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12.03.2013

Interview mit der FAZ zur Agenda 2010


FAZ: Herr Scholz, die Agenda 2010 hat die soziale Marktwirtschaft gerettet. Wie finden Sie diese Aussage?
Scholz: Plausibel.
 
Warum?
Scholz: Weil die Agenda 2010 dazu beigetragen hat, dass unsere sozialen Sicherungssysteme wieder zukunftsfähig sind, dass sie sich wieder rechnen und dass alle wieder an die Zukunft des Sozialstaats Deutschland glauben. Das war vorher nicht mehr so. Jetzt haben wir wieder Überschüsse in den Sozialsystemen. Und ohne die Reformen damals wäre unser Arbeitsmarkt nicht so stabil durch die Krise von 2008/2009 gekommen. 
 
Was wäre passiert, wenn Rot-Grün die Agenda 2010 nicht gewagt hätte?
Scholz: Es ist schwer, sich das auszumalen. Aber vielleicht hilft ein Blick in die Länder um uns herum. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dort haben auch mit mangelnden Reformen zu tun. Wir hatten damals das richtige Thema am Wickel was nicht heißen muss, dass dabei jede einzelne Maßnahme richtig war.
 
Würden Sie unseren Nachbarländern raten, die Agenda 2010 zu kopieren?
Scholz: Ich will nicht Berater werden.
 
Aber Sie haben vielleicht das Wohl unserer europäischen Nachbarn im Blick. 
Scholz: Jedes Land hat eine eigene Geschichte und einen eigenen Reformpfad. Nichts lässt sich einfach übertragen. Aber richtig bleibt: Für Deutschland war unsere Agenda erfolgreich. 
 
Ist der zehnte Jahrestag der Agenda 2010 auch für die SPD ein Tag zum Feiern?
Scholz: Die politischen Folgen dieser Reformen haben der SPD schmerzhafte Erfahrungen beschert. Wir hatten uns natürlich mehr Akzeptanz erhofft. Aber die schwierige Auseinandersetzung über den Reformbedarf war notwendig, nicht nur für die SPD, sondern auch für die Gesellschaft. 
 
Wie konnte es dazu kommen, dass heute so viele Menschen sagen, die Agenda 2010 habe Armut und Spaltung gebracht? 
Scholz: In der Rückschau waren die Reformen an mancher Stelle unvollständig. Sie hätten viel mehr Akzeptanz gewonnen, wenn wir sie zum Beispiel sofort mit einem flächendeckenden Mindestlohn verknüpft hätten. Diese und ähnliche Fragen hätten wir aus heutiger Sicht besser schon 2003 geklärt. 
 
Hat man sich damals überhaupt ausgemalt, dass ein großer umstrittener Niedriglohnsektor entstehen würde?
Scholz: Ich bezweifle, dass die Agenda-Reformen die Ursache des Niedriglohnsektors sind. Es ist ja kein deutsches Phänomen, dass der Anteil derer wächst, die mit ihrer Arbeit sehr wenig, zu wenig Geld verdienen. Richtig ist eher, dass die Reformen das Problem hierzulande ans Licht gebracht haben. 
 
Woher kommt der Niedriglohnsektor? 
Scholz: Ganz sicher hat das mit der Globalisierung und einer sich verändernden internationalen Arbeitsteilung zu tun. Zugleich kann man sehen, dass solche Umbrüche oft von Unternehmen zulasten der Beschäftigten ausgenutzt werden. Hier ist dann Politik gefragt was sich ja allmählich bis zur FDP herumzusprechen scheint. Bald wird die FDP behaupten, sie habe den Mindestlohn erfunden. 
 
Und wenn eines Tages der allgemeine Mindestlohn gilt, ist die SPD mit der Agenda versöhnt? 
Scholz: Der Mindestlohn wird jedenfalls die Lebensverhältnisse ganz vieler fleißiger Bürgerinnen und Bürger verbessern. Das ist unser Anliegen. Trotzdem ist das nicht die Lösung aller sozialpolitischen Probleme. Zum Beispiel ist die Zahl der Schulabbrecher noch viel zu hoch, ebenso die Zahl junger Männer und Frauen ohne Berufsausbildung. 
 
Schulen sind Ländersache. Da sind Sie in Hamburg jetzt selbst gefragt…
Scholz: Und wir tun sehr viel. Gemeinsam mit Arbeitsagentur, Jobcenter und anderen Behörden haben wir in Hamburg eine Jugendberufsagentur geschaffen. Dort arbeiten erstmals alle zuständigen Stellen effizient in einer Einrichtung zusammen, um junge Leute auf dem Weg ins Berufsleben zu unterstützen.
 
