Sehr geehrter Herr Pastor Hölck,
sehr geehrter Herr Bezirksamtsleiter,
sehr geehrter Herr Vorsitzender der Bezirksversammlung,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
der heutige Anlass führt uns weit zurück in die deutsche Geschichte. Er lässt uns 200 Jahre zurückdenken, soweit wir das denn können.
1815, im Jahr des Wiener Kongresses, ist Matthias Claudius im Alter von 75 Jahren gestorben. Vierzig Jahre hatte er hier in Wandsbek gelebt, in Schleswig-Holstein, im Dänischen Gesamtstaat, dessen Herzogtum Holstein ab Kongressende zum Deutschen Bund gehören würde, wie auch die Nachbarstadt Hamburg, aber im Gegensatz zu Schleswig.
Ist das alles heute noch wichtig? Hat es Matthias Claudius interessiert? Ist er als Dichter und Journalist eine bedeutende Person geblieben? Drei Antworten: Ja, ja und ja.
Der Wandsbecker Bothe, wie er sich zuletzt nach seiner Zeitung selbst nannte und genannt wurde, hat ja nicht nur sein Wandsbek auf die Landkarte des gelehrten Deutschlands und Dänemarks gebracht. Er war einer der bedeutendsten Exponenten dessen, was sich als Journalismus erst herauszubilden begann; ohne den aber wären die folgenden 200 Jahre mit Sicherheit anders verlaufen.
Und wer in diesem Frühjahr die TV-Serie bei arte gesehen hat: Liebe und Verrat in Zeiten des Krieges, kann sich auch vorstellen, dass man einen vernünftigen Menschen wie ihn am Kopenhagener Hof sehr dringend hätte gebrauchen können. Wo er ja war, allerdings viele Jahre vor den blutigen Kämpfen um die Düppeler Schanzen.
Nach dem Studium der Theologie nur kurz , dann der Rechte, der Geschichte und Philosophie in Jena war seine erste Stelle diejenige eines Sekretärs des Grafen von Holstein im erwähnten Kopenhagen heute würde man vom Büroleiter sprechen oder von einem persönlichen Referenten. Das war nichts für Claudius. Er kehrte in seinen Geburtsort Reinfeld zurück und dachte eine Weile lang darüber nach, wie es weitergehen sollte was nicht jedem gefiel, auch nicht dem Vater, der Pfarrer und von derartigen Zweifeln nicht geplagt war. Doch es kam Hilfe aus Hamburg.
Matthias lernte Friedrich Gottlieb Klopstock kennen, der ihm eine Stelle in der Hansestadt beschaffte, als Redakteur bei den "Adreß-Comptoir-Nachrichten", heute würde wir sagen, einem Wirtschaftsblatt. In Hamburg traf er Gotthold Ephraim Lessing, Carl Philipp Emanuel Bach und viele andere Künstler und Gelehrte. Die Kulturszene Hamburgs war damals trotz dieser großen Namen überschaubar, und der Zugang in die Kreise der Künstler und Gelehrten war leicht. Man traf sich auf den Gesellschaften und in Salons, die die wohlhabenden Bürger der Stadt reihum veranstalteten und die auch durchreisenden Künstlern offen standen.
Das mag heute erstaunen, ist doch die angebliche Kunst- und Künstlerferne der sogenannten Pfeffersäcke in Hamburg geradezu sprichwörtlich, ebenso wie die Sage, an der Haustür des Hamburger Bürgers begänne eine Tabuzone für Bohemiens. Wann immer das einmal gestimmt hat zu der Zeit nicht und heute bekanntlich schon gar nicht.
Die Schreiberei für das trockene Börsenblatt hat dann zum ersten Mal Belege für das Erwachen des rebellischen Geistes in Matthias Claudius hervorgebracht. Es sind eine Reihe von Meldungen erhalten, die er subversiv mit ironischen Zusätzen versehen hat, spürbare Folgen von Langeweile und intellektueller Ödnis. Claudius führte schließlich Buchbesprechungen und Gedichte ins Blatt ein, was sich der Verleger Leisching nicht lange bieten ließ. Die Entlassung nach zweijähriger Arbeit war der Weg zum Glück für Claudius, denn er fand sehr bald Arbeit beim Wandsbecker Boten und lernte Rebecca kennen, seine künftige Frau, mit der er zwölf Kinder haben würde.
Back to the roots, wandsbekmäßig, doch die große für damalige Maßstäbe jedenfalls schon große Stadt war nah, in knapp einer Stunde war man damals im Zentrum Hamburgs, also etwa genauso schnell oder langsam wie heute zu bestimmten Zeiten im Berufsverkehr. Noch! Matthias Claudius nahm beständig am Hamburger Kulturleben teil, so oft ihm die Familie und die Arbeit am Wandsbecker Bothen das ermöglichten, den er zu einer zeittypischen volksaufklärerischen Zeitung machte. Ab 1774 war er obendrein Mitglied mehrerer Hamburger Freimaurerlogen.
Sein wohl größter Erfolg: Der Wandsbeker, Urheber des zeitlosen Liedes Der Mond ist aufgegangen, brachte die großen deutschen Gelehrten dazu, für den Bothen zu schreiben und vorher ermahnte er sie, wie es ein guter Redakteur tut, einen einfachen Ton anzuschlagen: Herder, Bürger, Gleim, Goethe, Jacobi, Klopstock, Lessing, Stolberg und Voß. Welch ein exzellenter freier Mitarbeiterstab, möchte man sagen!
