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22.06.2003

Gerechtigkeit und solidarische Mitte: Mit welcher Gesellschafts-koalition wird die SPD erfolgreich sein?

Gerechtigkeit und solidarische Mitte:
Mit welcher Gesellschaftskoalition wird die SPD erfolgreich sein?


Liebe Genossinnen und Genossen, meine Damen und Herren,

ich bin ich gefragt worden, wohin die SPD segelt, wohin die Reise der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in heutiger Zeit geht. Als Hamburger Sozialdemokrat, der auch ein bisschen vom Segeln weiß, muss ich ja eigentlich die Antwort kennen.

Ich will gern zu dieser grundsätzlichen Frage ein paar Dinge sagen, würde mich hier gern auf drei Themen beschränken.

1. Generationen
Das Thema Generationenprojekt ist heute schon diskutiert worden. Ich bin, was die Selbstbeschreibung der Jüngeren in der SPD als eigene Generation betrifft, etwas skeptisch. Es ist inzwischen alles anders als 1968, als sich jedenfalls ein Teil einer Generation einheitlich definierte. Aber immerhin: Es gibt auch heute gemeinsame Erfahrungen, die die Jüngeren in der SPD miteinander teilen. Zu ihnen zählt, zu wenig beachtet, die Erfahrung, dass vieles von dem, wofür Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten früher gekämpft haben, für uns schon da war. Also: der Sozialstaat, der Bildungsstaat, der Rechtstaat, die Demokratie und eine sehr friedliche Gesellschaft. Das ist eine Erfahrung mit der all die Jüngeren aufgewachsen sind. Der gern beklagte Pragmatismus, das fehlende Visionäre bei manchen der Jüngeren ist in diesem Sinne vielleicht durchaus eine richtige Reflexion dieser Wirklichkeit, in der man groß geworden ist und aus welcher heraus heute Politik formuliert werden muss.

Dazu kommen die Erfahrungen, die wir in jüngster Zeit alle gemeinsam auch mit den Älteren gewonnen haben: Das ist der Zusammenbruch der totalitären Regime in Osteuropa. Das ist die Erfahrung, dass Legitimationskrisen ganze mächtige Staaten zum Einsturz bringen können; dass die Demokratie weltweit einen großen Durchmarsch vollbracht hat. Wer ein bisschen rückwärts denkt zehn, zwanzig, dreißig Jahre zurück , der weiß, dass all dies auch in Europa keineswegs vorhergesehen werden konnte. Diese Erfahrung zu teilen ist wichtig.

Eine kleine Nebenbemerkung: Mich wundert immer, wie sehr Politiker vergessen, dass Legitimation eine zentrale Kategorie der Politik ist. Wer den Zusammenbruch der osteuropäischen Regime besichtigt hat, darf eigentlich niemals auch nicht als Politiker in einer Demokratie vergessen, Erläuterbarkeit und Einsehbarkeit für die Legitimität von Politik eine zentrale Rolle spielen. Wo diese Faktoren verloren gehen, wird es schwierig. Was demokratische Gesellschaften angeht, sei hier nur an den Untergang der italienischen Christdemokraten in Italien erinnert. Auch das gehört zu den Erfahrungen, die prägen.

Und dann gibt es unter veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen neue Fragestellungen, die sich zuallererst den Jüngeren stellen. Und diese tun gut daran tun, tatsächlich auf die Beantwortung dieser Fragen zu bestehen. Ich glaube, dass das Problem der Generationengerechtigkeit solch eine Frage ist: Wie kann neben den traditionellen und sonstigen neuen Gerechtigkeitsfragestellungen sozialdemokratischer Politik dafür gesorgt werden, dass auch die Jüngeren unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit und der Finanzierbarkeit sozialer Sicherungssysteme klar kommen können?

Die wichtige Aufgabe der jüngeren Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besteht darin, dafür zu sorgen, dass wir nicht bei der Verteidigung des einen Gerechtigkeitsprojektes Unterstützung und Zustimmung bei jüngeren Menschen verlieren, weil wir ein anderes Gerechtigkeitsprojekt vergessen, das neu hinzugetreten ist eben die Generationengerechtigkeit. Sie ersetzt nicht andere Gerechtigkeitsfragestellungen. Sie ist auch nicht der Ersatz für all das, was wir bisher diskutiert haben. Sie ist einfach ein weiterer Gesichtspunkt. Wir würden unser ganzes sozialdemokratisches Projekt infrage stellen, wenn wir auf diese neue Frage keine vernünftigen Antworten fänden.

2. Exklusion und soziale "Entmischung"
Die eigentliche Bedrohung des europäischen Sozialmodells ist das, was wir als Exklusionsprozesse in unseren europäischen Gesellschaften beschreiben können. Hier finden sich New Labour, die deutsche Sozialdemokratie oder die skandinavischen Sozialdemokratien zusammen: Die Tatsache, dass Menschen herausfallen aus dem Zusammenhang von Arbeit und Teilhabe ist für uns alle gemeinsam das zentrale Problem unserer Gesellschaften. Die Frage nach dem Niveau unserer Renten ist wichtig, aber sie ist nicht entscheidend im Verhältnis zu der Fragestellung: Haben eigentlich alle Arbeit? Nun weiß ich nicht, ob die von Franz Walter aufgemachte Prognose über die Prozentzahl derjenigen richtig ist, die zu den Ausgeschlossenen unserer künftigen Gesellschaften gehören werden. Aber ich weiß jedenfalls, dass da ein Problem ist, das man keinesfalls übersehen darf.

