Hamburger Abendblatt: Herr Scholz, von der OECD gibt es sehr düstere Prognosen mit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen im nächsten Jahr. Wie sieht Ihre Vorhersage aus?
Scholz: Die Zahl der Arbeitslosen wird im Laufe des Jahres leider weiter steigen. Wie sehr, kann niemand seriös vorhersagen. Bisher ist es uns durch entschiedenes Handeln gelungen, die Zahl der Arbeitslosen weit unter den Werten zu halten, die uns prognostiziert wurden. Mein Ehrgeiz ist es, weiterhin strukturell besser zu sein als die düsteren Prognosen.
Abendblatt: Also unter vier Millionen Arbeitslosen?
Scholz: Über Zahlen, die man nicht beschließen, sondern nur beeinflussen kann, soll man keine definitiven Vorhersagen machen.
Abendblatt: Und was sagen Sie zu den aktuellen Arbeitsmarktzahlen?
Scholz: Trotz Krise sinkt in diesem Monat die Arbeitslosigkeit noch leicht. Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen. Saisonbereinigt sind die Zahlen leicht gestiegen. Wir werden über den Sommer in kabbeliges Wasser kommen. Da gilt es, das Ruder fest im Griff zu halten.
Abendblatt: Wann geht es aus der Krise wieder aufwärts?
Scholz: Alle Wirtschaftsexperten sagen, dass es spätestens im Laufe des nächsten Jahres wieder aufwärts gehen wird und wir in diesem und nächsten Jahr die schlimmsten Probleme aus der Wirtschaftskrise für den Arbeitsmarkt bewältigen können. Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Entscheidung, im Dezember die Dauer der Förderung von Kurzarbeit auszuweiten - es sind mittlerweile 24 Monate - und die Sozialversicherungsbelastung für die Arbeitgeber für die ausgefallene Arbeitszeit zu reduzieren. Damit hat die Regierung ein paar Hunderttausend Arbeitsplätze gerettet.
Abendblatt: Rettet uns die Kurzarbeit über die Krise?
Scholz: Wir haben den Unternehmen versprochen, mit ihnen die heftige Konjunkturkrise 2009/2010 durchzuhalten. Für die Unternehmen, die davon ausgehen, dass es früher oder später wieder normal für sie weitergeht, macht Kurzarbeit Sinn. Das gilt natürlich nicht für solche Unternehmen, bei denen das Geschäft der Vergangenheit nicht zurückkommt. Für diese bleibt die Kurzarbeit trotz aller Förderung zu teuer.
Abendblatt: Wird Deutschland die Krise ohne eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung überstehen?
Scholz: Wir haben den Beitragssatz auf 2,8 Prozent reduziert und ihn bis 2010 gesetzlich festgeschrieben. Damit das funktioniert, wird der Bundeshaushalt der Bundesagentur für Arbeit im nächsten Jahr ein Darlehen von voraussichtlich 20 Milliarden Euro für ihre Ausgaben gewähren. Wir müssen deshalb auch die Beiträge nicht erhöhen und die Leistungen nicht kürzen. Ich halte gerade jetzt den Ausbau der Arbeitsvermittlung für wichtig. Dieser Service darf in dem Moment, in dem er gebraucht wird, nicht schlechter werden.
Abendblatt: Wenn die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung durch Bundeszuschüsse stabil bleiben, Kurzarbeitergeld gezahlt wird - wann müssen dann die Steuern erhöht werden?
Scholz: Die Steuern müssen nicht erhöht werden. Aber jeder, der ohne einen Finanzierungsvorschlag verspricht, dass die Steuern gesenkt werden, dem kann man nicht glauben. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Steuersenkungsversprechen der Union nicht einmal von deren Anhängern geglaubt werden. Und: Das Ganze könnte nur mit drei Konsequenzen funktionieren: Mehrwertsteuererhöhung, Kürzung von sozialen Leistungen, Steigerung der Staatsschulden. Nichts davon ist akzeptabel.
Abendblatt: Die Union will durch Steuersenkung Wachstum erzeugen und so die Wirtschaft ankurbeln.
Scholz: Es gibt tolle Sendungen in Deutschland, in denen Magier und Illusionisten auftreten. Aber in der Politik sollte man ihnen keine Verantwortung geben.
Abendblatt: Schließen Sie eine Mehrwertsteuererhöhung aus? Nach der Wahl 2005 wurde diese gegen das Versprechen der SPD auch erhöht.
Scholz: Ich bin gegen eine Mehrwertsteuererhöhung. Die Politik hat sich nach der letzten Bundestagswahl in dieser Frage nicht mit Ruhm bekleckert. Das darf sich nicht wiederholen.
Abendblatt: Sie fordern von den Unternehmen weiterhin die Bereitstellung von 600 000 Ausbildungsplätzen in diesem Jahr. Ist das angesichts der Krise noch eine realistische Vorgabe?
