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26.04.2012

Großes Bundesverdienstkreuz an Esther Bejarano

 

Sehr geehrte Frau Bejarano,

meine Damen und Herren,

 

drei Rapper aus Köln Rosario, Kutlu und Önder und eine klassisch ausgebildete Musikerin, 1924 im Saarland als Tochter eines jüdischen Oberkantors geboren. Können die zusammen Musik machen? Und wie hört es sich an?

 

Wer Esther Bejerano und die Microphone Mafia gehört hat live, auf Tonträger oder YouTube hat vorher gewusst, dass da nicht nur sehr verschiedene Musikstile fusionieren, sondern Lebenserfahrungen, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Hinterher, oder eigentlich schon nach wenigen Takten, traut man seinem Gehör und seinem Verstand mehr zu als vorher. Zusammen hat das funktioniert und man hat etwas gelernt.

 

Liebe Frau Bejarano,

das ist Ihr aktuellstes Verdienst und ein neues großes. Schon lange bringen Sie uns nahe, dass Erfahrungen schreckliche Erinnerungen und der Mut, Neues zu probieren, wunderbar  zusammenpassen und dass, wer hinhört, etwas lernt.

     

Es ist mir eine Freude und eine besondere Ehre, Ihnen, Frau Esther Bejarano, heute das Große Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Vor vier Jahren haben Sie das Verdienstkreuz 1. Klasse erhalten. Beide Ehrungen gehören inhaltlich zusammen. Sie würdigen Ihre Lebensleistung als Künstlerin und Friedensaktivistin. 

Meine Damen und Herren, Esther Bejarano widmet ihre Zeit der Erinnerungskultur in unserem Land. Sie ist beharrlich. Sie engagiert sich seit mehr als 25 Jahren gegen Rechtsradikalismus und klärt Jugendliche über die Zeit des Nationalsozialismus auf. Warum sie das macht, das erklärt ihr Leben. 

 

Wie sie das macht, ist beispielhaft. In der Begründung für die heutige Ehrung heißt es, ich zitiere: Sie macht Musik mit Menschen aus drei Generationen, aber auch drei verschiedenen Religionen. Sie erreicht damit Jugendliche auf eine ganz eigene Weise. 

 

Damit ist die musikalische Zusammenarbeit von Esther Bejarano und ihren Kindern, Tochter Edna und Sohn Joram, mit der eben erwähnten Kölner türkisch-italienischen Rap-Gruppe Microphone Mafia gemeint. Sie singen Lieder von Widerstand und Befreiung in acht Sprachen: auf deutsch, französisch, italienisch, neapolitanisch, spanisch, türkisch, hebräisch und jiddisch. 

 

Das 2009 entstandene Album stellt den Versuch dar, in einen künstlerischen Dialog mit der dritten und vierten Generation nach Auschwitz zu treten. Den Versuch, die Geschichte mit dem Musikprojekt und einem begleitenden Dokumentarfilm weiterleben zu lassen, obwohl schon viele Zeitzeugen gestorben sind. Das Album heißt Per la vita. Für das Leben. Lebensbejahend wie das Projekt ist Esther Bejarano selbst. 

 

Nie wieder Faschismus nie wieder Krieg, das war und ist ihr Leitgedanke. Er ist glaubwürdig und authentisch, wenn sie ihn ausspricht. Denn Esther Bejarano hat das Hitlerreich am eigenen Leib erlitten, sie wurde als Jüdin verfolgt und ins KZ verschleppt. Als Musikerin spielte sie im so genannten Mädchenorchester von Auschwitz. 

 

Sie sieht es als ihre Lebensaufgabe an, vor Neo-Nazismus zu warnen und zu verhindern, dass Diskriminierung und Verfolgung in unserer heutigen Gesellschaft wieder aufkeimen. Wie nötig das ist, wissen wir nicht erst, seit im vorigen Jahr die fremdenfeindlich motivierten Mordtaten der so genannten Zwickauer Terrorzelle aufgedeckt wurden.  

 

Meine Damen und Herren,

Esther Bejarano wird im Dezember 88 Jahre alt. Sie steht heute noch auf der Bühne und macht Musik, hierzulande und in aller Welt.  Und sie führt als Zeitzeugin unermüdlich Gespräche in ungezählten Schulen, berichtet von der erschütternden Geschichte ihrer selbst und ihrer Familie unter dem Hakenkreuz und warnt die Jugendlichen vor Rechtsradikalismus.

 

Aber sie klärt nicht nur auf, sie mischt sich auch ein, immer sehr persönlich, auf der Straße, wenn es gilt, gegen Nazi-Aufmärsche zu protestieren, und auch gegenüber der Politik, wenn sie das Gefühl hat, dass verharmlost oder nicht konsequent genug gegen rechtsextremistisches Gedankengut und ihre Verfechter vorgegangen wird. 

