie stellen wir eine Weltöffentlichkeit, eine Weltmeinung her? Dieser Prozess hat gegenwärtig begonnen, bestenfalls erste Rudimente sind erkennbar. Der Prozess fortschreitender Demokratisierung und das wachsende Verständnis der Interdependenz und gegenseitiger Abhängigkeit wird auch die Entwicklung einer Weltöffentlichkeit, einer Weltmeinung mit sich bringen.
Im Zusammenhang mit den öffentlichen Diskussionen über den Krieg im Irak gab es so etwas wie eine Meinung der Völker, z.B. Europas, die nicht immer mit der Meinung ihrer jeweiligen Regierungen übereinstimmte. Diese wahrnehmbare Öffentlichkeit hat Einfluss auf die Entscheidungen der Regierungen.
Für die nationale Öffentlichkeit sieht Barber ganz andere Probleme.
Öffentlichkeit gehört zur Demokratie, ohne Öffentlichkeit kann sich wirkliche Demokratie nicht entfalten. Befinden wir uns in einer Situation, in der eine demokratische Öffentlichkeit ersetzt wird durch eine Öffentlichkeit von Konsumenten?
Barber kritisiert, manches von dem, was wir öffentlich in den Medien wahrnehmen, sei mehr Klatsch als wirkliche Berichterstattung. Die Berichterstattung nehme nicht mehr teil an der Abwägung, welcher Weg richtig wäre, welche Alternativen zur Verfügung stehen und beschritten werden können. Sondern sie erschöpfe sich letztendlich in der schnellen, hektischen Nachricht und gefährde auch gegeneinander im Wettbewerb, um Marktanteile  die Strukturen des Öffentlichen in unseren demokratischen Gesellschaften.
Barber sagt, die Medien hätten die Öffentlichkeit unserer Demokratien im Stich gelassen.
Ein öffentlicher Abwägungsprozess finde nicht mehr statt. Ich bin zwar nicht ganz so kulturskeptisch wie Barber, was die Folgen der Vielfalt von Fernsehsendern und Medien betrifft. Auch in einer solchen Gesellschaft ist demokratische Öffentlichkeit sehr wohl möglich. Aber es ist notwendig und richtig,  darüber nachzudenken, was wir unternehmen können, um die Öffentlichkeit, die zur Demokratie dazu gehört, zu erhalten. Das ist bisher ungelöst. Und nicht alle Chancen der Zukunft kommen aus dem Internet.


III.
Drittens: Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit setzt öffentliche Institutionen voraus, die für ihre Durchsetzung Sorge tragen.
Das gilt ganz bestimmt im internationalen Maßstab. Wir werden die Menschen unterstützen müssen, die in Armut leben und an unserem Wohlstand nicht teilhaben, damit sie solche Chancen in Zukunft bekommen können. Da lässt sich nichts beschönigen. Es bleibt unsere Bereitschaft gefordert,  etwas von dem, was an eigener Wohlstandsproduktion stattgefunden hat, abzugeben, um an anderer Stelle der Welt ebenfalls bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Gerechtigkeit im Weltmaßstab heißt, dass die Länder, die über genügend Wohlstand verfügen, davon etwas abgeben.
Gerechtigkeit  in den einzelnen Staaten dieser Welt kann nicht auf nur eine Weise hergestellt werden. Auch im Zeitalter der Globalisierung dürfen wir uns nicht einreden lassen, dass es nur einen Weg in der weltweiten Marktgesellschaft gibt, sozialstaatlich vermittelt Gerechtigkeit zu gewährleisten.
Selbst die einander ähnelnden europäischen Staaten haben sehr unterschiedliche Entscheidungen über die Gestalt ihrer Sozialstaatlichkeit getroffen. Auch im Zeichen der Globalisierung besteht kein Anlass,  die von den Staaten jeweils beschrittenen Pfade zu verlassen. Es kommt darauf an, dass wir  die künftigen Anforderungen an Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit, auch unter den Bedingungen der Globalisierung im eigenen nationalen Rahmen lösen. Wir stellen oft fest, dass Globalisierung als bloßer Vorwand genutzt wird, um Sozialabbau zu rechtfertigen. Das ist pure Ideologie und keine nüchterne Analyse. Ulrich Beck hat das einmal als Globalismus bezeichnet.