Wer sich die großen Städte unseres Landes anschaut, der stellt fest: Die Milieus derjenigen werden größer, die nicht mehr mitmachen, die weder an Bildung noch an Arbeit teilhaben. Und es ist unsere Aufgabe, darauf Antworten zu finden. Deshalb ist es wichtig, dass wir etwa in der Arbeitsmarktpolitik dafür Sorge zu tragen, dass alle arbeiten können und wollen. Ich finde es richtig, wenn der Minister für Wirtschaft und Arbeit durch einen Besuch bei Job-Centern in Großbritannien dieses Ziel unterstreicht. Denn dieses Ziel ist das Entscheidende. Dafür wollen wir alles tun und, wenn nötig, alles infrage stellen, was wir bisher getan haben. Es muss erreicht werden, dass alle tatsächlich an Arbeit teilhaben können. Hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Teilhabe sind die wichtigsten Bedrohungen des europäischen Sozialstaates.

Bedrohlich ist Exklusion auch in politischer Hinsicht, insofern nämlich, als damit die Gefahr verbunden wird, dass sich ein Milieu herausbildet, das sich an den politischen Prozessen entweder gar nicht mehr beteiligt oder nur noch für Populismus ansprechbar ist. Dass es so etwas gibt, haben wir überall in Europa erleben können, auch in Deutschland. Davon habe ich selbst in Hamburg etwas mitgekriegt. Aber in Dänemark und in den Niederlanden sind die Erfahrungen ja auch nicht so alt und so anders, dass wir nicht wissen könnten: Da ist ein Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.

Was mit der Exklusion verbunden ist, nämlich die neuen Segregations- oder Entmischungsprozesse, haben wird nicht sensibel genug beachtet. Anfangs noch sehr ungehört bin ich schon als Hamburger Politiker herumgelaufen und habe gesagt: Viele haben profitiert von der Bildungsexpansion, aber dieser Prozess setzt sich nicht fort, er ist nach einer Generation wieder steckengeblieben. Das kann man sehr deutlich sehen, wenn man will. Natürlich, die Kinder derjenigen, die als erste in ihren Familien das Abitur gemacht haben und studiert haben, die studieren ebenfalls. Das führt zu einer gewaltigen Expansion der Abitur- und Hochschulquoten in unseren großen Städten. Aber die Erfahrung vieler, zur ersten oder zweiten (aber meistens zur ersten) Generation derjenigen zu gehören, die teilgenommen haben an den großen Möglichkeiten einer sich ausweitenden Bildungsgesellschaft, die setzt sich nicht mehr ohne weiteres fort. Das ist etwas, was Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten umtreiben muss. Wenn wir dafür keine Lösungen und keine Antworten haben, dann führt das zu Schwierigkeiten auch für die politische Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie, die wir nicht übersehen dürfen. Deshalb glaube ich also, dass hier das eigentliche Thema der Sozialdemokratie in Europa liegt. Und bei ganz unterschiedlichen Ausgangsbedingungen ist dies die Frage, die wir wirklich und vor allen anderen beantworten müssen.

Ich bin Ben Bradshaw sehr dankbar dafür, dass er in seiner Eingangsbemerkung deutlich gemacht hat: Manches wird auch zu Unrecht zusammengemischt. Wir haben einen funktionierenden, sehr ordentlich ausgestatteten Sozialstaat mit einer vernünftigen Infrastruktur. Was in Großbritannien unter Margaret Thatcher an Verarmungsprozessen der öffentlichen Infrastruktur des Sozialstaates stattgefunden hat, hatte größere Dimensionen als die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind. Die Ausgangsbedingungen in Großbritannien waren zu Beginn der neuen Labour Regierung ganz andere. Wenn Ben Bradshaw hier berichtet, dass zum Konzept von New Labour auch Steuererhöhungen gehört haben, dann ist das sicher etwas, was in Deutschland noch nicht jedem aufgefallen ist. Die Ausgangsbedingungen sind also ganz unterschiedlich, aber die eigentliche Aufgabe, der wir uns zuwenden müssen, ob in Skandinavien, in Großbritannien oder bei uns, ist überall dieselbe: Wie können wir den neuen Segregationstendenzen begegnen, die in unserer Gesellschaft wirken?

3. Die solidarische Mitte
Hier schließt eine weitere Frage unmittelbar an: Was ist eigentlich der Kern derjenigen, die in Zukunft die Sozialdemokratie tragen können? Was ist der Kern derjenigen, die in Zukunft die Politik unterstützen, für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen? Man kann das ja fatalistisch sehen und sagen: Da ist einerseits das Milieu des Populismus - ob es nun ein rechter, ein linker oder ein noch gar nicht erfundener ist -, und da ist andererseits die parvenuhafte Neue-Mitte-Sozialdemokratie. Das ist sicherlich etwas, was wir nicht wollen. Das kann keiner gut finden. Aber genau deshalb muss man sich sehr sorgfältig fragen: Kommt es so? Oder kann man etwas dagegen tun?

