Grundwerte für ein neues Grundsatzprogramm
IX. Grundwerteforum der Friedrich-Ebert-Stiftung am 23. Juni 2003
Betrachtet man die Geschichte der sozialdemokratischen Grundsatzprogramme, dann fällt zunächst eines auf: Sie wurden von Programm zu Programm länger. Darüber kann man populistische Bemerkungen machen, man kann sich aber auch ernsthaft fragen, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Mit ein bisschen Nachdenken kommt man leicht dahinter: Wir haben ganz einfach immer mehr zu sagen bekommen. Und das gleich in zweifachem Sinn: Zum einem insofern, als wir, anders noch als zu Zeiten der ersten Programme der Sozialdemokratie vor 140 Jahren und danach, zunehmend tatsächlich Verantwortung für Gemeinden, für Länder und auch für den Bundesstaat trugen. Zum anderen hatten wir aber auch deshalb nach und nach mehr zu sagen, weil uns immer mehr Themen und Fragen der Politik eingefallen sind, auf die wir Antworten geben wollten. So ist es ja in einer politischen Bewegung mit langer Geschichte: Am Anfang hat man sehr klare Lösungen. Man fordert etwas knapp zusammengefasst Frieden, Freiheit, Sozialismus und hält damit die zentralen Probleme für gelöst. Im Laufe der vergangenen 140 Jahre hat sich allerdings herausgestellt, dass die Antworten doch etwas konkreter ausfallen sollten, und dies erklärt, warum unsere Programme länger und wortreicher geworden sind.
Wenn wir uns jetzt an die Arbeit machen, ein neues Programm zu entwerfen, dann sollten wir diese Frage allerdings reflektieren, weil wir andererseits verhindern müssen, dass unsere Grundsatzprogramme so etwas wie detaillierte Regierungsprogramme mit 15-jähriger Laufzeit werden. Sie sollten sich also auf das beschränken, was wir zu den wirklich wichtigen Weichenstellungen unserer Gesellschaft sagen wollen. Um nicht missverstanden zu werden: Dass unsere Programme in der Vergangenheit immer länger geworden sind, will ich überhaupt nicht denunzieren; dafür hat es gute Gründe gegeben. Ich meine jedoch, dass wir nunmehr wieder zu einem kürzeren Programm kommen müssen, das sich auf den programmatischen Wesenskern der Auseinandersetzung von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit der Welt zu beschränkt. Das ist keineswegs popularitätsheischend gemeint, etwa nach dem Motto: Lange Texte liest man nicht gern. Vielmehr meine ich, dass früher einmal gute Gründe für ein quantitativ umfangreiches Programm heute nicht mehr gelten. Wir sollten uns also trauen, ein kürzeres Programm zu schreiben.
Ein Vorbild für das neue Programm hinsichtlich seiner Textlänge könnte vielleicht das Godesberger Programm sein, wenn auch sicherlich nicht in einem dogmatischem Sinn. Mit diesem Programm ist es der SPD gelungen, mit im Vergleich zu späteren Texten wenigen Worten etwas zu sagen, das viele Menschen bewegt hat. Das sollte uns ermutigen, diesen Weg erneut zu beschreiten. Wir müssen also sehr ernsthaft versuchen, uns auf diejenigen Fragen und Antworten zu konzentrieren, die uns in unserer Auseinandersetzung mit den Problemen in unserem Land und in der Welt besonders wichtig sind.
Das aktuell gültige Berliner Programm der SPD ist ein ordentliches Programm. Verabschiedet im Dezember 1989 ist es nicht einmal besonders alt. Warum wir uns nun schon wieder daran machen, ein neues Programm zu schreiben, muss deshalb sehr sorgfältig bedacht werden. Jedenfalls ist es im Hinblick darauf, dass es ein gut diskutiertes, sorgfältig erarbeitetes, seinerzeit von vielen debattiertes Programm gibt, notwendig, dass wir qualitativ etwas Bedeutsames erarbeiten. Aus meiner Sicht wäre es nicht sinnvoll, nur einen etwas schöner geschriebenen Text zu verfassen, der zusätzlich ein paar seit 1989 entstandene Probleme berücksichtigt. Vielmehr muss es unser Anspruch sein, am Ende überzeugend begründen zu können, warum es sich gelohnt hat, erneut in einen Programmprozess einzusteigen.