 

In aller Regel treten Frauen und Männer spätestens mit 65 in den Ruhestand, spielen mit den Enkeln und setzen sich vor den Fernseher gemütlich, ein Wort, das auch Esther Bejarano gelegentlich benutzt. Sie selber hingegen ist unermüdlich. Ihre Antwort auf eine Interviewfrage lautete: Das gibt es überhaupt nicht. Müdigkeit. Ich finde es ganz wichtig, dass die Zeitzeugen ihre Geschichte erzählen. Egal, ob ich das bin oder wer anderes. Es ist etwas zum Anfassen und wichtiger als zehn Bücher zu lesen…

 

Zum 65. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Dezember 2010 erschien im Hamburger Abendblatt ein Artikel von Vanessa Seifert unter der Überschrift: Musik gegen den Tod.

 

Ich will aus dem Text, für den die Autorin mit Recht einen Preis erhalten hat, einige Passagen zusammenfassen. Darin erzählt Esther Bejarano von der Geschichte ihrer Verfolgung in Hitler-Deutschland. Vanessa Seifert hat diese Lebensgeschichte entlang der Schicksalssymphonie von Beethoven erzählt, gegliedert in vier Sätze. 

 

Der erste musikalische Satz entspricht dem Klang der Kindheit, sagt Esther Bejarano, ihre Herkunftsfamilie heißt Loewy. Ihr Elternhaus in Saarbrücken sei von Musik erfüllt gewesen. Irgendjemand habe immer auf dem Klavier geklimpert. Ihr Vater, der Oberkantor der Jüdischen Gemeinde war. Oder aber die Mutter, ihr großer Bruder Gerdi oder die beiden großen Schwestern Tosca und Ruth. Oder sie selbst, Esther, genannt Krümel. Ihre musikalische Begabung wurde schnell deutlich. Schon als Sechsjährige begann sie mit dem Klavierspiel. Sie erhielt Klavierstunden und bewies ihr Talent. 

 

Als das Saarland dem Deutschen Reich angegliedert wurde, wuchs auch dort der Antisemitismus. Die Schulfreundinnen wollten mit Esther nicht mehr spielen. Nach der Reichspogromnacht, als viele jüdische Geschäfte in Schutt und Asche gelegt wurden und im ganzen Land die Synagogen brannten, wurde Esthers Vater nach kurzer Gefängnishaft der Ernst der Lage klar. Die Familie Loewy hegte den Traum von der Auswanderung. Doch das erwies sich als schwierig und teuer.

 

Die Familie zog  nach Ulm und von dort nach Breslau um. Dort schickten die Eltern ihre 16jährige Tochter in ein Palästina-Vorbereitungslager, damit sie Deutschland den Rücken kehren könnte. Doch es war bereits zu spät. Esther Bejarano resümierte: Hätte ich als Kind nicht so viel Liebe und durch die Musik so viel Kraft aufgesogen, ich hätte die nächsten Jahre nicht überlebt. 

 

Zweiter Satz. Moll. Die Todesmärsche von Auschwitz. Esther wurde zunächst in ein Arbeitslager bei Fürstenwalde gesteckt. Sie schuftete dort in einer Gärtnerei. Zwei Jahre später, am 20. April 1943, wurde sie wie tausend andere Juden in einen Viehwaggon gesperrt und mit dem Zug nach Auschwitz deportiert. Ihre Eltern und eine Schwester waren zu jenem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits ermordet.   

 

Esther berichtete von der gespenstischen Fahrt über zwei Tage im Viehwaggon bis zur Ankunft in Auschwitz. Dort wurde ihr die Nummer 41948 auf den Arm tätowiert und Esther wurde einem Arbeitskommando zugeteilt, das auf einem Feld schwere Steine schleppen musste. Tagein, tagaus. Von einer Seite zur anderen und wieder zurück. Ein Horror für sie, aus reiner Schikane, vermutete sie. 

 

Eines Abends wurden Frauen für ein Mädchenorchester gesucht. Es fehle noch jemand, der Akkordeon spielt, hieß es. Esther sah die Chance. Dabei hatte sie nie zuvor ein Akkordeon in der Hand gehabt, aber sie vertraute darauf, dass es zur Hälfte aussieht wie ein Klavier. Und was passierte? Sie musste den Schlager vorspielen, und es fällt schwer, den Titel zu nennen: Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami. Aber es gelang ihr, die richtigen Akkorde zu finden. 