Allerdings half das alles in geschäftlicher Hinsicht wenig. Anspruchsvolle Zeitungen zu vermarkten war damals mindestens so schwer wie heute. Schon 1775 stellte der Wandsbecker Bothe sein Erscheinen ein. Für eine kurze Zeit verließ Claudius Wandsbek, wirkte im fernen Darmstadt, kam aber bald zurück und blieb bis an sein Lebensende fast ständig in Wandsbek und Hamburg. Dass er, wie erwähnt, selbst unter dem Namen Wandsbeker Bothe schrieb, hat dazu beigetragen, dass dieser Name bis heute in der Fachwelt wohlbekannt ist.
Und nicht nur dort und nicht nur deshalb war und ist so achtungsvoll die Rede von ihm.
Von den Gebäuden des alten Marktfleckens Wandsbek sind heute nur noch wenige übriggeblieben, woran auch der Krieg Schuld hat, der Matthias Claudius sein Leben lang besonders verhasst war. Die meisten hier werden sein Anti-Kriegs-Gedicht kennen, mit dem Titel Kriegslied, das hundert Jahre nach seinem Tod der ebenfalls zeitlos verehrte Karl Kraus als einen letzten verzweifelten Aufruf veröffentlicht hat, endlich Frieden zu machen, vergebens, wie wir wissen.
Oft seit Claudius' Zeit haben viele geglaubt und gehofft, dass Kriege endgültig der Vergangenheit angehören würden. Und je länger die Friedenszeit in Europa andauerte, damals länger als vierzig Jahre seit dem deutsch-französischen Krieg, der auf den preußisch-dänischen gefolgt war, desto mehr schien dieser Glaube zu wachsen und mit ihm der Leichtsinn und die Schlafwandelei vieler Verantwortlicher. Das erwies sich als tragisch falsch. Und jetzt? Müssen wir immer wieder neu beurteilen, ob der heute Geehrte mit den Reaktionen auf die Geschehnisse in vielen Teilen der Welt und anderen Brennpunkten einverstanden gewesen wäre und ob wir seiner Aufforderung: und rede Du darein! hinreichend nachkommen.
Meine Damen und Herren,
mit seinem Bemühen um einfache Worte und klare Gedanken, um die Allgemeinverständlichkeit seiner Dichtung und seiner Abhandlungen war Matthias Claudius tief in der Volksaufklärung verankert. Ein radikaler Denker und Schreiber hingegen war er nie, dazu war er zu sehr dem konservativen Denken der Voraufklärung verhaftet, dazu wurzelte er trotz aller Auflehnung gegen die väterliche Autorität zu eindeutig im Christentum, wenn es gegen in seinen Augen allzu strengen Rationalismus stand. Claudius bestand auf Harmonie und die Besinnung auf bewährten Traditionen, und in dieser Hinsicht passte er sicher sehr gut zum hanseatischen Geist, der die lauten Töne bis heute eher ablehnt. Außer im Stadion und beim Schlager-Move, Vergnügungen, von denen sich Matthias Claudius vermutlich schaudernd abgewandt hätte.
Je älter der Wandsbeker Bothe wurde, desto stärker wandte er sich religiösen und gegenaufklärerischen Themen zu und schrieb nur noch wenig Poetisches.
Meine Damen und Herren,
alles hat seine Zeit und jede Zeit hat ihre Hemmnisse. Es war ein langer Weg, der Matthias Claudius aus Reinfeld und Wandsbek ins Herz der Hamburgerinnen und Hamburger führte, aber wir haben ihn dort behalten.
Trotzdem ist er sicher in ganz besonderer Weise in Wandsbek in den Herzen geblieben, in dem damals holsteinischen Dorf, das inzwischen schon lange zu Hamburg gehört und heute mehr Einwohner hat als Island. Dass dieses Dorf damals durch Matthias Claudius in der gesamten deutschen Gelehrtenrepublik bekannt wurde, dazu hat Friedrich von Matthisson, ein Zeitgenosse, geschrieben:
Wie Alexander Pope der englische Dichter, Übersetzer und Aufklärer des 18. Jahrhunderts sein Twickenham zur berühmtesten Villa von England machte, so wurde Wandsbek durch Claudius der berühmteste Marktflecken von Deutschland. (
) Claudius gehört zu den wenigen in der Deutschen Gelehrtenrepublik namhaften Sterblichen, wo Mensch und Schriftsteller die nämliche Person ausmachen und wo man den einen ebenso liebgewinnen kann als den anderen.
Am 15. Januar 1815 ist Matthias Claudius mitten in Hamburg, am Jungfernstieg, gestorben, und wir ehren ihn heute vielleicht am besten mit einem Zitat, einem Rat, den er seinen Zeitgenossen gegeben hat:
Beurteile einen Menschen lieber nach seinen Handlungen als nach seinen Worten, denn viele handeln schlecht und sprechen vortrefflich. Die Spreche der Wahrheit aber das wusste bereits der griechische Philosoph Euripides ist einfach.
Ich danke Ihnen.
Es gilt das gesprochene Wort.