Was bewegt uns bei der Entwicklung dieses Programms? Was sollten wir bedenken? Die SPD hat in ihrer langen Geschichte zwar schon öfter Grundsatzprogramme verfasst, als Regierungspartei aber hat sie noch niemals eines zu Stande gebracht. Das hat zufällige und erklärbare Gründe, ist aber doch bemerkenswert. Jedenfalls müssen wir diesen Gesichtspunkt bedenken, wenn wir uns nun daran machen, ein Programm zu verfassen, das wir definitiv als Regierungspartei beschließen werden. Denn unsere Planung sieht vor, noch in diesem Jahr einen Textentwurf zu erarbeiten und dann auf dieser Grundlage im kommenden Jahr 2004 eine lange und gründliche Diskussion zu führen, an deren Ende die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms stehen wird.
Sorgfältig erwägen sollten wir, was der Umstand, dass wir unser neues Programm als Regierungspartei erarbeiten, für unsere Debatte bedeutet. Es bedeutet vor allem, dass wir das Verhältnis von Grundsätzen und Regierungstätigkeit nicht mehr offen lassen können. Es ist ja nicht zu bestreiten, dass in der Vergangenheit zuweilen eine Lücke zwischen der weit gefassten Programmatik und der Alltagspraxis sozialdemokratischer Regierungspolitik bestanden hat. Wenn wir nun als Regierungspartei ein Grundsatzprogramm beschließen, dann müssen wir uns in beiden Hinsichten ernst nehmen: als Regierungspartei und als Partei mit weiter reichenden Visionen. Wir dürfen jedenfalls keine Formelkompromisse eingehen, die auf die Aussage hinauslaufen, es komme sowieso nicht so richtig darauf an, was wir in das Grundsatzprogramm schreiben das ist die Selbsternstnahme der regierenden Partei. Umgekehrt bedeutet dies, dass sich in unserem Regierungshandeln auch tatsächlich wiederfinden muss, was wir programmatisch wollen das ist die Selbsternstnahme der Partei mit weiter reichendem Anspruch. Ich meine, man sollte keine Angst davor haben, dass beide Faktoren ihren Einfluss geltend machen werden. Man muss nur wissen, dass es so ist. Und man sollte das als eine große Chance für unsere Programmarbeit begreifen.
Natürlich müssen Programme in dem Sinne visionär sein, dass sie sich für eine längere Zeit als haltbar und wegweisend erweisen. Aber Programme besitzen nicht schon deshalb visionäre Kraft, weil sie ganz unrealisierbar sind. Anders als man nicht nur in der SPD, sondern in Deutschland insgesamt manchmal meint, ist nicht vor allem dasjenige visionär, was in der Wirklichkeit niemals funktionieren würde und was man im Übrigen auf keinen Fall täte, wenn man tatsächlich die Gelegenheit dazu hätte. Visionen, Langfristigkeit, Perspektive das alles brauchen wir unbedingt. Aber es bedeutet eben absolut keinen Verrat an diesen Kategorien, wenn wir ein Grundsatzprogramm mit der Maßgabe schreiben, dass auch machbar sein muss, was wir aufschreiben. Es muss nicht sofort machbar sein, sozusagen bis morgen früh. Aber wir müssen uns vorstellen können, dass man in die programmatisch angepeilte Richtung tatsächlich Politik betreiben kann. Wir müssen ganz ernsthaft wollen, dass das Beschlossene tatsächlich verwirklicht wird. Und wir müssen dies, wenn wir die Möglichkeit dazu haben, dann natürlich auch tun. Denn sonst würden wir uns selbst nicht ernst nehmen.
Ich begreife also diese erste Programmdebatte, welche die SPD als Regierungspartei führt, in zweierlei Hinsicht als große Chance. Zum einen gibt sie uns die Gelegenheit, programmatisch tiefer zu fundieren und in längerfristiger Perspektive zu sehen, was wir als Regierungspartei tun. Zum anderen kann unser Regieren auch die Ernsthaftigkeit steigern, mit der wir um jeden einzelnen Satz ringen, wenn wir unser Grundsatzprogramm schreiben. Denn wir nehmen unser Programm und uns selbst eben nur dann wirklich ernst, wenn wir alles wirklich wollen, was wir da aufschreiben. Versteht man Programme in dieser Weise, dann aber eben vielleicht nur dann sind auch alle Visionen möglich.