Dass der Populismus nicht die einzige Antwort auf Exklusionsprozesse und Segregation ist, das kann man über den Atlantik hinweg beobachten. Die amerikanische Gesellschaft hat sich dadurch auf diese Situation eingestellt, dass diejenigen Bürgerinnen und Bürger, um die wir uns hier in diesen Gesprächen Gedanken machen, gar nicht mehr an den Wahlen beteiligt sind. Das heißt, die Zahl derjenigen, die an politischen Meinungsbildungsprozessen partizipieren, reduziert sich dort immer weiter und beschränkt sich auf einen Kern der Gesellschaft. Die von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen sind faktisch auch von der Politik ausgeschlossen. Sie stehen für ein sozialdemokratisches Projekt nicht mehr zur Verfügung. Das verändert die Handlungsbedingungen für die Sozialdemokratie. Deshalb müssen wir bei der Verteidigung des europäischen Sozialstaates trotz je unterschiedlicher Ausgangsbedingungen in unseren Ländern  sicherstellen, dass in 20 oder 30 Jahren weder Populismus noch Rückzug aus der politischen Partizipation die Wirklichkeit von Wahlen in Europa bestimmen.

Was ist deshalb aus meiner Sicht zu tun? Ich glaube, dass wir 1998 einen richtigen Schritt gegangen sind, als wir einen Begriff von Willy Brandt aufgegriffen haben, der er zu dessen Zeit noch die Koalition von FDP und Sozialliberalen beschrieb: den Begriff der Neuen Mitte. Der Begriff machte klar, dass ein Veränderungsprozess stattgefunden hatte, dass die sozialdemokratische Politikbasis und die Basis ihrer Wählerinnen und Wähler ganz andere geworden waren übrigens auch wegen der beschriebenen Emanzipationsprozesse: wegen der Bildungsbeteiligung, wegen des beruflichen Aufstiegs vieler Menschen. Das hat die Basis der SPD verbreitert. Wir vertun uns nichts dabei und haben Recht, wenn wir sagen: Wir sind eine Partei der Mitte, und zwar eine, die für die fortschrittlichen, ressentimentfreien und modernen Milieus der Mitte unserer Gesellschaft steht. Diese Mitte umfasst das klassische tüchtige Milieu der Sozialdemokratie: die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Facharbeiter genauso wie ihre Kinder, die, wenn man es in der Zeitperspektive beschreiben will, heute als Rechtsanwälte, als Architekten oder als Ingenieurinnen arbeiten.

Wo liegt nun aber das Problem des Begriffs der Neuen Mitte, den wir vor dem Regierungswechsel 1998 entwickelt hatten. Das Problem dieses Begriffs ist bisher, dass wir das Politische außer Acht gelassen haben. Da ist zunächst einmal zu Recht auf das Neue hingewiesen worden: Ja, wir sind auch Mitte! Das war und ist wichtig, weil es für die Mehrheitsfähigkeit in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Aber sehr schnell haben sowohl linke wie neoliberale Kritiker gesagt: Gemeint ist eigentlich die Wählerbasis der FDP. Aber das war gerade nicht gemeint. Und das ist auch nicht das, worum es geht, wenn man die Analysen teilt, die ich formuliert habe.

Worum geht es also dann und um wen? Es geht um diejenigen Angehörigen der Mitte unserer Gesellschaft, die sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen; die unterstützen wollen, dass für eine Gesellschaft Politik gemacht wird, die auf Inklusion und gegen Segregation ausgerichtet ist; und die wissen, dass dazu selbstverständlich auch das mutige Infragestellen von traditionellen Wegen, auch viele neue Reformen gehören. Wir müssen den Begriff der Mitte dadurch politisch beschreiben, dass wir sagen: Es geht um eine solidarische Mitte, für die die Sozialdemokratie in Deutschland steht. Es geht um diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass alle immer wieder und nicht nur einmal ganz am Anfang eine Chance bekommen, teilzuhaben an Arbeit und Bildung. Es geht um diejenigen, die wollen, dass es keine Ausgeschlossenen gibt, um die man sich nicht mehr kümmert und auf die man nicht mehr schaut.

Wer trägt also das Reformprojekt der Sozialdemokraten in der Zukunft? Diejenigen, die sich einzusetzen gegen Segregationstendenzen, gegen Exklusionstendenzen und für Inklusion. Es gibt die Angehörigen dieser solidarischen Mitte. Die solidarische Mitte will nicht überfordert werden, sie will nicht einfach für abstrakte Appelle in Anspruch genommen werden. Aber sie wünscht sich, in einer Gesellschaft zu leben, die zusammenhält. Und sie trägt auf diese Weise dazu bei, das europäische Sozialmodell sichern. Die Angehörigen dieser solidarischen Mitte unserer Gesellschaft sind die natürlichen Verbündeten der SPD.