Scholz: Die Krise darf uns den Blick auf die Zukunft nicht verstellen. Das nächste Jahrzehnt wird mehr als je zuvor von einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften geprägt sein. Die Unternehmen werden sich um sie balgen. Den Rückgang der Schulabgängerzahlen, in den kommenden zehn Jahren von 900 000 auf 700 000, müssen wir dafür nutzen, auch denen, die schon lange auf eine Lehrstelle warten, eine Chance zu geben. Allein von den 20- bis 29-Jährigen sind eineinhalb Millionen ohne Berufsabschluss. Darum brauchen wir weiterhin ein hohes Niveau von 600 000 Ausbildungsplätzen.
Abendblatt: Wird die staatliche Unterstützung dafür ausgeweitet werden müssen?
Scholz: Es stehen sehr viele Fördermöglichkeiten zur Verfügung. Doch ich bin auch immer bereit, bei neuen Anforderungen für Ausbildung zu helfen. Für Berufsausbildung und für die Qualifizierung erwachsener Arbeitssuchender werden jährlich fast neun Milliarden Euro ausgegeben. Am Geld liegt es also nicht. Aber es sind Hunderttausende Unternehmen, die sich für Ausbildungsplätze entscheiden müssen.
Abendblatt: Erhöht der Arbeitskräftemangel die Chancen für die Älteren, die Rente mit 67 auch aus dem Berufsleben heraus zu erreichen?
Scholz: Die Zahl der Älteren in den Unternehmen wird zunehmen. Nicht überall aus Einsicht, aber aus Notwendigkeit wird sich die Zahl der Unternehmen, die keine Arbeitnehmer über 50 Jahren mehr engagieren, verringern. Die klugen Betriebe bereiten sich bereits jetzt darauf vor. Wir müssen früh anfangen, sicherzustellen, dass wir alle lange und gesund arbeiten können.
Abendblatt: Wie viele Großunternehmen kann der Staat nach Opel und den Banken noch retten?
Scholz: In der Krise müssen wir sicherstellen, dass Firmen und damit auch Arbeitsplätze nicht für immer vom Markt verschwinden, nur weil die Finanzmärkte nicht funktionieren und sie keine Kredite bekommen. Deswegen gewähren wir als Staatshilfen Kredite. Wir prüfen aber immer, ob der Staat eine realistische Chance hat, das Geld auch zurückzuerhalten. Klar muss aber sein: Es geht nie um die Sicherung der privaten Eigentümer der Unternehmen, die sich verspekuliert haben.
Abendblatt: Vieles, was in der Krise hilft, wird offenbar mehr der Kanzlerin Angela Merkel und der Union zugeschrieben als der SPD. Der Kanzlerbonus zieht ...
Scholz: Ich sehe keinen Kanzlerbonus, der sich in CDU-Wählerstimmen niederschlägt. Wer sich die Umfragewerte der Union ansieht, stellt fest, dass sie nicht über ihr letztes Ergebnis hinauskommt. Meine These ist: Das wird sich auch nicht ändern.
Abendblatt: Die Umfragewerte der SPD sind aber auch nicht gerade brillant.
Scholz: Sie sind alles andere als brillant. Deswegen wird die SPD noch einiges zu tun haben. Das ist einer der Gründe, warum ich mich auch auf den Wahlkampf freue. Da wird den meisten klar werden, dass es eine soziale Politik nur mit einer sozialdemokratischen Partei, die die Regierung trägt, gibt.
Abendblatt: Am Freitag ist die letzte Bundestagssitzung vor der Sommerpause. Ist das für Sie das Signal für das Ende der Großen Koalition und den Beginn des Wahlkampfes?
Scholz: Nein, wir müssen bis zum letzten Augenblick regieren. In einer Wirtschaftskrise verlangt die Demokratie von uns, im Wettbewerb um ein Mandat beim Wähler zu stehen und gleichzeitig zusammenzuarbeiten. Dazu ist die Große Koalition auch in der Lage.
Abendblatt: Welche Koalition halten Sie für die SPD nach der Wahl am 27. September für möglich?
Scholz: Rot-Grün war erfolgreich. Allerdings ist es in unserem Land unwahrscheinlich geworden, dass eine große und eine kleine Partei zusammen eine Mehrheit bekommen. Am realistischsten sind, wenn es weder für Rot-Grün noch Schwarz-Gelb reicht, eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen oder eine Große Koalition. Es wird Sie nicht wundern, aber ich finde: Am besten für Deutschland ist eine starke SPD und ein sozialdemokratischer Kanzler.
Abendblatt: Was wollen Sie dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle anbieten?
Scholz: Vor allen Farbspielen für Koalitionen geht es erst einmal um Politik und um das, was wir für die Zukunft Deutschlands für politisch richtig halten.
Hier finden Sie das Interview auf der Internetseite des Hamburger Abendblatts.