 

Esther bestand die Prüfung und von da an musste sie gemeinsam mit 42 anderen Frauen - morgens und abends  Märsche spielen. Immer dann, wenn Häftlinge zur Arbeit ausrückten oder ins Lager zurückkamen. Oder auch dann, wenn neue Transporte das Lager Auschwitz erreichten. Die Ankömmlinge winkten den jungen Frauen im Orchester zu. Und das Orchester spielte, wohl wissend, dass die Menschen in die Gaskammer gingen.

 

Mit Tränen in den Augen habe sie gespielt, Note für Note, heißt es in Vanessa Seiferts Geschichte.  Und auch bei ihren Konzerten erinnert sich Esther Bejarano an die falsche Hoffnung der neu Ankommenden: dass, wo Musik gespielt wurde, es ja nicht so schlimm sein könne. Wir konnten uns doch nicht wehren. Hinter uns standen die SS-Schergen mit ihren Gewehren.

        

Dritter Satz: Die Melodie der Freiheit. Esther galt wegen ihrer christlichen Großmutter als Vierteljüdin, deshalb durfte sie Auschwitz und das Mädchenorchester nach sieben Monaten verlassen. Der berüchtigte Arzt Dr. Mengele schickte sie nach Ravensbrück, ins dortige KZ, wo sie zur Arbeit in der Rüstungsproduktion gezwungen wurde. Nach der Auflösung des Lagers dort gelang Esther zusammen mit  sechs anderen jungen Frauen die Flucht. 

 

In dem mecklenburgischen Dörfchen Lübz begegneten sie amerikanischen und sowjetischen Soldaten, ihren Befreiern. Gemeinsam tanzten sie um ein riesiges brennendes Hitlerbild, mitten auf dem Marktplatz. Es war der 8. Mai.  Am 8. Mai wurde ich zum  zweiten Mal geboren, sagt Esther Bejarano. 

 

Esther Loewy ging zunächst nach Palästina, wo ihre Schwester Tosca lebte, und ließ sich dort zur Koloratursopranistin ausbilden. Die Vergangenheit wollte sie hinter sich lassen. Sie traf ihren Mann Nissim Bejarano im Chor, heiratete ihn 1950,  und gebar zwei Kinder, Edna und Joram. Doch das Klima tat der Familie nicht gut. Weder gesundheitlich noch politisch, wie es heißt. 1960 entschloss sich die Familie deshalb, zurück nach Deutschland zu ziehen. Ihre Wahl fiel schließlich auf  Hamburg. 

 

Vierter Satz: Esther Bejarano eröffnete ein kleines Modegeschäft am Hellkamp in Eimsbüttel.  Sie war politisch nicht engagiert und sprach nur selten über ihre Zeit in Auschwitz. Doch ein Schlüsselerlebnis veränderte das Schweigen: Eines Tages im Jahr 1978 baute ausgerechnet eine Gruppe Neonazis einen Stand vor ihrem Laden in Eimsbüttel auf. Esther Bejarano sprach die jungen Männer an, sie erzählte ihnen von Auschwitz und erntete nichts als Hohn und Spott. 

 

Esther Bejarano erinnert sich, wie diese Begegnung auf sie wirkte. Da sei ihr alles wieder hochgekommen. Die Faschisten seien zurück, das dürfe sie nicht zulassen. Sie suchte Kontakt zu anderen Auschwitz-Überlebenden, trat der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes bei, sie engagierte sich als Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Komitees und in der Friedensbewegung, wo sie mit ihren beiden Kindern Edna und Joram in der Gruppe Coincidence Musik machte.

 

Etwa Mitte der 80er Jahre begann sie, in Schulklassen über den nationalsozialistischen Terror zu berichten. Ein zentrales Mittel für diese Aufklärungsarbeit stellen ihre beiden Biographien dar: Die erste heißt Man nannte mich Krümel, sie entstand mit Förderung der Hamburger Kultur- und Schulbehörde. Die zweite Biografie erschien 2004 unter dem Titel Wir leben trotzdem, geschrieben mit der Co-Autorin Birgit Gärtner.

 

 

Wir, die nach dem Krieg Geborenen, sind Ihnen, Esther Bejarano, zu Dank verpflichtet. Gut, dass Sie bei uns sind! Ihr Engagement gegen Rechts ist mehr als nur ein ermutigendes Beispiel, es ist uns ein Vorbild.

 

Meine Damen und Herren,

Bürgermeister Henning Voscherau hat Ihnen, Frau Esther Bejarano, schon im Jahr 1994 die Biermann-Rathjen-Medaille für ihr Schaffen verliehen. Nun erfahren Sie die höchste Anerkennung, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt.

 

Ich freue mich, Ihnen jetzt das Große Bundesverdienstkreuz überreichen zu können.

 
 
Es gilt das gesprochene Wort.