Wir wissen: Bei Programmen ist nicht nur wichtig, was am Ende in ihnen drinsteht, sondern vor allem auch der Prozess der Diskussion bis dahin. Gerade als Generalsekretär der SPD muss ich darauf achten, dass hier nicht bloß sozusagen ex cathedra ein Papier entsteht, das schließlich alle einmal durchlesen und das Schulklassen begeistert oder quält. Vielmehr muss dieses Programm die SPD bereits im Prozess seiner Entstehung Menschen bewegen. Deshalb glaube ich, dass wir eine breite Diskussion benötigen.
Mit der Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm haben wir bereits 1999 angefangen. Dieser Prozess mündete in einen Zwischenbericht, den diejenigen kennen, die damals die Debatten aktiv verfolgt haben. In inhaltlicher Hinsicht war dieser Prozess hochwertig und intensiv. Aber es lässt sich nicht gerade sagen, dass die Diskussion jede Gliederung der SPD erreicht hätte und dass alle sich aktiv daran beteiligt hätten. Das ist nicht denen vorzuwerfen, die mitgearbeitet haben, etwa in den großen Programmkommissionen oder in ihren Parteigliederungen. Vielmehr war dies ganz einfach der Tatsache geschuldet, dass es noch nicht so richtig darauf angekommen ist. So ist es ja nun einmal üblicherweise mit Texten und Programmen.
Deshalb glaube ich, dass unsere Entscheidung richtig ist, bis zum Ende dieses Jahres zunächst einen Text fertig zu stellen, über den dann diskutiert werden kann und soll. Denn im Grunde erst damit wird die Zeit der leidenschaftlichen Kontroversen, gewissermaßen der Herzinfarkte und der Begeisterung beginnen. Und genau das brauchen wir: die Leidenschaft, die zu einer Programmdebatte gehört übrigens auch dann, wenn die Beteiligten das Visionäre richtigerweise nicht mit dem völlig Unmöglichen gleichsetzen. Wir tun deshalb gut daran, jetzt einen Text zu erarbeiten, über den dann gestritten und diskutiert werden kann und der schließlich nach sorgfältiger Diskussion in der Partei selbstverständlich und notwendigerweise: verändert zur Abstimmung gestellt werden kann.
Betrachtet man die Diskussion seit 1999, dann hat es viele Streitfragen gegeben, die mittlerweile keine mehr sind. Solche Diskussionsprozesse haben also ihren Sinn. Ich erinnere mich, dass bei den ersten Sitzungen dieser neuen Grundsatzprogrammkommission, an denen ich seinerzeit als Ländervertreter teilnahm, zuerst einmal diskutiert wurde: Gibt es überhaupt eine Globalisierung? Mittlerweile sind wir uns einig: Ja, so etwas gibt es! Und das ist doch schon mal ein Fortschritt. Darin kommt natürlich ein Erkenntnisprozess zum Ausdruck, der sich auch anderswo in der Gesellschaft vollzogen hat. Dennoch: Es war notwendig, das einmal gründlich auszudiskutieren, weil nicht wenige noch vor nicht so langer Zeit im Kern den Standpunkt vertraten, der Begriff Globalisierung sei nur ein Schlagwort, das man uns entgegenhalte, um Sozialabbau zu betreiben. Es ist ein Fortschritt, dass wir heute erkennen: Die Globalisierung ist ganz einfach eine Realität, der man sich mit welcher Konsequenz auch immer stellen muss. Wir erkennen inzwischen auch, dass in diesem Prozess nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch Chancen liegen und das ist ein weiterer Fortschritt. Das Beispiel zeigt also, weshalb wir gut daran tun, darüber zu diskutieren, was wir für richtig halten.
Das derzeit gültige Berliner Programm der SPD, verabschiedet im Dezember des Revolutionsjahres 1989, ist noch keine anderthalb Jahrzehnte alt. Dass wir bereits nach so kurzer Zeit über ein neues Programm diskutieren, hat natürlich einerseits damit zu tun, dass sich seitdem so viel verändert hat. Aber es hängt andererseits auch damit zusammen, dass das Berliner Programm aus einem Geist heraus geschrieben ist, den heute vorsichtig formuliert nicht mehr jeder versteht. Es gibt in diesem Programm lebensreformerisch angehauchte, etwas idealistische Elemente, die sicherlich noch einmal diskutiert werden müssen besonders insofern, als diesen Elementen die Idee vom Ende der Industriegesellschaft in einer Art und Weise zugrunde lag, die in gewisser Hinsicht auf das Ende von wirtschaftlicher Tätigkeit überhaupt hinauslief.