Für Deutschland gilt: Es gibt keinen Anlass,  weshalb die Bundesrepublik Deutschland den Pfad verlassen sollte,  soziale Sicherheit zu einem großen Teil über Sozialversicherungen zu gewährleisten. Natürlich müssen wir die Folgen, die beitragsfinanzierte Sicherungssysteme für Arbeitsmärkte und Beschäftigung haben, bedenken. Ich bin gleichwohl überzeugt, dass das deutsche Sozialstaatsmodell in der Welt wettbewerbsfähig ist, wenn wir es beständig reformieren.
Aber es gibt neue Gerechtigkeitsfragen, auch in den modernen europäischen Gesellschaften. Die meisten Staaten Europas sind  integrierte Gesellschaften. Die Inklusion aller gehört zum europäischen Gesellschaftskonzept.
Heute stellen wir fest, dass Integration weniger gut gewährleistet ist, als es schon einmal der Fall war. Es gibt neue Tendenzen zur Segregation, die sich z. B. auch darin niederschlagen, dass  Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft auseinander ziehen. Die Beziehungen der Menschen untereinander sind immer mehr von der sozialen Schicht und Herkunft abhängig.
Die Aufwärtsmobilität der deutschen Gesellschaft z. B. hat nachgelassen. Für diejenigen, die nicht selber offenen Auges durch Deutschlands Städte gehen, hat die internationale PISA-Studie vieles dargelegt: Deutschland ist unter vergleichbaren Ländern offenbar eines, bei dem die soziale Herkunft mehr über die Qualifikation, über das bildungsmäßige und berufliche Schicksal entscheidet als in anderen Ländern. Das muss einen der reichsten und erfolgreichsten Wohlfahrtstaaten Europas und der Welt irritieren. Ich werbe dafür, diese Irritation nicht schnell beiseite zu packen, sondern sie als eine der großen Herausforderungen für Gerechtigkeit in unserem Lande zu begreifen, als ein Problem, das wir gemeinsam angehen müssen.
Die massive Ausweitung von Bildungschancen ist zentrale Voraussetzung dafür, dass alle Menschen eine Chance auf Teilhabe in unseren Gesellschaften haben. Wenn wir das nicht gewährleisten, dann werden wir mit keiner Transferzahlung ausgleichen können, was die mangelnde Befähigung der Menschen ihnen an Einkommens- und Erwerbsmöglichkeiten vorenthält. Und deshalb wird es eine Prioritätenentscheidung geben müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir bessere Bildungschancen und Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, dass wir in ganz jungen Jahren in die Menschen investieren. Also eine investive Strategie einschlagen, die schon bei den Kindern beginnt und die Voraussetzung dafür schafft, dass unabhängig vom Elternhaus die Chance auf eine gleiche Teilhabe entsteht.
Für die bildungsstaatliche Offensive der sechziger und siebziger Jahre trugen übrigens maßgeblich Sozialdemokraten die Verantwortung. Die Tore der Bildungsstätten wurden geöffnet. Und diejenigen, die früher vor verschlossenen Toren gestanden hatten, konnten eintreten. Das führte zu einer deutlichen Ausweitung von Bildungschancen. Manchmal bestehen ganze SPD-Parteitage aus Delegierten, die das erste Mal in der Geschichte ihrer Familien die Möglichkeit zu Abitur und Hochschulstudium hatten.
Wenn wir uns heute umschauen, stellen wir fest, dass Fortschritt durch Bildung - auch als individuelle Lebenserfahrung von Mobilität - nicht mehr in gleicher Weise funktioniert wie vor zwanzig Jahren. Selbstverständlich sorgen die vielen Menschen, die heute über gute Bildung verfügen,  dafür, dass ihre Kinder diese auch bekommen. Aber man kann nicht sagen, dass die Kinder aus heute bildungsfernen Haushalten ebenfalls von der Bildungsexpansion profitieren würden.
Zu unseren Vorstellungen gehört, dass es immer wieder neue Möglichkeiten geben muss, Bildungsangebote und andere Formen der Teilhabe an der Gesellschaft wahrzunehmen. Zu einer gerechten Gesellschaft gehört nicht nur eine Startchance. Deshalb werden wir ein Leben lang und immer wieder aufs Neue Lebenschancen eröffnen müssen, die den Menschen Möglichkeiten verschaffen, für sich und aus sich selber heraus Einkommen und einen Platz in dieser Gesellschaft zu sichern. Darin liegt eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben.
Teilhabe ist auch durch die seit zwei Jahrzehnten gewachsene Massenarbeitslosigkeit gefährdet.