Gibt es schon messbaren Erfolg?
Scholz: Die Zahl der Schulabbrecher geht zurück, was natürlich diverse Ursachen hat. Eines aber ist für Hamburg schon jetzt ein guter Fortschritt: Bisher sind hier jährlich bis zu 1700 junge Menschen ohne Arbeit und Ausbildung nach dem Ende der Schulzeit nach der zehnten Klasse gar nicht bei den Berufsschulen erschienen, trotz einer in Hamburg stets bestehenden Berufsschulpflicht. Nun haben wir vergangenes Jahr bis auf zehn Jugendliche alle erfasst und das Hamburger Institut für Berufliche Bildung und die Jugendberufsagentur suchen mit ihnen den Weg zu einer Berufsausbildung.
 
Können Landespolitiker da mehr bewegen als Bundespolitiker? 
Scholz: Jeder hat seine spezifische Verantwortung. Und deshalb gibt es keine Entschuldigung dafür, dass die heutige Bundesregierung die Chancen der guten Konjunktur nicht genutzt hat, um mehr in die Qualifizierung an- und ungelernter Arbeitnehmer zu investieren. 
 
Ein zentrales Element der Hartz-Reformen war: Lieber ein Job mit einem niedrigem Lohn, den der Staat aufstockt, als gar kein Job. War dieser Ansatz falsch? 
Scholz: Die Erfahrung hat leider deutlich gezeigt, dass ein solches System zu Missbrauch durch manche Unternehmen führt. Es wirkt wie eine Einladung zum Drücken der Löhne wenn es keine Auffanglinie durch einen festen Mindestlohn gibt. 
 
Wie viele Betriebe nutzen denn den Sozialstaat in dieser Art aus? 
Scholz: Das ist schwer zu beziffern. Aber ich bin sicher, dass die meisten der 1,4 Millionen sogenannten Aufstocker auf Arbeitsplätzen tätig sind, die 8,50 Euro Mindestlohn vertragen würden.
 
Warum war der Mindestlohn nicht schon 2003 in der Agenda enthalten? 
Scholz: Ich war schon damals einer der Befürworter. Aber die Zeit war nicht reif dafür auch weil es bei den Gewerkschaften noch starke Vorbehalte gab. Es gab in Deutschland eben eine lange Tradition, dass starke Tarifparteien in eigener Regie per Tarifvertrag flächendeckend für faktische Mindestlöhne sorgen. Aber die Tarifbindung ist erodiert, diese Realität gibt es heute so nicht mehr. 
 
Ein gesetzlicher Mindestlohn stellt noch keine Tarifbindung her. Ist Tarifbindung künftig nicht mehr so wichtig? 
Scholz: Tarifbindung wird weiter sehr wichtig sein. Ich rechne sogar damit, dass es künftig wieder ein zunehmendes gemeinsames Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geben wird, sich zu organisieren und Tarifverträge zu schließen. Und zwar vor allem, weil Fachkräfte knapper werden und die Betriebe den demografischen Wandel gestalten müssen. In dem Maße, wie diese Themen an Bedeutung gewinnen, steigt der Bedarf an verlässlichen tariflichen Regelungen. Vielleicht wächst da sogar so etwas wie ein modernisierter Korporatismus. Das wäre wünschenswert. 
 
Braucht man dann bald keinen gesetzlichen Mindestlohn mehr? 
Scholz: Den Tag sehe ich nicht. 
 
Die Agenda 2010 markiert einen radikalen Strategiewechsel, sie war das Aus für das Konsensmodell "Bündnis für Arbeit". Sind Konsens und Reformen ein Widerspruch? 
Scholz: Nein. 
 
Sie hätten das Bündnis für Arbeit gerne weiter geführt? 
Scholz: Ich selbst habe es einige Jahre später in neuer, kleinerer Form wieder aufgelegt. In der Krise 2008/2009 haben wir im Dialog mit den Sozialpartnern die Kurzarbeit so ausgestaltet, das Deutschland so gut durch diese Turbulenzen gekommen ist wie kaum ein anderes Land. 
 
Wäre es heute vielleicht an der Zeit, ein neues Bündnis einzuberufen? 
Scholz: Ich habe nicht das politische Amt, aus dem man so einen Vorschlag machen sollte. Aber der Ansatz des damals von Gerhard Schröder einberufenen Bündnisses war in jedem Fall völlig richtig. Und es ist immer gut, gesellschaftliche Umstände zu haben, in denen so etwas funktioniert. 
 
Ist es Zeit für ein "Bündnis für Tarifbindung"?
Scholz: Den Versuch dazu gab es ja vor einiger Zeit schon: Arbeitgeber und Gewerkschaften haben gemeinsam ein Modell erarbeitet, wie man die Tarifeinheit und damit Branchentarifverträge festigen kann. Leider ist die aktuelle Bundesregierung diesem Konsens nicht gefolgt. 
 
Das Gespräch führten Dietrich Creutzburg und Kerstin Schwenn.