Sicherlich, dass ist eine zugespitzte Interpretation. Sie soll aber verdeutlichen, wie sehr sich die Welt geändert hat. Wer die aktuellen Diskussionen in der SPD beobachtet, der kann die Veränderungsprozesse gut erkennen. Auf unserem nächsten Parteitag im November dieses Jahres etwa werden wir uns intensiv mit den Fragen von Wachstum und Innovation beschäftigen. Das ist eine ganz andere Akzentuierung, als wir sie in bestimmten früheren Perioden vorgenommen haben. Selbstverständlich gibt es auch heute noch viele unter uns, die darauf hinweisen, man müsse schon genau wissen, was denn eigentlich wachsen solle und das ist auch völlig richtig so. Deshalb werden wir diskutieren, auf welchen Gebieten Innovationen vernünftigerweise entwickelt und angeregt werden können und auf welchen eher nicht. Aber trotz oder vielleicht gerade wegen der aktuellen Schwierigkeiten, die sich aus Wachstumsprozessen für die entwickelten Gesellschaften ergeben, ist es insgesamt eben so, dass heute eine ganz neue Bereitschaft existiert, sich auf das Thema einzulassen. Das betrachte ich als einen Fortschritt. Wir werden uns mit der Frage auseinandersetzen müssen, was das eigentlich für uns bedeutet.
Das Berliner Programm hat gerade noch so eben berücksichtigen können, dass Ost und West in Deutschland und Europa zusammenkamen. Aber wirklich nur ein bisschen, weil natürlich auch wir den ganzen Prozess des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa erst allmählich im Laufe der neunziger Jahre verarbeiten konnten. Wer hätte schon vorhergesagt, dass Europa und die Nato in so kurzer Zeit zusammenwachsen würden? Oder dass wir so schnell über eine Erweiterung der EU in der Größenordnung beschließen würden, wie sie nun ansteht mit all den Folgen, die dies für die politische Wirklichkeit unseres Kontinents haben wird? Diese unvorhergesehene Beschleunigung der Geschichte seit 1989 müssen wir berücksichtigen.
Im Hinblick auf die Außen- und Sicherheitspolitik werden wir uns auch mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass Deutschland seither zwei Dinge getan hat, die in der Nachkriegsgeschichte ungewöhnlich waren und zusammen eine bemerkenswerte Zäsur in der deutschen Geschichte bedeuten. Wir haben 1998/99 mit der Beteiligung am Krieg im Kosovo zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Krieg geführt. Das ist ein Vorgang, mit dem sich die SPD auseinandersetzen muss. Sie kann kein Programm schreiben, in dem das nicht verarbeitet wird. Seither sind übrigens wiederholt deutsche Soldaten out of area eingesetzt worden: in Mazedonien und in Afghanistan, auch der Einsatz im Kongo ist beschlossen worden. Es hat sich also vieles ereignet. Und gerade eine sozialdemokratische Partei mit ihrer langen Friedenstradition und Friedensperspektive kann nicht so tun, als hätte das alles nicht stattgefunden und als wüsste sie dazu keine Position zu entwickeln.
Es gibt in dieser Debatte über den Krieg im Kosovo und die späteren Auslandseinsätze der Bundeswehr einen wichtigen Aspekt, der in den Diskussionen der letzten Jahre aber nur sehr wenig beachtet worden ist: Deutschland hat im Kosovo-Krieg zum ersten Mal in seiner Geschichte als demokratische Gesellschaft einen Krieg geführt. Die Vereinigten Staaten haben schon etliche Kriege als demokratische Gesellschaft geführt, dasselbe gilt für Großbritannien und Frankreich. Die Debatte darüber, ob ein bestimmter Krieg zu führen sei oder nicht, wird in diesen Ländern mit ganz anderen Maßstäben geführt als wir es vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrung der beiden von Deutschland im 20. Jahrhundert angezettelten Weltkriege tun. Dieser Unterschied ist erklärlich, wird aber offenbar nur von wenigen überhaupt realisiert. Genau davon war manche Debatte geprägt, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben. Die ersten Diskussionen über den Kosovo handelten bei uns eben nicht von der Frage: Soll man oder soll man nicht? Vielmehr ging es sehr grundsätzlich um die Frage: Soll man jemals oder soll man immer? Man diskutierte also nicht konkret und in der Sache abwägend, wie es einer demokratischen Gesellschaft angemessen ist, um als Ergebnis parlamentarischer und öffentlicher Meinungsbildungsprozesse eine Entscheidung herbeizuführen.