Eine Massenarbeitslosigkeit, die sich nicht erklären lässt, wenn man die wirtschaftliche Leistungskraft der Bundesrepublik Deutschland betrachtet, eine Massenarbeitslosigkeit, auf die wir  in unserem Handlungsrahmen versuchen, neue Antworten zu entwickeln. Andere Länder haben vorgemacht, dass Massenarbeitslosigkeit nicht ein unvermeidbares Phänomen moderner Gesellschaften darstellt.
Mich empört der Zynismus mancher Analysten, die behaupten, es sei in modernen Gesellschaften unvermeidbar, dass die Zahl der Arbeitsplätze ab- und die Zahl der Menschen, die dauerhaft arbeitslos sind, zunimmt. Vollbeschäftigung zu wollen und für realisierbar zu halten, wird von vielen als illusionäre Position empfunden -  von links bis rechts. Eine demokratische Gesellschaft kann aber nicht achselzuckend mit einer solch zynischen Perspektive leben.
Deshalb ist die Aktivierung der Menschen, die arbeiten wollen, eine zentrale Aufgabe demokratischer Gesellschaften. Die Unterstützung und Vermittlung  Arbeitsuchender in Arbeit, die ihnen eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht, übrigens auch in Arbeit, die sie vielleicht nicht angestrebt hatten, ist wichtig.  Deshalb glaube ich , dass  wir mit unseren Entscheidungen zur Arbeitsvermittlung mehr tun, als nur praktische Politik im Alltag. Wenn wir  erfolgreich umsetzen, was wir uns bei der  Arbeitsvermittlung vorgenommen haben, dann können wir die Arbeitslosigkeit verringern, wie es in anderen Ländern bereits gelungen ist.
Unsere Gesellschaften sind von ganz neuen Tendenzen der Segregation, des Auseinanderlebens gekennzeichnet. Die europäischen Sozialstaaten dürfen das Ziel  einer inklusiven Gesellschaftsordnung nicht aufgeben.
Wir können den Wohlfahrtsstaat in Deutschland, in Europa  nicht durch Protektionismus verteidigen. Doch die Alternative lautet nicht, gar nichts zu tun.  Auf den verschiedenen Wegen, die in den einzelnen Ländern beschritten  werden, kommt es darauf an,  Strukturen und Institutionen zu entwickeln, die soziale Sicherheit und Chancen für Menschen gewährleisten. Barbers  zahlreiche  Hinweise auf Privatisierung als Problem moderner Gesellschaften habe ich weniger als Diskussion darüber verstanden, ob  staatliche Beteiligungen an Unternehmen beibehalten werden sollen. Ich habe ihn so verstanden,  dass es Aufgaben gibt, die öffentlich bewegt werden  müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass jene Institutionen, die die Menschen brauchen und dass jene öffentlichen Güter, von denen Wolfgang Thierse gesprochen hat, zur Verfügung stehen.
Ob wir diese Teilhabe an Bildung und Arbeit besser gewährleisten als heute, ist auch mitentscheidend  für das Funktionieren der Demokratie. 
Die Höhe der Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen  ist auch Ausdruck davon, wie integriert eine Gesellschaft ist. Wir müssen uns deshalb Sorgen machen, wenn die Wahlbeteiligungen sinken bei nationalen Wahlen, bei Landtagswahlen und besonders drastisch bei kommunalen Wahlen. Das ist nicht gut für die Demokratie. Auf das Gefühl der Menschen, dass ihre Beteiligung an der Wahl zu einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse nicht beitragen kann, müssen wir reagieren.
Zwei Antworten könnten sonst drohen:
Die eine Antwort ist die des Populismus, wie z. B.  in den Niederlanden, aber auch in anderen europäischen Ländern. In Deutschland scheint sich der Populismus zunächst auf regionale Eruptionen zu beschränken. Doch wir müssen diese Gefahr ernst nehmen.
Die andere krisenhafte Reaktion ist das, was wir bei vielen Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachten können: Ein großer Teil der Bevölkerung beteiligt sich nicht mehr an Wahlen.
Die Menschen müssen mit Entscheidungen bei Wahlen etwas für sie Positives verbinden können. Gesellschaftliche Integration in eine gerechte Gesellschaft ist Voraussetzung für eine stabile Demokratie. Hohe Wahlbeteiligung und inklusive Gesellschaften gehören zusammen.