In diesem Kontext müssen wir das zweite einschneidende Ereignis erörtern und bewerten: die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, sich am Krieg gegen den Irak nicht zu beteiligen. Wie schnell die Zeitläufte sind, wie vergesslich zuweilen auch der Journalismus ist, erkennt man an der Intensität, mit der in der Irakfrage über Monate hinweg erörtert wurde, ob nicht dieser Beschluss einen deutschen Sonderweg bedeute. Dabei hatte doch der Weg der Nachkriegsdeutschen bis 1999 immer darin bestanden, nicht teilzunehmen! Das war überhaupt erst 1999 im Kosovo-Krieg zum ersten Mal anders. Offenbar sind die Veränderungen seit 1999 so rasend schnell vonstatten gegangen, dass nun auf einmal ziemlich geschichtsvergessen gefragt wurde: Wie? Wir machen zum ersten Mal nicht mit? Auch das ist bemerkenswert.
Diese Beobachtung mag für die Programmdebatte der SPD ohne Belang sein. Wichtig war in jedem Fall aber die Entscheidung gegen die Teilnahme am Krieg im Irak. Denn diese Entscheidung bedeutete, dass wir in einer bedeutsamen Frage etwas anders zu sehen als die Vereinigten Staaten, der zweifellos wichtigste Verbündete Europas und Deutschlands. Solch eine Entscheidung ist nicht einfach. Sie ist gerade dann nicht einfach, wenn man wie die deutsche Sozialdemokratie in der Nachkriegsgeschichte eher transatlantisch geprägt ist und die Nato befürwortet. Dann ist es schon ein besonderer Vorgang, auf einer eigenen Meinung zu beharren, weil man anders einschätzt, was richtig und zu tun sei.
Deshalb werden wir programmatisch erörtern müssen, wie man auch eingebunden in Bündnisse eine eigenständige Meinungsbildung zu Stande bringen kann, ohne dass hierdurch falsche weltpolitische Entwicklungen entstehen. Die nachfolgenden Diskussionen, die europäischen Meinungsbildungsprozesse und auch die Entscheidungen, die dann im Rahmen des Weltsicherheitsrates zu Stande kamen, haben gezeigt, wie wichtig es war, dass Deutschland unter einer sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung diese Fragen diskutiert hat.
Beide Ereignisse, sowohl die deutsche Beteiligung am Krieg im Kosovo wie die deutsche Nichtbeteiligung am Krieg gegen den Irak, müssen ihren programmatischen Niederschlag finden, weil wir eine eigene Position hinsichtlich unserer außen- und sicherheitspolitischen Rolle in Bezug auf Nato, transatlantische Partnerschaft und Europa entwickeln müssen. Dass uns das gelingt, ist vor dem Hintergrund der langen Programmgeschichte der SPD essentiell. Schon 1925 entwarf das Heidelberger Programm der SPD die Vision von den Vereinigten Staaten von Europa; nun werden wir unser nächstes Programm in demjenigen Jahr beschließen, in dem sich eine aus 25 Staaten bestehende Europäische Union tatsächlich eine Verfassung geben wird. Auch diese Entwicklung ist viel schneller verlaufen, als die meisten vorausgesehen haben. Wir werden das diskutieren müssen, nicht zuletzt, weil es auch unsere nationale Politik beeinflusst.
Was wird uns außerdem beschäftigen? Eines unserer zentralen Themen, wird die Frage sein, wie wir es mit der Gerechtigkeit halten. Das ist eine Frage, die sich allen europäischen Sozialstaaten im 21. Jahrhundert aufs Neue stellt. Ich meine, eine zentrale Kategorie sozialdemokratischer Gerechtigkeitsvorstellungen wird in Zukunft die Teilhabe an Bildung und Arbeit sein. Das heißt überhaupt nicht, dass wir abkehren von dem vor über 100 Jahren mit Bismarck eingeschlagenen Weg der Absicherung sozialer Risiken durch Sozialversicherungen paradoxerweise übrigens ein Weg, mit dem der Reichskanzler seinerzeit die Sozialdemokratie bekämpfen wollte. Wir werden mit Sicherheit auch nicht Abschied nehmen vom Sozialstaat. Es kommt aber darauf an, dass wir den Blick auf das richten, was heute wesentlich ist. Und wesentlich ist heute die Einsicht, dass die Zukunft des europäischen Sozialstaates nicht so sehr davon abhängt, ob das Rentenniveau etwas höher oder etwas niedriger liegt. Auch das ist wichtig. Viel dramatischer sind aber die Gefahren für unsere Gesellschaften, die von sozialem Ausschluss und sozialer Segregation ausgehen. Wichtig ist also zunächst die Frage, ob alle Menschen so gut ausgebildet sind, dass sie an den wirtschaftlichen Prozessen unseres Landes überhaupt teilhaben können.
Wie stellt sich eigentlich eine der reichsten Gesellschaften Europas dazu, dass sie es nicht fertig bringt, einem Teil der Bevölkerung einen allgemeinbildenden Abschluss zu verschaffen? Denn das ist ja ein Versagen von allen Beteiligten: von Elternhäusern, von Schulen, von jedem. Es ist ein versagen, das viele nicht thematisieren, weil sie diesen Zustand offenbar für gottgegeben halten. Das ist er aber nicht, wie uns einige unserer europäischen Nachbarn mit großem Erfolg vorführen. Deshalb werden wir diese Frage diskutieren müssen. Und wir müssen darüber reden, wie wir sicherstellen können, dass alle Menschen, die bei uns leben, Arbeit finden können nicht immer unbedingt die, die sie wollen, aber überhaupt eine. Das ist wichtiger als fast alles andere, und es wird für unser Grundsatzprogramm ebenfalls von großer Bedeutung sein.
Auch mit der Lage von Kindern in unserer Gesellschaft, mit den Problemen und Möglichkeiten ihrer berufstätigen Eltern und der Familien überhaupt werden wir uns beschäftigen müssen. Hier geht es um Fragen, die sich den europäischen Gesellschaften immer drängender stellen und die in Deutschland bislang besonders schlecht beantwortet sind. Wir scheinen es für ein Naturgesetz zu halten, dass die Zahl der Kinder immer weiter zurückgeht. Anderswo aber gilt dieses vermeintliche Naturgesetz keineswegs. In Deutschland bekommen Frauen heute im Durchschnitt 1,3 Kinder. Dagegen werden beispielsweise in Norwegen nicht so weit weg und sicherlich keine völlig andere Gesellschaft fast zwei Kinder pro Elternpaar geboren. Das ist mindestens ein Indiz dafür, dass etwas bei uns falsch läuft und nicht anderswo. Wie nur wenige andere Gesellschaften macht es unsere Gesellschaft ihren Bürgerinnen und Bürgern schwer, die Kinder zu kriegen, die sie sich wünschen und sich um sie zu kümmern. Deshalb müssen wir Bedingungen herstellen, in denen das möglich ist. Wir leiden in Deutschland darunter, dass es uns nicht gelungen ist, vernünftige Bedingungen für Kinder und ihre berufstätigen Eltern herzustellen. Und wir werden alles daran setzen müssen, diesen Entwicklungspfad zu verlassen, weil Deutschland anderenfalls in größere Schwierigkeiten geraten wird, als man es sich überhaupt ausmalen kann. Auch das ist ein Thema, über das wir diskutieren müssen.
Es gibt noch viele weitere Themen, die hier nicht einzeln genannt werden können. Ich glaube, dass die Diskussion über unser neues Grundsatzprogramm eine wichtige Rolle im Selbstverständigungsprozess der SPD spielen wird. Es ist wichtig, dass wir die Diskussion darüber sehr breit angelegt führen. Es ist ebenso wichtig, dass wir uns trauen, Relevantes zu sagen, dass wir nicht nur belanglose Dinge und Formelkompromisse produzieren. Und es ist besonders wichtig, dass wir uns bei alledem ernst nehmen: zugleich als visionäre und als regierende Partei. Wenn uns das gelingt, dann kann das nächste Grundsatzprogramm ein bedeutendes werden.
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23.06.2003